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Fünfzehntes Kapitel.

Als er wieder zu sich kam, war ihm ringsumher alles fremd. Eine offene Hausthür, durch die der kalte Wind hereinpfiff, mitten im Raume ein freundliches Herdfeuer, über dem ein brodelnder Kessel hing, und an den Wänden allerlei Küchengerät, das im unruhigen Flammenschein glitzerte. Er selbst atmete eine salzig-trockene Luft ein, von scharfem Fischgeruch erfüllt; denn er lag auf dem Boden ausgestreckt vor der Fischkiste, unter ihm ein vielfach zusammengelegtes Segel, in seiner Kehle ein schnürender Branntweingeschmack. Zwei starke Arme hielten ihn umfaßt und ein wenig aufgerichtet. Nur ganz allmählich kam ihm die Klarheit zurück, und er vermochte, unter den halbgeschlossenen Augenlidern hervor, seine Umgebung zu erkennen. Neben ihm kniete Kurt, die Reisetasche noch an der Seite, und das war Professor Scherzer, der halblaut zu den Leuten sprach: zu Johannsen und Clasen und Johannsens ältester Enkeltochter. Die Großmutter bückte sich gerade über einen Koffer und legte dann ein Wollhemd und einen blauen Matrosenanzug dicht ans Feuer zum Durchwärmen – ihres eigenen längstverstorbenen Sohnes Kleider für Tino.

Seine matten Augen folgten den Bewegungen der alten Frau, und nun hörte er Johannsen sprechen, ernst und gedämpft:

»Da sei Gott vor! Ertränken hat 'r sich nicht wollen; die reine Barmherzigkeit hat 'n ins Wasser gejagt!« Dann zuckten die Arme, die ihn umfaßt hielten, und eine große, weiße Hand – er erkannte sie am Siegelringe mit dem Lapislazuli – umschloß seine schlaffen Finger.

»Ich lebe!« flüsterte er schwach auf Griechisch und versuchte sein schweres Haupt zu heben.

Da beugte sich Tychsens erschüttertes Gesicht über ihn: »Tinomou! – Tinomou!« sagte er mit erstickter Stimme.

Wie im Traume blickte Tino zu ihm auf. Das Nachgefühl des furchtbaren Tages und der kaum überstandenen Ohnmacht trieb ihm Thränen in die Augen. Er versuchte die Hand zu drücken, die ihn so hart geschlagen, und über seine farblosen Lippen fand nur ein leises Wort den Weg: »Verzeihung!«

»Verzeihung!« wiederholte Tychsen ebensoleise, und die Feindeshände vereinigten sich fest zum Frieden. Niemand als höchstens Kurt hätte das Versöhnungswort der beiden vernehmen können, aber an Kurts Ohr flog es vorüber. Laut jubelte er auf, stürmisch umfing und küßte er den kaum Erwachten, der sich schwerfällig aufsetzte, sich vom Boden erhob und wie zerbrochen an allen Gliedern in die schmucke kleine Süderstube wankte, um sich dort mit Kurts Hilfe umzukleiden. –

Es war ein sehr feiner und blasser Matrose, der bald darauf, am Herdfeuer sitzend, sich von Frau Johannsen zu heißer Mehlsuppe und schwarzem Brote nötigen ließ und den steifen Grog dazu trank, den Peter Johannsen mischte. Der nahm auch den ersten Schluck davon und bot dann seinem Gaste das dampfende Glas mit dem Trinkspruche: »Halten Sie sich hart, jung' Herr!« – Dann rüstete sich Tino, um seinen neuen Freunden im Schifferhäuschen Lebewohl zu sagen. Kurt hatte sich's vom Direktor ausgebeten, ihn für die nächsten Tage mit auf den Pfarrhof nehmen zu dürfen, und Tino sehnte sich danach, heimzugehen, und sich in der Stille mit den erschütternden Ereignissen seines Geburtstages abzufinden. Und trotz der versöhnenden Schlußscene des Dramas mußte sich's Tychsen doch gestehen, daß die Trennung für ihn selbst und seinen Mitspieler jetzt das einzig Richtige sei.

Auch ihn zog es nach Hause, um vor allen Dingen seine geängstigte Frau zu beruhigen. Auf die eine oder die andere Weise war ihr ohne Zweifel ein Verständnis der Ereignisse gedämmert, schon allein durch den Boten, den er ihr aus der Stadt geschickt hatte mit einigen hastig geschriebenen Erklärungen und der Frage: ob Tino mittlerweile heimgekehrt sei? Diese qualvollen Stunden des Suchens nach dem Entflohenen, durch die Stadt, vom Bahnhof bis zur Hafenschenke, im Seegarten, im Pfarrhof und an der Küste hin, hatten den starken Mann vollständig aufgerieben.

Ehe er, zusammen mit Hackert, fortging, um sich unterwegs nochmals alle Einzelheiten mitteilen zu lassen, wiederholte Tino dem Landjäger seine flehentliche Bitte um ein ehrliches Begräbnis für den armen Nicolo, und, neben der Leiche stehend, versprach auch Tychsen sein möglichstes zu thun.

»Bis morgen denn,« sagte er, Tinos Hand zwischen seinen beiden haltend. Er fühlte sich zu zerschlagen, um der Freundin im Pfarrhofe heute noch Aufklärungen geben zu können, und ein Blick in Tinos Augen beruhigte ihn auch über die Natur seiner Enthüllungen Kurt und der Pastorin gegenüber.

»Ich möchte mit Ihnen gehen, Hallersleben, und mich davon überzeugen, daß Photinos wohlbehalten unter Dach und Fach kommt,« schlug Scherzer vor, aber Kurt verbürgte sich so heilig für des Freundes sichere Heimkunft, daß Scherzer die beiden allein ihres Weges ziehen ließ und sich dem Direktor anschloß.

Der Sturm brauste noch, aber es schien, als triebe er jetzt höher in den Lüften sein ungebärdiges Spiel. Er zerstreute im Nu das schwere Gewölk, das Schneien hatte aufgehört, und die Sterne traten hell hervor. Blendendweiß dehnte sich das weite Gelände vor den Wandernden, und unter ihren Füßen zerrann der Schnee, weil nach hartem Winter der Lenz im Anzuge war. Gerade über dem Dache des Pfarrhofes funkelte ein diamantener Stern, und von den erleuchteten Fenstern des niedrigen alten Hauses waren die schützenden Läden zurückgeschlagen. Davor schwankten die runden, schneebelasteten Lindenwipfel.

»Dort schauen vier Augen nach dir aus, o – und in welcher Angst! Laß uns rascher gehen, wenn es dich nicht zu sehr anstrengt,« sagte Kurt. Allein trotz der Mahnung zur Eile hielt er immer noch einmal an, schaute dem Wiedergefundenen ins Gesicht und konnte ihn nicht eng genug mit dem Arme umschlingen, während sie ihrem Ziele entgegenschritten.

»Der Direx wollte wohl lieber schweigen, aber ganz hat er es doch nicht fertig gebracht,« bemerkte Kurt, als der schlängelnde Fußweg vom Seedeich bis zum Pfarrhofsgarten sich seinem Ende näherte. »Ich schmeichle mir, ziemlich rasch von Begriffen zu sein, und deshalb glaube ich auch annähernd zu wissen, was es zwischen ihm und dir gegeben hat. Jedenfalls brauchst du dich vorderhand nicht mit Geständnissen aufzuregen, mein Alter! Denke dir nur unsern Todesschrecken, als wir harmlos vom Bahnhofe zurückkommen (Tante Alice, notabene, wohl und frisch!) und der Gestrenge, vollständig aus den Fugen, reißt uns den Wagenschlag auf: »Wo ist Tino? Tino ist fort!« Und dann tritt Scherzer vor und hält eine längere Rede, und dann erhebt sich ein allgemeines Jammern, wobei Jens und Merret den antiken Chor bilden, und dann werde ich, Reisetasche an der Seite, so wie du mich hier siehst, aufgefordert, mitzukommen. – Ja, ja! jetzt läßt sich das hübsch erzählen: wir haben dich unversehrt wieder, aber vor zwei Stunden! – Deine Kleine war auch dabei. O Tintoretto, laß sie hundertmal der Normalbackfisch sein – ich sage dir – wenn ein Mädchen, das ich sehr liebte, jemals so um mich weinen würde, wie sie um dich geweint hat – beim Himmel, da ist sie!«

Es war wirklich Gerda, die sich aus dem Schatten der Gartenhecke herauslöste. Nicht einmal ein Tuch hatte sie zum Schutze gegen die Kälte umgenommen. Groß und schlank, das schwere Kleid kaum vom Winde bewegt, stand sie im Schnee, flehend die gefalteten Hände emporstreckend, den Oberkörper vorgebogen. So lauschte sie angestrengt den näher und näher kommenden Tritten. Wäre das abendliche Dunkel nicht gewesen, die Freunde hätten den Ausdruck tödlichen Entsetzens in dem jungen verweinten Gesichte sehen können, als an Stelle des Langersehnten ein fremder Matrose in grober Jacke und weiten Beinkleidern, den Ölhut im Nacken, an Kurts Seite auf die Gartenhecke und die Harrende zukam.

Ihr Herz stand still; dann lief sie ein paar kleine schwankende Schritte vorwärts, blieb stehen und brach in lautes Weinen aus. – Und dann – was war das? – Der Matrose schwenkte ihr seinen Hut entgegen, und das mußten doch Tinos Locken sein, mit denen der Wind spielte – und da rief Tinos geliebte Stimme ihren Namen: »Gertrud! Gertrud!«

Sie stürzte auf ihn zu, und ehe sie vor ihm in die Kniee brechen konnte, hatte er sie aufgefangen und hielt sie fest gegen seine Brust geschlossen. Die angstvolle Spannung, die sich nun stürmisch löste, war zu groß gewesen. Sie schluchzte krampfhaft und stammelte unzusammenhängende Worte, sie duldete alles: daß er ihr kaltes Gesicht und ihr verwehtes Haar küßte und wieder küßte und ihre erstarrten Hände an sein heißes Herz preßte, bis sie sich losmachte, aber nur um mit beiden Armen sein Haupt zu umschlingen und ihre Wange unter Thränen an seine Wange zu schmiegen.

Aus der Kinderliebe war in dieser ernsten und seligen Stunde die Lebensliebe geworden, und das Lied hatte sich erfüllt:

»Dreimal schmerzlich wirst du suchen,
Einmal finden unter Schmerzen
Bess'res als den Fisch im Netze,
Schöneres als die rote Sonne!«

*

Als sie sich nach Kurt umschauten, war er spurlos verschwunden. Mancherlei Rührsames hatte er erwartet, aber diesen entscheidenden Ausgang denn doch nicht! Der benahm ihm den Atem und zauberte ein beklemmendes Hindernis in seine Kehle, das sich nur durch energisches Schlucken beseitigen ließ. Beneiden that er Tino nicht, Gott behüte! Das wäre sehr gemein gewesen, dem besten Freunde gegenüber, der so hart »durchgemußt« hatte, aber er wünschte sich leidenschaftlich einen ähnlichen Augenblick im Paradiese, ehe er ein blasierter Legationsrat sein würde, oder ein ausgebrannter Krater, wie seines Vaters Attaché.

Unter diesen Empfindungen war er spornstreichs von der Hofseite aus ins Pfarrhaus gelaufen und umarmte, in Ermangelung einer Angebeteten, seine Tante, die seit einer Stunde, sorgenerfüllt, von der Diele ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer in die Küche ging und Merrets Wehklagen ob der fürchterlichen Resultate ihrer Kofferkammer wortlos auf sich einfluten ließ.

»Er kommt! unversehrt, ein ruhmgekrönter Held, und Gerda geleitet ihn als Walküre!« So verkündete der Hereinstürmende, und während die Pastorin in unaussprechlicher Freude aus dem offenen Wohnstubenfenster lehnte und Tinos Namen in die Dunkelheit hinausrief, schenkte sich Kurt nebenan im Eßzimmer das anständige Restchen Madeira aus der Karaffe in ein Wasserglas.

»Dieser Tag übersteigt meine Kräfte,« entschuldigte er seine Unmäßigkeit bei sich selbst, nahm sacht den Kellerschlüssel vom Haken und holte eine frische Flasche herauf, die er in der Küche sehr langsam entkorkte und umfüllte. Einesteils that er, was er that, aus brüderlicher Sorge für Tino, andernteils erschien ihm die Begrüßungsscene im Schnee zu angreifend für sein männliches Gemüt, das infolge der Ereignisse heute abend auf einen ungewöhnlich weichen Ton gestimmt war.

*

Ruhe senkte sich erst in die aufgeregten Herzen hinab, als der lichtglänzende Abend zu Ende war, als die Feuer des Hauses erloschen und die stille Nacht in ihre Rechte trat.

Kurt hatte Gerda heimgeleitet. Tino konnte und durfte es nicht mit der bleiernen Mattigkeit im Körper und der Fieberröte auf den Wangen. Stumm war das Mädchen an des hochaufgeschossenen Schülers Seite dahingewandelt und hatte nur selten einmal, wie in schüchterner Frage, die Augen zu ihm aufgehoben. Es drängte ihn, ihr die Hand zu reichen und zu sagen:

»Was auch das tückische Schicksal Ihrer Liebe in den Weg werfen mag, rechnen Sie allezeit auf mich als auf Ihren besten Freund!« Aber diese Entsagungsphrase des Romans wollte nicht über seine frischen Lippen kommen.

»Besser, ich habe nichts gesehen und nichts gehört; denn wer weiß, was für ein Tag schließlich aus dieser Götterdämmerung wird,« dachte er in seinem Sinne, und er hatte recht damit.

»Ja, nun ist unser Sorgen und Mäcenieren für Tino zu Ende, Gerda,« meinte er, als er sich vor der Thür des Gymnasiums empfahl, und fügte hinzu: »So lange er noch bei uns bleibt, wollen wir drei gemütlich zusammenhalten, nicht wahr?« Und er war abermals sehr gerührt, als Gerda seine Hand impulsiv zusammenpreßte und ihm für sein Geleit mit Thränen in den schönen dunklen Augen und mit lächelndem Munde dankte.

Tino war für heute, damit er ungestört bliebe, ins Fremdenzimmer gebettet worden, und die Pastorin durchwachte diese Nacht an seinem Lager, dem Himmel dankend, der ihr die alte Kraft und Gesundheit zur rechten Stunde neu geschenkt hatte.

Allein trotz tiefster Müdigkeit ruhte Tino schlaflos in seinen Kissen. Die wilden Wogen des Meeres schaukelten ihn wieder hin und her, noch einmal ward ihm die Seele von beklemmender Traurigkeit erfüllt, und, die heiße Stirn gegen den mütterlichen Arm gelehnt, machte er seiner Trösterin alle die schmerzlichen Bekenntnisse, die, aus seinem Herzen heraus, zum befreienden Licht drängten. Nichts verriet er, was andere, nichts verschwieg er, was ihn selbst anklagte, und die Schatten der Nacht ließen ihm sein Unrecht schwärzer, seinen Sturz abgrundtiefer erscheinen, als sie wirklich waren. Ja, in seinem trüben Verzagen meinte er seiner Kunst nicht mehr wert zu sein!

Da jedoch legte die Pastorin ihm eine Hand auf die brennenden Lippen und streichelte mit der anderen liebreich sein Haar.

»Mein Kind,« sagte sie, »deute dir die Ikarosmär, die dich verfolgt und quält, auf deine christliche Weise und werde ruhig daran. Laß sie dir sagen, daß die göttliche Macht und Gnade den Irrenden auf die rechte Straße leitet wie dich, den Übermütigen demütigt wie dich, den Gestürzten aufstehen und auferstehen läßt wie dich. Das begreife und halte fest; geh mutig an die Arbeit, veredle dein Streben nach dem Edelsten und verachte das versteckte Spiel, dessen bittere Frucht du heute gekostet hast. Sieh mir in die Augen, mein geliebter Sohn – denke nach, ob du deiner Mutter nichts mehr verborgen hast?«

Er schwieg, heftete seinen Blick lange in den ihrigen, und es kämpfte in seinen Zügen. Dann beichtete er ihr das, woran ihre Seele in diesem Augenblicke nicht gedacht hatte: sein Wiedersehen mit Gerda, und bat sie, sein Geheimnis und seinen Schatz mütterlich zu behüten.

Eine Flut der widerstreitendsten Gefühle wallte in ihr auf; ihre Hand zuckte zusammen, fast als wollte sie sich der schlanken Jünglingshand entziehen, deren Schwielen und Striemen heute von harter, ehrlicher Arbeit redeten. Aber Tino schloß seine Finger fester um die ihrigen. Und wie er ihr dann in scheuem, ehrfürchtigem Glücke von seiner Liebe und seinen Hoffnungen sprach, da besänftigten sich ihre streitenden Gefühle. Zurück in die eigene Jugendzeit wandelten ihre Gedanken; sie sah sich in der verschwiegenen Laube des elterlichen Gartens, als sie, auch noch ein Kind vor der Welt, dem jungen scheidenden Lehrer ihrer Brüder Treue gelobte mit Hand und Mund. – Und die Süße jener Erinnerung lehrte auch sie jetzt die kindliche Liebe verstehen und ihres Schutzes für wert erachten.


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