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12.

Der Sonntagmorgen stieg in voller Winterpracht über Gebirge und Thäler empor. Wie es leuchtete und flimmerte im Frühsonnenschein! Alle Bäume überzuckert, das Eis an den Seerändern beschneit, der Himmel lichtblau ohne die leiseste Spur eines trübenden Wolkenflors. Rein und voll klang der Glockenruf zur Kirche durch die windstille Luft, und Steffen Bürklin, in seinen knappen Gehpelz gehüllt, schritt unten vor dem weit offenen Hofthore auf und ab. Die Kirchgänger alle mußten hier an ihm vorbeikommen, und er wollte Signora Rizzi erwarten, um zu hören, ob und wann es heute ratsam sei, seinen Besuch in Platta zu wiederholen.

Den Landrichter hatte er noch nicht begrüßt, obgleich sich durch die trennende Wand schon seit einer geraumen Weile das lebhafte Geplauder des Kindes mit dem Vater vernehmbar gemacht hatte. Neun Uhr war gestern abend als die gemeinsame Frühstücksstunde unten im Eßzimmer zwischen den Männern verabredet worden, und eben schlug es acht.

»Ob ich denn noch ein Zimmer richten muß im Oberstock für unsere Signora?« fragte Zia Nonna vom Hofe aus den Auf- und Abschreitenden, während sie Barrys steinernen Futtertrog füllte und seinen Wassernapf gründlich ausschwenkte. »Denn, Signor Dottore, ich denke mir: sobald sie's vernimmt, daß Mann und Tochter ihr nachgekommen sind und haben ihrethalben die Gefahr über den Julier nicht gescheut, wird sie sich doch aufmachen und dem gottverlassenen Platta ihren Rücken weisen. Dio mio! Wie mir das Kind wohlgefällt, solch ein goldenes Herzchen und zum Küssen zutraulich! Der Vater hat sich noch wenig Freund gemacht mit mir; wahrscheinlich steh' ich ihm nicht so gut an wie dem Signor Dottore! Man muß aus altem Tuche zuvörderst einen Mantel gemacht und ihn im Schneesturme getragen haben, bevor man wissen kann, ob das Tuch warm hält – eh, Signor Dottore?«

Bürklin lachte und gab ihr einen Scherz zurück. Nach der gut durchschlafenen Nacht war's ihm wieder ganz wohl, und eine erwartungsvolle Spannung belebte ihn außerdem, fast als ob er noch ein Kind wäre und die Lichter des Weihnachtsbaumes würden ihm hinter der verbergenden Thür angebrannt.

Dort hinten schienen wahrlich schon die ersten Kirchgänger zu kommen. Bürklin beschloß, ihnen ein Stück auf der Dorfstraße entgegen zu gehen. Noch unterschied er nur erst eine rasch vorausschreitende Frau, von einem Manne gefolgt. War der Mann verwachsen oder trug er etwas auf dem Rücken? Nein, Kirchgänger konnten es doch nicht sein; der anscheinend Bucklige entpuppte sich als ein schmächtiger Bursch, der eine Reisetasche schulterte, und die Frau? – Ihm wirbelte das Hirn! Geschahen Zeichen und Wunder? Katharine Eschrodt!

Sie kam zu ihm nach Baselgia, freiwillig, ungeahnt und ahnungslos, gerüstet zur Heimreise! Sie hatte »Canossa« endlich auf ihrer Landkarte gefunden, nachdem sie ihre sehenden Augen wochenlang eigenwillig verschlossen gehalten!

Er eilte ihr entgegen und streckte ihr schon von weitem die Hände hin; sie flog förmlich auf ihn zu.

»Da bin ich, o ich Sünderin, ich Thörin!« rief sie, und ob ihr auch bei diesen Worten Thränen in den Augen glänzten, so waren es doch andere Thränen als die gestern geweinten. Der rasche Gang hatte ihre bleichen Wangen gerötet; hoffnungsfreudig blickte sie dem Freunde ins Antlitz, die alternden Züge, die der aufreibende Seelenkampf des letzten Monats in ihr noch jugendliches Gesicht gegraben hatte, schienen allesamt wieder ausgewischt.

»Könnte ich nicht gleich heute noch ein Stück des Heimweges machen? Vielleicht bis Chur oder wenigstens bis Thusis?« fragte sie hastig, »und wollen Sie mir zuguterletzt noch einmal helfen, Sie bester Mensch? Ach nein! Lassen Sie das Gestern ruhen,« bat sie, als er ein Wort daran knüpfen wollte, »ich möchte um keinen Preis meinen schwer errungenen Entschluß wieder verlieren. Gott wird Ihnen lohnen, Ihnen und Signora Teresina, dem Engel in Menschengestalt. Sie werden ihr tausend Grüße von mir sagen, wenn Sie noch einmal nach Platta hinauskommen, vergessen Sie's nicht! Von daheim schreibe ich Ihnen einen langen, sehr langen Brief, und später müssen Sie uns in Danzig besuchen, meine Ketty sehen und meinen Mann kennen lernen, so wie er jetzt ist. Ach, wird er mir verzeihen, wird er mich wieder aufnehmen?« unterbrach sie sich und rang ihre Hände ineinander, »nur das Eine sagen Sie mir: glauben Sie ernstlich daran?«

»Ich weiß es – so fest und gewiß, wie der blaue Himmel heute über der weißen Erde steht!« beteuerte er. »Gehen Sie nun noch auf ein Ruhestündchen in unser gutes, altes Jostihaus; Ihr Zimmer finden Sie in bester Ordnung. Ich will Ihnen unterdes in Silvaplana einen verläßlichen Kutscher und Wagen nach Chur besorgen. Auf frohes Wiedersehen denn vor dem letzten Scheiden!«

»Und Sie mögen nicht zuerst ein wenig mit mir hineingehen und frühstücken?« fragte sie halb bittenden Tones, allein er entgegnete:

»Damit Sie die kostbare Zeit versäumen? Nein, nein, nur nichts halb thun, liebste Freundin. Es ist besser, ich gehe gleich, und sobald ich kann, bin ich zurück, verlassen Sie sich darauf.«

»Mein Freund!« sagte sie, hielt seine Hand noch zurück, und ein Reichtum innigen Dankes leuchtete aus ihren schönen, sprechenden Augen: »Mein lieber Freund – Gott vergelte Ihnen Ihre Güte!«

Er wollte der Rührung nicht unterliegen! Diese Frauenstimme, weich und tief wie die nie vergessene Mutterstimme seiner freudenvollen Jugend, drohte seine Seele aus dem Gleichgewichte zu bringen. Raschen Schrittes verließ er Katharine. »Wie wird sie nun glücklich werden und glücklich machen!« sprach es in ihm.

Noch einmal blickte er um. Jetzt hatte sie den Hof erreicht, und droben im Rahmen des Flurfensters über der Eingangsthür stand eine kleine Gestalt mit langen schlichten Blondhaaren, altdeutsch in die Stirn verschnitten, und schaute zu Barry hinunter, der sich sein Frühstück schmecken ließ. Noch ein Moment, dann klang ein helles Jauchzen von Kinderlippen durch die Luft, das blonde Köpfchen war droben aus dem Rahmen des Flurfensters verschwunden, und drunten auf dem schneegesprenkelten Pflaster des Hofes kniete die Mutter und hielt den neugewonnenen Schatz ihres Herzens in den fest umschlingenden Armen.

*

Wie paradiesisch dieses Canossa zwischen den Bergen, zu dem sie mutig gepilgert war, um ihr Unrecht zu büßen!

*

Als sei der Verfolger ihm auf der Spur, so unaufhaltsam eilte Bürklin seines Weges dahin nach Silvaplana zu. Was er dort sollte und wollte? Keine Ahnung davon! Er sagte sich nur, daß es seine Pflicht sei, die Wiedervereinten in dieser Stunde tiefster Demut und höchsten Glückes allein zu lassen. Ein Sturm starker Gefühle bewegte ihm das Innerste seines Wesens. Kleinlicher Neid blieb ihm fern, aber das ungestüme Verlangen, auch ein heiß liebendes Herz an seinem Herzen zu fühlen für seines Lebens Rest, begehrte gegen das Opfer auf, das der leidenschaftliche Mensch dem edlen Manne in ihm gebracht hatte damals im wildtraurigen Fedozthale, und in solcher Stimmung drückte ihn die wundersame Sonntagsruhe dieses Morgens zu Boden.

Nicht rechts noch links schaute er und fuhr jäh aus seinen wachen Träumen in die Höhe, als plötzlich zwei kleine Arme sein Knie umklammerten und ihn an die Stelle bannten und Ghitas liebliches Schelmengesichtchen mit den dunklen Augen zu ihm emporlachte. Die kleinen Hände, die sich schmeichelnd in seine schoben, waren feuerrot von Kälte und Nässe; denn das unverbesserliche Wassernixchen hatte sich natürlich damit belustigt, die derbe Eiskruste am flachen Ende des Silvaplaner Sees vom Ufergrase loszubröckeln.

» Il nostro Signor! Il dottore carissimo!« rief sie, Bürklin mit all ihrer Kraft nach sich ziehend, ihrer jungen Stiefmutter zu, die im Sonntagsstaat, eine Hand schirmend über den sonnengeblendeten Augen, in der Thür ihres schmucken Häuschens stand und nach dem Kinde spähte.

Das war eine Freude, als der unvermutete Gast über die Schwelle trat! Mit welchem Stolze wurde ihm jedes Eckchen und Stückchen der blanken Wirtschaft gezeigt, und wie prächtig nahm sich der rote seidengestickte Vorhang, frei von Staub und Rissen, rings um den grünglasierten Steinofen aus, dem die behaglichste Wärme entströmte!

»Nun müssen Sie uns die Ehre thun und von mir annehmen, was ich bieten kann, Signor Dottore,« bat Frau Barbetta, brach große Stücke vom warmen Maiskuchen und jagte das Ghiteli ins winzige Speisekämmerchen nach Milch und Butter, mit denen die Kleine ehrbar und vorsichtig zurückkam.

»Eine Hausfrau steckt in ihr, wie Sie sehen, Signor,« sagte Barbetta stolz und drückte den Lockenkopf des Kindes zärtlich an sich, ehe sie fortfuhr: »Und Perrino, nach dem fragt mich der Signor gar nicht? Ja, mit dem hat man noch hier und da seine liebe Not, aber es wird schon seltener, gottlob, und fünfmal in diesen drei Wochen ist er abends so nüchtern wie ein Heiliger daheim geblieben – fünfmal war's, gelt, Ghiteli, daß il padre mit uns Würfel gespielt hat um Zuckererbsen? Das Unschuldige muß doch auch sein Späßchen haben,« fügte sie hinzu, gewissermaßen ihre Verschwendungssucht in Gestalt der Zuckererbsen verteidigend.

Das war eine herzerfrischende halbe Stunde, die Bürklin in diesem einfachen Heim verbrachte, und er verließ es um vieles heiterer und ruhiger, mit Dank für die Erquickung.

Lange stand er allein am Silvaplaner See und warf, ganz in sich versunken, von den bunten Kieselsteinchen, mit denen das Ghiteli ihm aus besonderer Freundschaft seine halbe Rocktasche angefüllt hatte, eines nach dem anderen weit hinaus gegen die stille Fläche des Wassers.

»Willst du wieder mit dem Dottore kommen und bei ihm in Baselgia bleiben?« hatte er eben beim Abschiede scherzend das Kind gefragt, aber es hatte lebhaft verneinend den kleinen Zeigefinger auf und ab bewegt und sich in Frau Barbettas Rockfalten versteckt: »Alla mamma mia!«

» Et tu, Brute!« – Bürklin mußte über sich selber lächeln, daß ihm dieser Satz voll tragischer Bedeutung bei des Kindes Worten durch den Sinn gefahren war. Nun stand er am See, und die beiden glückseligen Kinder: Ghita und Ketty, füllten ihm noch, eng verschwistert, die Gedanken aus und traten, Lichtgestalten gleich, vor sein inneres Auge.

»Mutterliebe! du heiligste Macht im Himmel und auf Erden, tiefer als je hab' ich dich erkennen lernen!« sprach es in ihm, und sein Herzweh, seine selbstische Sehnsucht fielen von ihm ab. »Es gibt noch Glück und Umkehr in dieser Welt, die wir ›die böse‹ nennen, sie ist es noch immer wert, in ihr zu leben und ihre Menschen zu lieben, wenn wir auch selbst ungeliebt beiseite stehen sollten und nichts wären als ein schwacher Hebel, eine unsichtbare Triebfeder im großen Werke. Weiter war ich auch nichts: ein kleines Rad habe ich aus dem Schlamme zu heben und wieder wegtüchtig zu machen versucht! Sie, die Neuvermählte, wird nun heimkehren und mich vergessen, ich aber habe durch sie dein Zweites und Drittes an mir erprobt, Liebe: deinen Zorn und deinen Schmerz, nachdem dein Glück mit meiner Jugend gestorben war! – Ich habe gelebt und ich will mich bescheiden!«

Er richtete sich straff empor und warf den letzten Stein, den er noch in der Hand hielt, gerade vor sich hinaus in den See. Eine Welle blinkte im Sonnenschein, spritzte auf und ließ einen kleinen Kreis zurück: der wuchs und wuchs, verzitterte und verlor sich. – Dann lag das bläuliche Wasser unbewegt wie zuvor, und in funkelnden Lettern schrieb die Gottessonne auf seinen herrlichen Riesenspiegel:

»Thust du das Gute, so wirf es ins Meer;
Sehen's die Fische nicht, sieht's doch der Herr!«

Ein ergreifendes Gefühl, still und doch heiß und inbrünstig, durchzog des einsamen Mannes Brust, als er sich zum Gehen wandte, heim nach Baselgia, wo er wußte, daß Glück und Freundschaft lieber Menschen seiner harrten.

So wanderte er dahin. Ihm zur Seite hob der Corvatsch seinen vergletscherten Scheitel und seine Schneegefilde in die klare Luft, die Arven flüsterten, und der Rauhreif auf den Wiesen begann sich in milde, tauige Topfen zu verwandeln.

Und da schlugen die Glocken an: von Silvaplana und Baselgia klang es feierlich zusammen. Die Kirche war aus, und alle die Vielen, die nach arbeitsvoller Woche den Festtagsfrieden mit sich heimtrugen, kamen ihm entgegen, der friedlich von seiner stillen Andacht in Gottes großem, ureigenen Tempel zurückkehrte ins kleine Menschenleben.

Über dem starrenden Lagrev schwebte blauer Duft; und zu seinen Füßen ruhte, sonnenbeglänzt, das alte Heim, in dem nach kurzem, erbittertem Kriege segnende Eintracht beschlossen und besiegelt worden war. Nun lockte die Sehnsucht nach Norden die Glückvereinten sicherlich zu rascher Heimkehr! – Steffen Bürklin wußte wohl, daß er auch dieses Jahr in Baselgia der letzte Gast sein würde.


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