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Siebentes Kapitel.

Als sie den von Madge eingeschlagenen Pfad ein Stück weit gegangen waren, gewahrte Jeanie zu ihrer großen Freude Spuren, daß sie sich einer wirtlicheren Gegend nahten, und bald erblickte sie, zwischen Buschicht verborgen, Hütten, mit Strohdächern gedeckt, von denen blauer Rauch in kleinen Säulen aufstieg. Dorthin führte der Pfad, und um ihre Führerin nicht zu erzürnen oder ihren Sinn abzulenken, nahm sich Jeanie vor, so lange Schweigen zu wahren, als sie keine Neigung bezeigte, den Pfad zu verlassen. Madge schwatzte nun in einem fort, wie es ihre wirren Ideen ihr eingaben; und erzählte auf diese Weise von sich und anderen weit mehr, als wenn Jeanie versucht hätte, sie auszufragen.

»Seltsam,« hob sie wieder an, »es kommen Augenblicke über mich, in denen ich von meinem Kinde ganz so reden kann, als ginge es mich nichts an, sondern eine andere, und dann wieder ist's mir zumute, als müßte mir das Herz darüber brechen. Hast Du schon ein Kind gehabt, Jeanie?«

Jeanie schüttelte mit dem Kopfe.

»Aber Deine Schwester hat eins gehabt, und was aus dem geworden, Mädel, das weiß ich, weiß ich genau.«

»Im Namen der göttlichen Barmherzigkeit,« rief Jeanie, ganz aus der Rolle fallend, die sie bisher festgehalten, »Madge, sage mir, was aus dem armen Wesen geworden ist, und ...«

Madge blieb stehen, blickte sie starr an und schlug dann eine helle Lache auf. »Heidi, Mädchen, hasche mich! und fang mich, wenn Du mich kriegst. Hahaha! Du läßt Dir auch alles vorschwatzen. Wie sollte ich was wissen von Deiner Schwester Kinde? Mädel sollen mit Kindern erst was zu tun haben, wenn sie die Haube tragen. Dann kommt die Gevatter- und Nachbarssippe zusammen und hält großen Fest- und Feiertag, als ob es was Wichtigeres in der Welt gar nicht gäbe. Bei den Leuten heißt's wohl immer, Jungfernkinder Glückskinder; aber das ist weder bei meinem Kinde wahr geworden noch beim Kinde Deiner Schwester. O, sind das traurige Geschichten! Ich muß mich wieder lustig singen, Mädel, mit den Liedern, die mir der schmucke Georg auf den Leib gesungen hat, wenn ich mit ihm nach Lockington zur Kirchweih fuhr, wo er in gar prächtigem Staate mit vielen andern Komödie spielte. Damals hätte er mich heiraten sollen, wie es auch sein Wille war; jetzt kann er lange herumsuchen, ehe er's wieder so gut trifft! Aber das hat mit meinem Liede nichts zu schaffen, also weg damit!

Ich bin die Madge vom Dorfe, die Madge von der Stadt,
Die den schmucksten der Buben zum Herzliebsten hat.
Und prangt auch die Herrin in gülden Geschmeid,
So bleibt doch die Madge Königin heut,
Die Königin der Kirchweih,
Die Königin vom Mai!
Mit 'nem Herzen im Leibe, klar und hell,
Und Augen wie Feuer so wild und grell!

Das ist immer mein liebstes Lied, denn er hat's gedichtet und hat's gesungen, und ich hab's mit ihm gesungen, ach! wie oft! wie oft! und es mag wohl darum sein, daß mir die Leute den Namen Wildfire gegeben haben. Ja, Madge Wildfire! Madge Wildfire! Und warum sollte ich nicht hören drauf und antworten drauf? Verdanke ich ihn doch dem schmucken Georg!«

»Aber am heiligen Sabbath, Madge, solltest Du doch nicht singen!« sagte Jeanie, denn bei aller Angst und Not nahm sie Aergernis an dem wüsten Betragen des Mädchens, und um so mehr, je näher sie dem kleinen Dorfe kamen.

»Ach!, ist heut Sabbath?« rief Madge; »die Mutter führt ein Leben, daß man nicht weiß, was Tag ist, was Nacht, geschweige ob Sonn-, ob Wochentag! Zudem ist das auch bloß bei Euch oben in Schottland so, bei euch Muckern und Heiligen! Wir im lustigen England haben alle Tage Sonntag und singen und trällern, wenn uns der Schnabel danach steht.«

Inzwischen waren sie dicht an das Dörfchen gekommen, dessen kleine, schmucke Häuser in Gruppen zwischen hohen Eichen und Ulmen, von Obstbäumen umfriedigt, standen, und nicht, wie es Jeanie von Schottland gewöhnt war, in Reih und Glied zu beiden Seiten der Straße. Die Obstbäume standen gerade in der Blüte und erhöhten die Schönheit des Bildes durch ihre herrliche Pracht. Mitten im Dörfchen erhob sich die kleine Kirche mit ihrem gotischen Türmchen, von dem eben die Glocke zum Gottesdienste rief.

»Warten wir, bis alles Volk in der Kirche ist,« sagte Madge, »denn laß ich mich vorher sehen, dann rennen sie mir hinterher, und schreien und johlen, und dann kommt der Büttel und nimmt mich fest, als ob ich dran schuld wäre, und Dich ließe er auch nicht aus seinen Krallen! Besser wird's erst wieder werden für mich, wenn erst 'mal Herr Staunton heraustreten wird vor die Menschen und mich aufheben, die Arme, Verlorene, und bei der Hand nehmen und mir einen Granatapfel reichen wird mit einem Stück Honigkuchen und einem Fläschen Weingeist, meine Ohnmacht zu verjagen, ja, wenn er erst mal erscheinen wird, der wackre Herr Staunton, dann werden auch für die arme Madge die Zeiten wiederkommen, wo sie glücklich sein darf mit den Glücklichen!«

Jeanie schickte sich gern in dieses Verlangen der Irren, denn ihr Kleid hatte durch die Nacht in der Scheune viel von seiner Sauberkeit verloren, und der höchst auffällige Anzug ihrer Kameradin ließ erwarten, daß die Leute, die heut ihren Sonntagsstaat hervorgesucht, Anstoß daran nehmen würden. Sie schickte sich um so lieber darein, als Wadge ihr noch gesagt hatte, daß es nicht das Dorf sei, wohin die Mutter gebracht worden, und daß auch die Räuber und Wegelagerer sich anderswohin begeben hätten.

Jeanie konnte es nicht über sich gewinnen, ihre Kleidung in dem unordentlichen Stande zu lassen, den sie seit dem gestrigen Abend aufwies. Sich am Sonntag vor jemand so zu zeigen, war ihr ganz und gar nicht möglich, und sie trug sich doch mit dem Gedanken, in dem Dörfchen nach Hilfe und Beistand zu suchen. Sie setzte sich also an einer Eiche nieder, die an einem hier vorbeifließenden Bächlein stand, und begann, die glatte Fläche desselben als Spiegel benutzend, sich zu säubern und, zu putzen, so gut es die Umstände erlaubten; doch bald sollte sie erkennen, daß sie, so notwendig ihr die Arbeit erschien, sie besser ungetan gelassen hätte; denn ihre Gefährtin, in ihren irren Begriffen auf ihre körperlichen Vorzüge über die Maßen eitel, – zum Teil Wohl entschuldbar insofern, als dieselben ja die eigentliche Quelle ihres Unglücks waren – hatte kaum gesehen, daß Jeanie sich das Haar glatt strich, Rock und Schuhe vom Staube säuberte und Halstuch und Aermel in Ordnung brachte, als auch sie den Gedanken faßte, sich zu putzen, und aus einem Bündelchen, das sie, auch da schon Jeanie nachäffend, aus der Scheune mitgenommen, allerhand Lumpen und Flitterstaat hervorzog, um an den Männerhut, den sie trug, eine geknickte Pfauenfeder zu stecken, an den Saum ihres alten Reitkittels einen Kranz verblichener und zerdrückter Blumen zu heften, den ehedem eine vornehme Dame getragen haben mochte, die ihn aber ihrer Zofe geschenkt, nachdem sie ihn satt hatte, und der von der Zofe in irgend eine Trödlerbude gewandert sein mochte, aus der er, auf ehrliche oder andere Weise, zu Madge Wildfire gelangt war. Eine gelbseidene Schürze, ohne Zweifel gleichen oder ähnlichen Ursprungs, mit allerhand Flittern bestickt, hing sie sich wie ein Wehrgehenk, über die Schulter, und ein Paar schäbige Atlasschuhe mit Stöckelabsätzen mußten die groben Lederstiefel ersetzen, die sie bisher getragen. Von einer Weidengerte, die sie schon unterwegs abgeschnitten und mitgebracht, schälte sie fein säuberlich die Rinde ab und sagte zu ihrer Gefährtin, jetzt könnten sie sich beide vor allen Leuten sehen lassen und gingen angezogen, wie es sich für junge, anständige Dirnen an einem Sonntagmorgen schicke; und da nun, sagte sie, das Läuten aufgehört hätte, wollten sie nicht länger säumen, sondern sich ins Dorf begeben.

Jeanie seufzte innerlich darüber, daß sie sich am Tage des Herrn mit solcher Gefährtin öffentlich zeigen sollte; aber Not kennt nun einmal kein Gebot, und Jeanie sah ein, daß sie sich ohne heftigen Streit von der Irren nicht werde losmachen können; da sich aber ihre Lage dann nur noch ärger gestalten muhte, als sie an sich schon war, meinte sie, es sei am klügsten, sich in die Umstände zu schicken, wie sie nun einmal lagen.

Die arme Irre hingegen, im siebenten Himmel der Freude über ihren Putz und ihr strahlendes Aussehen, blähte sich förmlich vor Eitelkeit. Sie gelangten in das Dörfchen, ohne von jemand gesehen zu werden, ein altes Mütterchen ausgenommen, das sich, geblendet von Madges Flitterstaat, bis tief auf die Erde vor ihnen verneigte. Dadurch stieg Madges Stolz bis auf die höchste Stufe; sie drehte sich, zierte sich, wandte sich, tänzelte, trippelte, hüpfte und winkte Jeanie, sich wenigstens als Herzogin dünkend, mit huldreicher Handbewegung, ihr zu folgen. Um Madges lächerliches Getue nicht zu sehen, schlug Jeanie die Augen zu Boden und folgte ihr geduldig. Aber als sie sich jetzt vor der Kirche und Madge willens sah, den Fuß über die Schwelle derselben zu setzen, machte sie einen Schritt zur Seite, denn in solcher Gemeinschaft das Gotteshaus zu betreten, hielt sie für eine große Sünde. Mit festem Tone sprach sie: »Madge, laß uns hier warten, bis die Kirche aus ist. Willst Du hineingehen, so hindert Dich ja nichts; ich aber bleibe draußen.«

Sie wollte sich auf einen Grabstein setzen, denn um die Kirche herum, wie auf Dörfern üblich, lag der Friedhof, da machte Madge, die ihr einige Schritte voraus war, plötzlich Kehrt, sprang auf sie zu, packte sie am Arme und rief: »Was? Du undankbares Geschöpf, willst Dich auf Vaters Grab setzen? Der Teufel soll Dich herunterbringen, wenn Du nicht gleich aufstehst und mit mir ins Mittler-Haus trittst, wie wir das Gotteshaus nennen. Marsch! steh auf, oder ich reiße Dir all Deine Lumpen vom Leibe!«

Wort und Handlung waren eins, denn schon hatte sie mit einem einzigen Griffe dem erschreckten Mädchen den Strohhut vom Kopfe gerissen mit einer Handvoll Haar und auf einen Eibenbaum geschleudert, an dessen Zweigen er hängen blieb. Jeanie wollte um Hilfe schreien, aber sie faßte sich schnell, denn sie sagte sich, die Rasende könne ihr, ob auch die Kirche nahe war, früher ein Leid angetan haben, als Leute zu ihrer Hilfe herbeikämen, und so meinte sie, es sei minder gefährlich, ihr in die Kirche, wo sie schnellen Schutz finden werden, zu folgen, als draußen mit dem Unhold allein zu bleiben. In Madges unstetem Sinne hatten aber schon wieder andere Vorstellungen die Oberhand gewonnen, als sie Jeanies milde Versicherung, ihr folgen zu wollen, hörte. Sie nahm Jeanie wieder bei der einen und zeigte mit der andern Hand auf die Inschrift des Grabsteins, auf den sich Jeanie gesetzt hatte. »Da, lies,« sagte sie, und Jeanie, gehorchend, las:

Dem Gedächtnis des Donald Murdockson, vom 26ten Königl. oder kameronischen Regiment, eines wahren Christen, tapfern Soldaten und treuen Dieners, errichtete diesen Denkstein in tiefer Trauer sein dankbarer Herr

Robert Staunton.

»Hast richtig gelesen, Jeanie, es sind Worte, die auf dem Steine stehen,« sagte Madge, deren Zorn verraucht und einer tiefen Schwermut gewichen war, und ruhigen, ja ernsten Schrittes, den man an ihr nicht gewöhnt war, der aber Jeanie von Herzen freute, begab sie sich, Jeanie noch immer an der Hand haltend, zur Kirchtür.

Kaum hatten sie aber den Fuß in das altertümliche gotische Gotteshaus hinein gesetzt, als sich auch aller Augen auf sie lenkten, und stolz hierauf, verfiel Madge sogleich wieder in ihre eitlen Torheiten und schritt, Jeanie hinter sich her ziehend, in gezierter Haltung den Mittelgang hinauf, um sich allen Gliedern der kleinen Gemeinde zu zeigen. Jeanie hätte sich gern in einen Stuhl geflüchtet und Madge allein weiter gehen lassen; aber ohne sich gewaltsam zu widersetzen, wäre das nicht möglich gewesen; so mußte sie sich von dieser seltsamen Person durch das Gotteshaus weiter schleppen und von allen Kirchgängern angaffen oder mit strafenden Blicken verfolgen lassen. Endlich traf die Betörte ein verweisender Blick des Predigers und machte ihrer Unrast ein Ende. Schnell öffnete sie einen Kirchstuhl und trat hinein, Jeanie auch dorthin ziehend. Durch einen Puff in die Seite suchte sie ihr begreiflich zu machen, daß sie sich nach ihrem Tun richten solle. Aber die Sitte, den Kopf ein paar Minuten in die Hand zu stützen, zum äußern Zeichen des Gebetes, das man nach dem Eintritt in das Gotteshaus verrichtet, war Jeanie fremd; statt es zu tun, blickte sie angstvoll umher, was natürlich ihre Nachbarn, nach der Gesellschaft schließend, in her sie sich befand, als offenkundiges Zeichen von Irrsinn deuteten. Alles retirierte vor dem befremdlichen Paare; einem Greise gelang das nicht so schnell, wie den übrigen, und Madge stürzte sich wild auf ihn und riß ihm die Bibel aus der Hand, um mit wichtigem Getue die Stelle aufzuschlagen, der die heutige Predigt gewidmet war.

Dem Prediger, einem ältlichen Herrn von würdigem Aussehen, war Jeanies Ruhe von Anfang nicht entgangen, und oft während des Gottesdienstes hatte er die Blicke nach dem Stuhle gerichtet, wo sie mit Madge sah, von der er Störung zu befürchten schien; und wenn auch Jeanies aufgelöstes Haar und die Angst, die sich auf ihrem Gesicht malte, ihr Aussehen sehr zu ihrem Nachteil beeinträchtigten, hatte er doch schnell erkannt, wie verschieden die Gemütsart der beiden Mädchen, die sicher, wie er meinte, irgend ein unglücklicher Zufall zusammengeführt, voneinander sei. Als er nun sah, wie Jeanie nach dem Schlusse der Predigt sich voll Bangen umsah und verschiedenen Leuten zu nähern suchte, um das Wort an sie zu richten, sich aber schüchtern, als diese ihr aus dem Wege gingen, wieder zurückzog, beschloß er als redlicher, wohlwollender, wahrhaft christlicher Seelsorger, genaue Erkundigung über den Fall, der ihm etwas Außergewöhnliches zu verraten schien, einzuziehen.


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