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Sechstes Kapitel.

Jeanie erkannte bald, so trübe auch das Licht war, das durch den Spalt in ihren Verschlag fiel, daß es von hier kein Entrinnen gab. Freilich war oben in der Wand eine Luke, aber sie war so schmal, daß es unmöglich war, sich hindurchzuzwängen, selbst wenn es ihr hätte gelingen können, bis dort hinauf zu klettern. Mißglückte die Flucht, so mußte sie sich schlechterer Behandlung gewärtigen, als sie schon hatte, und ehe sie also solches Wagnis unternahm, hielt sie es für klüger, eine günstigere Gelegenheit zu erspähen.

In dieser Absicht näherte sie sich der Lehmwand, die den Verschlag von der großen Scheune schied; einen Spalt in derselben, den ihr Auge zufällig fand, suchte sie nun mit den Fingernägeln behutsam zu erweitern, um einen Blick auf die Alte und auf die Räuber zu gewinnen. Bei der halberloschenen Glut saßen sie in eifriger Unterhaltung, die schreckliche Alte und der wilde Mann. Der Anblick machte ihr das Blut gerinnen, denn ein Gesicht übertrumpfte das andere in seinem Ausdrucke verhärteter Bosheit und Tücke.

Aber ihr Gottvertrauen hielt Jeanie aufrecht und bei klarem Verstande. Sie gedachte der Worte des heiligen Sängers: »Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, daß er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.« Und so gewann sie, trotz der Qual ihrer Lage, Fassung genug, den größten Teil des für sie bedeutungsvollen Gesprächs der beiden grausen Menschen zu belauschen, so leise dasselbe geführt wurde und so sehr es durchsetzt war mit Rotwelschworten.

»Du siehst, Weib,« sagte Frank, »daß ich Dein wahrhafter Freund bin. Daß Du mir damals die Feile zustecktest, die mir den Weg aus dem Loche in York zur Freiheit bahnte, vergeß ich Dir nicht; und Deinen Auftrag hab ich ausgeführt, ohne nach den Gründen zu fragen. Eine Liebe ist der andern wert. Madge, die immer wie ein Satan spektakelt, ist jetzt still, und Tom ist auf der Suche draußen nach dem Klepper. Den Augenblick, wo wir allein sind sollst Du wahrnehmen, mir reinen Wein darüber einzuschenken, wie es sich mit der Muckerdirne verhält, denn der Satan soll mir in den Brägen fahren, wenn ich leide, daß ihr was Uebles angetan werde, zumal sie vom Vater Kliff den Reisepaß bekommen hat.«

»Frank,« versetzte die Alte, »Du bist ein braver Kerl, aber für ein Handwerk, wie wir es treiben, zu weichen Gemüts. Das wird Dich noch ins Verderben stürzen. Paß auf! Ich seh Dich noch rücklings vom Hollbourn-Berge purzeln, weil Dich irgend ein Wicht verpetzt hat, dem Du das Messer nicht rechtzeitig in die Gurgel stießest.«

»Damit beschwatzt Du mich nicht, Alte!« versetzte er, »denn manchen netten Jungen, den ich gut kannte, haben sie schon beim Kragen genommen im ersten Sommer, den ich auf der Landstraße zubrachte, und bloß deshalb, weil er zu flink mit seinem Messer hantierte. Zudem könnte man ja, wenn man soviel auf dem Gewissen herumschleppte, sich keine zwei Jahre mehr in der Welt herumschleppen! Drum sage mir, wie das zusammenhängt, kurz und bündig, und was geschehen muß, um Dir auf anständige Manier zur Hand zu gehen!«

»Na, Frank, sollst's wissen,« antwortete die Alte: »aber vorerst nimm einen Schluck von dem Kümmel da, es ist eine gute Holländer Sorte.« Mit diesen Worten langte sie aus ihrer Tasche eine bauchige Flasche und goß dem Räuber einen tüchtigen Schluck in die Kehle, der ihm trefflich mundete. »Frank, auf einem Bein steht keiner, und doppelte Schnur hält besser als einfache! Also trink noch einmal!«

»Nein, nein!« wehrte er. »Will Dich ein Weib zu Schlimmem verleiten, dann ist's das erste, daß sie den Mann zum Trinken beschwatzt. Hol aber der Teufel allen Branntweinsmut! Was ich tue, will ich nüchtern tun. Dann wird's bloß um so besser.«

Ohne weitere Versuche, ihn zu beruhigen, sagte nun die Alte: »Nun, das Mädchen, weißt Du, ist auf dem Wege nach London.« Von dem Ende des Satzes konnte Jeanie weiter nichts als das Wort Schwester hören.

»Nun, das ist doch aller Ehren wert von dem Mädel,« meinte der Wegelagerer, so daß es Jeanie verstehen konnte, »ich möchte bloß wissen, was die Sache Dich angeht.«

»Gerade genug, sollt ich meinen. Entgeht das Balg in Edinburg dem Galgen, dann heiratet sie doch der Robertson.«

»Und was kann Dir dran liegen?«

»Was mir dran liegt, Du Tropf?« versetzte die Alte, »viel, sage ich Dir, viel; und ehe ich das zugebe, eher erwürge ich sie mit meinen beiden Händen; Madges Recht soll Madges Recht bleiben!«

»Madges Recht? Tragen Dich Deine alten Augen nicht weiter? Meinst Du denn, der nähm ein albernes Stück, wie die Madge, zum Weibe? wenn es zutrifft, was Du von ihm gesagt, glaub ich's in aller Welt nicht, daß er es täte! Donner und Doria! Ein glorioser Einfall, ein Kalb wie die Madge, zur Frau zu nehmen!«

»Was redst Du, Du Beutelschneider, Du ausgefeimter Spitzbub, Du Galgenvogel, Du Lumpenmatz! Und wenn er sie nicht nehmen sollte, muß dann der andern der gebratene Täuberich ins Maul fliegen? Um keines andern als seinetwillen bin ich zur Bettlerin, und Madge, mein Kind, reif fürs Narrenhaus geworden! Aber ich weiß was von ihm, das ihn an den Galgen bringt, und wenn er tausend Leben hätte! An den Galgen! Ja, an den Galgen!« – Bei den letzten Worten fletschte sie grimmig die Zähne und rollte wild die Augen.

»Und warum bringst Du ihn nicht an den Galgen, ja, an den Galgen,« äffte Frank ihr höhnisch nach. »Darin läge doch Verstand, mehr Verstand, als Dein Mütchen zu kühlen an ein paar harmlosen Weibsbildern, die weder Dir noch Deiner Tochter was zuleide getan haben!«

»Weder mir noch ihr was zuleide?« wiederholte wild die Alte; »so, und die Rache, die kaufst Du für nichts?«

»Mag ihn der Teufel sich selber holen, wenn er Appetit nach ihm hat,« rief Frank, »aber hängen lasse ich mich, wenn mir die Brühe passen sollte, worin er ihn schmort.«

»Rache!« zischte die Alte, »Rache ist der schönste Lohn, der leckerste Bissen, mit dem uns Satan traktiert! Ha, wie hart hab ich dafür gekämpft, gelitten und gesündigt, und die Rache muß ich kosten, sonst gäb's keine Gerechtigkeit, mehr auf der Erde, und weder im Himmel noch in der Hölle!« Frank hatte sich mittlerweile seine Pfeife angesteckt und hörte die Wutausbrüche der alten Hexe mit Seelenruhe an. Um Aergernis daran zu nehmen, dazu war er zu abgehärtet im Bösen, und die leidenschaftliche Kraft zu fassen, die sich darin zum Ausdrucke brachte, dazu war er zu gleichgültigen Charakters, wenn es ihm nicht vielleicht auch an Verstand dafür fehlte.

»Aber, Mutter,« sagte er nach einer Weile, »dabei bleibe ich trotz alledem: wenn Du Dich durchaus rächen willst, dann läg doch der Kerl näher als die beiden Dirnen!«

Mit der Gier eines dem Verdursten nahen Wesens sog sie den Atem hinter: dann rief sie: »Ich wollt, ich könnt's! Ich wollt, ich könnt's! Aber ich kann's nicht, nein! Ich kann's nicht!«

Und warum kannst Du's nicht? He?« fragte Frank; »eine Lappalie war's, ihm wegen der Porteous-Geschichte zum Stricke zu helfen! Gott verdamm mich! Mehr Aufhebens könnten die in London auch nicht machen, wenn er die ganze englische Bank ausgeraubt hätte!«

»Ich kann's nicht,« wiederholte die Alte; »an dieser welken Brust hab ich ihn genährt,« – und sie kreuzte die Hände über der Brust, wie wenn sie ein Kind dran hielte – »und wenngleich er sich als eine Natter erwiesen hat, als ein böses Subjekt, mir und den Meinigen zum Unglück, wenn er auch mich zur Gesellin des Satans gemacht hat, wenn's einen Satan gibt, so kann ich ihm doch nicht ans Leben, nein! ich kann's nicht! Ich kann's nicht! Gedacht dran hab ich,« sagte sie, wie von einem Schauder geschüttelt, »auch versucht hab ich's; aber es war das erste Kind, das ich an der Brust hatte, und was ein Weib fühlt für ein solches Wesen, davon hat kein Mann einen Begriff.«

»Aber, Mutter, es heißt doch, gegen andre Kinder, die Dir in den Weg gerieten, hättst Du kein Mitleid gekannt? Ruhig, ruhig,« rief er hart, »hier bin ich Herr, und Auflehnung leide ich nicht!«

Die grimme Hexe hatte wieder nach dem Messer gegriffen, das an ihrer Hüfte steckte, ließ es aber, die Hand öffnend, fallen und rief mit teuflischem Grinsen:

»Machst wohl Witze, Junge? Wer wird Kinderchen anrühren? Madge, das arme Ding, hat Unglück gehabt mit dem einen, und das andre.« Was nun folgte, sprach sie so leise, daß Jeanie, so angstvoll sie auch lauschte, kein Wort verstehen konnte, als am Schlusse: »und so hat's, meines Wissens, Madge in ihrem Wahnsinn in den See geschmissen!«

Madge, die, wie gemeinhin Geisteskranke, einen lückenhaften Schlummer hatte, fuhr auf und rief: »Das lügst Du, Mutter! In den See geschmissen hab ich's nicht.«

»Still, Du Satansbalg!« keifte die Alte, »wirst die andre Dirne noch munter schreien! Wenn sie nicht gar schon gehorcht hat!«

»Das wäre schlecht!« rief Frank Lewitt und stand auf, um der Alten zur Tür zu folgen, die nach dem Verschlage führte.

»Steh auf, Balg,« schrie sie der Tochter zu, »oder ich renn' Dir das Messer durch die Türfüllung in Deinen Narrenbuckel!«

Es schien, als wenn sie ihre Drohung wahr machen wollte, denn sie fuhr mit dem Messer in einen Spalt hinein, und im andern Augenblicke schrie Madge auf, wich von ihrem Platze, und die Tür ging auf.

Die Alte hielt ein Talglicht in der einen, ein Messer in der andern Hand; der Räuber schritt ihr hinterher, ob in der Absicht, eine Gewalttätigkeit zu verhindern oder mit auszuführen, war zweifelhaft. Jeanies Retterin in diesem Augenblicke höchster Gefahr wurde ihre Geistesgegenwart; sie besaß Willensstärke genug, sich wie eine Schlafende zu stellen und, trotz ihres Schrecks, auch beim Atemholen den Anschein tiefster Ruhe zu wahren. Die grimme Alte fuhr ihr mit dem Licht vor den Augen hin und her, und die Furcht, die Jeanies Herz erfüllte, war so stark, daß sie meinte, die Gestalten der beiden feindlichen Personen durch die festgeschlossenen Lider zu erkennen; und doch wich die Kraft, sich nicht zu verraten, nicht von ihr.

Der Räuber betrachtete sie eine ganze Weile mit scharfem Blicke. Dann stieß er die Alte zurück und ging ihr hinterher. In der Scheune sagte er, zu Jeanies nicht geringer Beruhigung:

»Die Muckerdirne schläft ganz fest, als ob sie bei sich zu Hause im Bett läge, und nicht in solcher Höhle auf Stroh. Der Satan soll mich bei lebendigem Leibe holen, wenn ich begreife, was Dir's nützen soll. Immerhin will ich nach wie vor zu meinen Freunden halten und ihnen zu Gefallen sein, wo und wie ich kann; ich sehe ja, es ist ein schlechter Streich, aber es wird sich vielleicht machen lassen, daß ich sie bis zum Strande bringe und in Toms Boote drei bis vier Wochen halte, wenn Dir das recht ist? Aber daß ihr jemand was antut, Alte, das leide ich nicht, sei es wer es sei. Schlecht ist's ja, was Du vorhast, und grausam erst recht; und mir wär's schon lieber, Du und er, und Madge, wären mitsammen da, wo der Pfeffer wächst.«

»Aber schwatz doch keinen Unsinn, Junge,« erwiderte die Alte, »Du bist ein Gauner und bleibst einer, und recht willst und mußt Du eben behalten, das weiß ich ja. Mir liegt nichts dran, ob sie eine Stunde früher oder später in den Himmel hinauf kutschiert, ich pfeife drauf, ob sie krepiert oder länger noch in Psalmen flötet. Bloß die Schwester! Die Schwester!«

»Gut, Alte, und kein Wort mehr drüber! Tom kommt. Legen wir uns aufs Ohr und schlafen wir eine Stunde. Es wird uns gut tun.«

Sie warfen sich auf die Streu, und von jetzt ab herrschte Ruhe in der Scheune. Jeanies Augen fand der Schlaf noch lange nicht. Als der Tag graute, hörte sie, wie die beiden Räuber ihr Lager verließen, nachdem sie noch eine Zeitlang mit dem alten Weibe getuschelt hatten. Das Bewußtsein, jetzt nur mit Personen des eignen Geschlechts zusammen zu sein, gab ihr eine gewisse Beruhigung, und sie widerstand dem Bedürfnis, zu schlafen, nicht länger.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie wieder erwachte. Noch immer war Madge Wildfire in dem Verschlage, sagte ihr aber gleich mit der ihr eigenen irren Lebhaftigkeit guten Morgen.

»Du, weißt Du, Mädel, während Du im Lande der Träume wärest, sind hier schnurrige Dinge vorgegangen. Die Frone waren da; mein Muttchen haben sie weggeholt, wegen dem Weizenfelde, worin der Gaul gefressen hat. Sieh doch bloß, was für Hunde diese englischen Kerle sind, was für ein Wesen sie machen um ein paar Körner und ein paar Halme! gerade als ging's um Rebhühner und Hasen. Nein, Mädel, komm, wir wollen ihnen einen Streich spielen, wenn Du Lust dazu hast; wollen uns ein bißchen draußen im Freien umsehen. Hei! werden die einen Lärm anheben, wenn sie uns beide nicht mehr finden, aber um die Mittagszeit können wir wieder daheim sein, jedenfalls doch vor Einbruch der Nacht und einen Heidenspaß wird's setzen; komm, Mädel, komm! Oder willst Du erst frühstücken und Dich dann noch ein Weilchen aufs Stroh hauen, ist's mir auch recht! Brauchst Dich aber nicht vor mir zu fürchten, kannst ruhig mitgehn; ich tue Dir nichts an.«

Jeanie beteuerte, keinen Appetit zu haben, weder auf Speise noch auf Trank; und sie hätte gegen den Vorschlag, die Scheune zu verlassen, auch dann noch keinen Einspruch erhoben, wenn Madge Wildfire nicht bloß eine gutmütige Irre gewesen wäre, sondern wirklich gerast hätte. In der Hoffnung, sich durch solche Verstellung keiner Sünde schuldig zu machen, redete sie ihr sogar zu, sich gar nicht lange in dem Verschlage mehr aufzuhalten, sondern hinaus in den grünen Wald zu schweifen.

»Ich denke mir, Mädel,« sagte Madge, »daß es Dir nichts schaden wird, wenn Du der Sippe hier ein bißchen aus dem Gesichte kommst. Ich will ja nicht sagen, daß es böse Menschen seien, aber sie sind doch wunderlich, und seit wir in solcher Umgebung sind, Mutter und ich, kommt's mir immer vor, als seien wir gar nicht mehr gut daran.«

Hastig griff Jeanie nach ihrem Bündel und lief hinter ihrer Kameradin her, in den Wald hinaus; aber so sorglich ihre Augen spähten, wenn sie freien Blick auf das Bruch gewann, von Menschen oder einer menschlichen Behausung war nichts zu sehen; hin und wieder war wohl der Boden bebaut, aber zumeist sah sie bloß Gestrüpp oder Sumpf.

Schmeichlerisch, wie eine Wärterin zum Kinde spricht, das sie ihrem Willen gefügig machen will, fragte sie Madge, als sie erkannte, daß sie in dieser Wildnis keine Aussicht habe, ihren Weg wieder zu finden, ob es nicht besser sei, auf die Straße zu gehen? auf einem hübschen, breiten Wege lasse es sich doch besser ausschreiten als hier zwischen Dornen und Disteln.

Madge aber blieb, als sie diese Frage hörte, jäh stehen und heftete auf Jeanie einen argwöhnischen Blick, als errate sie, was diese in Wirklichkeit wolle. »Aha, Mädel!« rief sie, »hast wohl Lust, mich aus meinen Wäldern zu locken? Willst wohl Deinen Kopf durch Deine Füße in Sicherheit bringen?«

Einen Augenblick war Jeanie unschlüssig, ob sie der Andeutung nicht auf der Stelle folgen und ihr Heil in der Flucht suchen solle; aber sie wußte nicht, nach welcher Richtung sie sich wenden müßte, und war ihrer Sache auch insofern nicht sicher, als ihr die Wahnsinnige an Körperkraft doch vielleicht überlegen war. Darum leistete sie vorderhand noch Verzicht auf die Ausführung des Gedankens, der sie, je weiter der Tag vorrückte, desto hartnäckiger beschäftigte. Madge lief sehr schnell; und ihre Gedanken liefen ebenso schnell von einem Gegenstande zum andern, so daß sie bald wieder anfing, allerhand durcheinander zu schwatzen.

»An so schönem Morgen ist's doch gar zu schön im Walde, ach! und viel schöner als in einer Stadt. Hier schreit kein Rudel zerlumpter Rangen hinter einem her, als ob man ein Wundertier war, bloß weil man anders angezogen ist als sonst alles in der Stadt und keine so bleiche, häßliche Fratze hat. Freilich, Jeanie! auf Kleid und Fratze soll man sich nie was zu gute tun, das sind bloß Fallstricke, sonst hab ich viel drauf gehalten, Jeanie, gar viel! Aber was ist dabei herausgekommen für die arme Madge?«

»Weißt Du denn auch den Weg, Madge?« fragte Jeanie aus Furcht, sie werde sich noch tiefer in den Wald hinein und schließlich gar von der Heerstraße so weit verirren, daß es ihr nicht mehr möglich sein möchte, sie wieder aufzufinden.

»Ich, und den Weg nicht kennen?« rief Madge, hell auflachend; »hab doch lange genug im Walde gehaust, daß ich Weg und Steg drin kennen muß! Freilich ist's gewesen vor dem Unglück, das über mich kam, und da könnt ich wohl manches vergessen haben; aber es gibt Dinge, die vergißt ein Mensch nie, und Madge vergißt ihren Wald im Leben nicht, das kann ich Dir sagen, Mädel!«

Sie gerieten immer tiefer in das Dickicht hinein und kamen an eine Stelle, wo um einen kleinen Rasenhügel herum die Bäume eine Art Rundell bildeten. Da geriet Madge plötzlich ganz außer sich, schlug die Hände vor das Gesicht und fing an, mörderlich zu schreien; dann sank sie wie ein Klotz über den Hügel hin und blieb darauf liegen.

Jeanies erster Gedanke war, den günstigen Moment für die Flucht wahrzunehmen; im andern Augenblick aber siegte ihre Menschenliebe über diesen selbstsüchtigen Drang; es erschien ihr gewissenlos, die arme Wahnsinnige ohne Beistand hier umkommen zu lassen, und mit einer, in ihrer Lage bewunderungswürdigen Aufopferung blieb sie und bemühte sich um das arme, verlorene Geschöpf, suchte es zu trösten und geistig und leiblich aufzurichten. Nach Aufwendung vieler Mühe gelang es ihr endlich, und da nahm sie mit Erstaunen wahr, daß sich die sonst so blühende Farbe von Madges Gesicht in Leichenblässe verwandelt hatte, und daß ihr Gesicht in Tränen schwamm. Jeanie fühlte sich tief durch diesen Anblick ergriffen, um so mehr als sie in dem wild umherschweifenden Gemüte der armen Irren eine gewisse Zuneigung durchschimmern sah, die von ihr Dankbarkeit forderte.

»Laß mich allein! Laß mich allein!« rief Madge, als ihr Schmerz zu schwinden begann; »mir ist's wohl, wenn ich weinen kann. Tränen sind eine Seltenheit bei mir, sie kommen nur ein paarmal im Jahre; dann gehe ich zu diesem Rasenhügel, ihn damit zu netzen, weil vom Tränennaß die Blumen am schönsten gedeihen und das Gras das lieblichste Grün annimmt.« »Aber, Madge, was ist Dir nur?« sagte Jeanie; »warum weinst Du denn so bitterlich?«

»Ach, Mädel,« klagte die Irre: »dazu hab ich wohl Grund, gar tiefen Grund! Mehr, mehr als mein armer Sinn tragen und aushalten kann. Warte bloß ein Weilchen noch, Mädel, dann will ich Dir alles, alles sagen, wie es gewesen. Denn, Jeanie, weißt Du, ich bin Dir gut, glaub's mir, Du hast so was Sanftes, und doch so was Festes an Dir, und alle Leute in Edinburg haben bloß Gutes von Dir gesprochen, und ich denke immer noch an den Trunk Milch, den Du mir damals gabst, als ich vierundzwanzig Stunden lang auf Arturs Sitz herumgestiegen war, um nach einem Schiffe zu sehen, das jemand von der Küste hinweg trug.«

Jetzt erst besann sich Jeanie darauf, daß ihr einmal früh am Morgen ein irres, halbverhungertes Mädchen in den Weg gekommen war, dicht vor ihres Vaters Hütte, über das sie sich erst erschrocken, das sie aber dann, aus Mitleid, mit Speise und Trank gestärkt hatte; und dieser Zug von Barmherzigkeit sollte ihr jetzt zum Segen gereichen ...

»Ja,« sagte Madge wieder, »ich will Dir alles sagen, alles, wie es zugegangen ist, denn Du bist eines frommen Mannes Tochter und kannst mir vielleicht den Weg zeigen, den ich wandeln muß; denn lange genug bin ich in den sengenden Wüsten des Aegypterlandes herumgeirrt und in den Wildnissen des Berges Sinai, und es hat mir nicht zur Freude gereicht, auch nicht zum Troste. Aber, Mädel, wenn meine Gedanken darauf geraten, dann überkommt mich die Scham und ich möchte die Lippen schließen für immer ...« Sie blickte in die Höhe und lächelte. »Sonderbar! Ich habe mit Dir in den paar Minuten mehr Gutes gesprochen, als ich's mit der Mutter in ebensoviel Jahren nicht zu Wege brächte! Manchmal möcht ich's, manchmal drängt's mich dazu; aber dann fährt der Satan über mich und fegt mir mit seinen schwarzen Fittichen über die Lippen, daß all meine guten Vorsätze zum Teufel gehen, und dann kommen mir wieder die sündigen Lieder ins Gedächtnis, und mein Sinn neigt sich zu Leere und Eitelkeit.«

»Such Dich doch zusammenzunehmen, Madge,« mahnte Jeanie die Arme, »und klaren Sinnes zu werden, dann wird's Dir auch leichter ums Herz sein. Widerstehe nur dem Teufel tapfer, und er weicht von Dir! Mein frommer Vater sagt immer, es sei kein Teufel so arg wie unsre eignen unstäten bösen Gedanken.«

»Mädel,« rief Madge, in die Höhe fahrend, »das ist wahr, nur allzu wahr, und drum will ich gleich einen Weg gehen, wohin mir kein Teufel folgen kann. Aber Du wirst ihn gern mit mir gehen, bloß muß ich mich an Deinem Arme festhalten, denn sonst könnte Apollyon mir über den Weg kommen und mich hindern, wie er's dem Pilger auf seiner Wallfahrt angetan hat.«

Sie hing sich fest an Jeanies Arm, und bald kamen sie, zu Jeanies nicht geringer Freude, an einen gangbaren Pfad, mit dessen Krümmungen Madge wohlvertraut zu sein schien, denn sie schritt fest und zuversichtlich weiter. Jeanie versuchte, die Unglückliche bei ihren guten Regungen festzuhalten, aber ihr irrer Geist war schon wieder davon gewichen; glich er doch so ganz einem Haufen dürrer Blätter, die wohl eine Weile lang still auf einem Flecke liegen, aber vom leisesten Windhauche bewegt und verjagt werden. Jetzt war ihr Sinn ausschließlich bei der Pilgerfahrt, und mit großer Zungenfertigkeit schwatzte sie: »Hast Du sie schon gelesen, die Pilgerfahrt von Bunyan? O, ein schönes Buch, Kind! ein schönes Buch! Du könntest die Maria draus sein, die Frau, und ich das Mädchen, die Magdalena. Du weißt ja, die Magdalena war schöner als die andere, und hätt ich meinen kleinen dürren Hund noch, so wäre auch Goodheart vertreten, denn der war grade so frech wie mein kleiner Kläffer. Die Frechheit hat ihm den Tod gebracht, denn eines Morgens fiel ihm ein, Max Alpin, den Korporal, in die Waden zu beißen, und dafür schleppten sie mich auf die Wache und dort erschlug mir der Korporal den Hund mit seinem Beile. Hol den alten Hochländer dafür der Teufel!«

»Ach pfui, Madge! Du solltest solch böses Wort nicht über Deine Lippen bringen!« sagte Jeanie.

»Aber so ist's doch hergegangen, Mädel!« sagte Madge, »der arme nette Shnog! Es tat mir so weh, als ich ihn krepiert im Rinnstein liegen sah. Aber vielleicht war's ganz gut für ihn, daß er so schnell krepierte, denn er hat sein Lebtag kaum was anders als Hunger und Durst gekannt und hätte vielleicht 'mal verhungern müssen, das arme niedliche Vieh! Im Grabe findet alles seine Ruhe, ob Hund, ob Kind!«

»Dein Kind?« fragte Jeanie weich.

»Ja doch, meins,« erwiderte sie verdrießlich; »warum sollt' ich nicht auch ein Kind haben wie andre? und warum nicht auch eines verlieren,« setzte sie heftig hinzu, »wie Dein niedliches Schwesterchen, die Lilie von Sankt-Leonard?«

Diese Antwort erschreckte Jeanie, und sie gab sich alle Mühe, den Mißmut zu beseitigen, den sie durch ihre Frage, ohne es zu wollen, geweckt hatte. »Es tut mir recht leid um Dich, Madge.« »Leid tun?« wiederholte Madge, »was denn? Das Kind war zum Segen gewesen wär nicht die Mutter gewesen; aber die Mutter, die Mutter ist ein schlimmes Weib! Laß Dir sagen, da war ein alter Kerl im Lande, mit einem kleinen Hut auf dem Kopfe, und einem dicken Beutel voll Gold. O, ich hätt was drum gegeben, wenn Du den mal hättest watscheln sehen, ein Bein hierhin, ein Bein dorthin, als wenn sie nicht einem allein gehörten. Ich hab mich immer ausschütten wollen, wenn der schmucke Georg ihm nachäffte. Ach, Mädel, mir ist's, als hätt ich damals viel froher, wenn auch nicht soviel gelacht, als jetzt!«

»Und wer war der schmucke Georg?« fragte Jeanie, ängstlich gespannt, denn daß im Leben dieser armen Irren Dinge vorgegangen, die mit dem Leben ihrer Schwester in so seltsamem Zusammenhange standen, hätte sie nun und nimmer vermutet.

»O, das war ja Georg Robertson! der Edinburger Robertson! Aber sein rechter Name ist das auch nicht. Mädel! Was geht das Dich an?« rief sie, sich plötzlich besinnend; »warum fragst Du mich aus nach anderer Leute Namen? Oder soll ich Dir, wie Mutter immer sagt, das Messer schleifen zwischen Deinen Rippen?« – In ihrer Sprache und ihrer Gebärde kam ein solches Maß von Wildheit zum Ausdruck, daß Jeanie es für geraten hielt, ihr zu beteuern, sie habe bei der Frage nicht die geringste Absicht verfolgt, wodurch sich Madge beruhigen ließ. »Jeanie, merk Dir, nach anderer Leute Namen mußt Du mich nicht fragen! Dabei kommt nichts heraus, und das ist auch nicht artig. Bei der Mutter sind manchmal über ein Dutzend Menschen gewesen, und es hat doch keiner den andern nach seinem Namen gefragt. Das war auch immer Papa Kliffs Rede, so was zu tun sei die größte Unhöflichkeit auf der Welt, das täten die Herren vom Rat und Gericht schon genug, die kämen immer mit dergleichen blöden Fragen, ob man den oder jenen kenne, ob man wisse, wie er heiße, ob er überall so, heiße, und so weiter. Wenn man aber Namen nicht weiß, dann hört alles Gerede ganz von selbst auf.«

»Wie verworfen muß die Schule sein,« dachte Jeanie bei sich, »in der dies arme Wesen erzogen worden! wo man sich durch solche Maßregeln vor der Verfolgung der Gerechtigkeit zu schützen suchen muß! Was möchte wohl der Vater oder Reuben Butler dazu sagen, wenn sie von mir hörten, daß es dergleichen Menschen unter Gottes Sonne gibt? O, wie verworfen, die Einfalt dieses armen unglücklichen Wesens derart zu mißbrauchen! Ach, wie glücklich werde ich sein, wenn ich erst wieder in meiner schlichten Heimat, bei meinen redlichen Landsleuten bin! Wie will ich den Herrn dafür loben und preisen, daß er mir meinen Platz angewiesen unter denen, die unter dem Schatten seiner Fittiche in der Furcht vor Ihm leben!«

Ein wildes Gelächter riß sie aus diesem Sinnen. Es rührte von Madge her, der es eine über den Weg hüpfende Elster entlockte.

»Sieh doch nur! Gerade so hüpfte mein alter Schatz, bloß fehlten ihm die Flügel, um den dürren Beinen nachzuhelfen. Geheiratet hätte ich ihn aber doch, weil mich die Mutter sonst totgeschlagen hätte. Da kam aber die Geschichte mit meinem armen Kinde, und die Mutter bekam es mit der Angst, sein Geschrei könnte den alten Kerl taub machen, und da hat sie es fortgeschleppt, damit es aus dem Wege sei, und unter den kleinen Hügel dort gebettet. Aber mir ist seitdem immer, als hätt sie auch mein bißchen Verstand mit drunter gebettet, denn ich bin von der Zeit an gar nicht mehr die gleiche. Und nun denke Dir, Jeanie, nachdem sich die Mutter mit dem alten lendenlahmen Kerl so am Leibe gerissen, schwenkt er ab und läßt mich sitzen; ich aber hab deshalb den Kopf nicht hängen lassen, Mädel, sondern ein fideles Leben seitdem geführt, und es gibt wohl kaum einen schmucken Herrn, der nicht, wenn er mich sieht, gleich vom Pferde spränge, weil ich ihm in der Nase stecke! Es hat auch manch einer gleich in die Tasche gegriffen und mir ein Paar Silberlinge zugeworfen bloß wegen meiner niedlichen Fratze.«

Die Erzählung hatte Jeanie einen trüben Blick in das Leben der armen Irren eröffnet. Ein reicher Freier hatte das Auge auf sie geworfen und war von der Mutter, ungeachtet seines Alters und seiner Gebrechlichkeit, der Tochter zugeführt worden, die sich aber von einem Wüstling hatte verführen lassen und ihm ein Kind gebar. Um die Schande zu verbergen und die Heirat nicht zu gefährden, die der Mutter im Sinne lag, hatte diese das Kind, den unschuldigen Zeugen der Schwäche ihrer Tochter, auf die Seite geschafft. Der Alte aber hatte doch davon erfahren und sich von der Tochter abgewandt, deren von Natur eitler, schwacher Sinn dadurch dermaßen gestört worden war, daß er in richtigen Wahnsinn ausartete.


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