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Der letzte Gast.

1.

Doktor Steffen Bürklin kehrte langsamen Schrittes von seinem Ausfluge nach Vicosoprano, drunten im Bergell, heim. Der Abend wollte schon in sein Recht treten mit Kälte und Feuerglanz auf den westlichen Gletschern, und das scharfe Steinpochen der italienischen Straßenarbeiter verstummte: des Aufsehers mächtige Taschenuhr wies Feierstunde.

Schon vor Tau und Tag war Bürklin heute aufgebrochen; in Sils-Baselgia schlief noch alles, und es schlug gerade fünf, als er Barry, dem aufgeschreckten Hofhunde, beruhigend das zottige Fell kraute und dann leise die Thür ins Freie hinaus öffnete und wieder einklinkte. Natürlich, ohne Imbiß hatte die Wanderung beginnen müssen! Nonna, die Hausverwalterin, konnte leider Gottes zehnmal ihre Weckuhr stellen, ehe sie einmal vom Klingeln und Schnarren derselben aufwachte. So durfte es niemanden wunder nehmen, daß sie auch heute Doktor Bürklins Frühstücksthee richtig und gründlich verträumt gehabt.

Ihm war's ganz gleichgültig gewesen. Ihn interessierte das Verlöschen der Sterne und das Aufleuchten des wundersamen Morgenrotes hinter Grevasalvas viel lebhafter als sein hungriger Magen. Bald war ja auch dessen Not gestillt worden. Drüben in Islas, am Südende des Silser Sees, wurden gerade die Kühe gemolken, als Bürklin anlangte, und Menika Caderas, die unschädlichste alte Hexe, die jemals ihren zahnlosen Mund und ihre grauflatternden Haarsträhne den Mitmenschen zur Schau gestellt, zog frischen Maiskuchen aus dem Backofen. Trotz des scharfen Ostwindes und Rauhreifes hatte Bürklin unter Signora Menikas braunem Vordach, hart am Seegestade, gefrühstückt, sich dann einen derben Zipfel Salami, Maiskuchen und ein Fläschchen Ivabitter in den Rucksack stecken lassen und war so, im jungen Morgensonnenschein, seines Weges fürbaß gewandert, an Maloja-Kurhaus und den eleganten holzgeschnitzten und spruchverzierten Chalets vorbei, hinauf zur Paßhöhe und dann die kühnen Zickzacklinien der Straße ins Bergell hinab. Drunten in der Thalschlucht, wo die Maira ihre schaumigen Wellen und Wellchen lustig gegen die moosigen Felsblöcke wirft, war's noch eisig kalt und unheimlich gewesen, bis allmählich Casaccia in Sicht gekommen. Da begann die Sonne zu glänzen und zu wärmen, und zwei Stunden später, in Vicosoprano, glühte sie vom dunkelblauen Himmel herab und durchstrahlte die scharlachnen Blütenrispen der Gladiolen und die azurfarbenen der Salvien vor dem stattlichen alten Hause mit dem bunten Wappenschmuck über dem Thorbogen. Burg Castellatsch lag linker Hand davon. Hier war Bürklin vorläufig am Ziele gewesen, bald funkelte der Sassellawein vor ihm im Glase, und das Kellnerbübchen mußte behend zehn Schritt weiter in den Kramladen springen, um für den Signor Dottore ein paar Stangen bunten Gerstenzuckers einzuhandeln. Die sollte Doktor Bürklins Baselgier Liebling, des Holzhauers Per Vian kleine Ghita, heute abend als Geschenk erhalten.

*

Bis hinauf nach Chur und hinunter nach Como kannte man im Volke den deutschen Doktor ebensogut wie Giacomo Fiore, den wortverschwendenden Trientiner Hausierjuden. Nur mit einem kleinen Unterschiede. Giacomo brachte Schätze ins Land und nahm Geld dafür mit, während Bürklin sein gutes Geld ins Engadin trug und allerhand Schätze dafür einsammelte, meist waren es freilich wesenlose Errungenschaften. Sein Streben hieß Originalität in mancherlei Gestalt. Trachten und Gebräuche, Inschrift und Malerei an Haus und Gerät, Sagen und Liederchen, die vom Ahn auf den Enkel gingen, alles dies erfaßte und enträtselte sein Geist mit freudiger Hingabe, wenn auch nicht als ein Berufsstudium.

Er war der einzige Sohn eines süddeutschen Vaters und einer westpreußischen Mutter und stand seit langem allein im Leben. Für gewöhnlich las er an der Dorpater Universität ein sehr nüchternes Kolleg, nur während der drei Ferienmonate, von Anfang August bis Anfang November, lebte er jenem beschaulichen Forschen, zu dem er von Kind auf einen absonderlichen Hang verspürt hatte.

Zwei tieferschütternde Ereignisse zwangen ihn, vor fünfzehn Jahren schon, gewissermaßen in seinen jetzigen trockenen Beruf hinein. Mutter und Braut waren ihm damals kurz nacheinander gestorben, seine beiden Frauenideale, für die er nie wieder Ersatz gesucht, noch gefunden hatte. »Ich muß einen Schutz gegen mich selbst und meinen Schmerz haben,« sagte er sich und rang sich dann mit zäher Willenskraft in der neuerwählten Laufbahn vorwärts, bis er das Ziel innerer Ruhe mühselig erreicht. Er galt in Dorpat für einen kuriosen Heiligen, der mit Liebe und Liebesglück abgeschlossen hatte, während er nichts weiter war, als ein kluger Mann von ernster Innerlichkeit, dem das Gedenken an seine herzenswarme, treue Mutter und der kurze Wonnetraum an der Seite seiner schönen und zärtlichen Braut genug gegeben hatte, um ihm sein einförmiges Leben verklärend zu durchleuchten.

Anspruchslos und thätig verbrachte er seine Tage, aber alljährlich, wenn es auf die wehmütige Herbstzeit zuging, die Zeit, zu der seine beiden Lieben ihm gestorben waren, dann packte ihn stets von neuem die Sehnsucht nach der alten Freiheit und den alten abgeschüttelten Forscherliebhabereien.

Merkwürdig war's, daß er immer wieder seine Schritte zum Engadin lenkte. Wie oft hatte er sich selbst schon verlacht ob »dieses Zaubers Allgewalt,« hatte es mit dem Genfer See, Chamonix und Zermatt, Brunnen und Como versucht, und dennoch – spätestens Mitte September fand er sich regelmäßig auf der kahlen Höhe des Julierpasses ein. Der reine eisige Wind umbrauste ihm die Stirn, vor ihm am Abendhimmel tauchten die stolzen Schneehäupter des Berninastockes auf, eines über das andere getürmt, und in der Tiefe des Innthales, von Sankt Moritz bis hinaus zur Grenze des Bergells, glänzte die entzückende Seenkette, grünlichblau wie Türkis ins Schwarzgrün ihrer Arvenwälder gefaßt. Erst bei diesem unvergleichlichen Anblicke ward Bürklins Herz jedesmal weit und groß, seine Jugend erwachte in ihm, und wie in blauen Duft zerstoben schien die dürre Alltäglichkeit. Zu Fuß wanderte er dann bergab vom Julier, um sich für den Rest seiner Ferien in einer der schönen Seestätten anzusiedeln, in Sankt Moritz-Dorf, Campfèr oder Silvaplana. Schließlich aber trug schon seit drei Jahren das rauhe kleine Nest Sils-Baselgia, dem lieblichen Sils-Maria gegenüber zu Füßen des wild zerklüfteten Piz Lagrev gelagert, Sieg und Preis davon.

Dort steht, am äußersten Ende des Dorfes, wenn man es von der breiten Malojaer Poststraße her betritt, das graue Patrizierhaus, das ehemals den Jostis gehörte, ein solider, viereckiger Kasten, mauerumhegt, mit gebrochenem Dache und krausem Gitterwerk vor den unregelmäßig gestellten Fenstern. Im Hofe eine vielverästelte Eberesche mit blaßrötlichen Beerenbüscheln im Gezweig und daneben eine hohe, buschige Tanne, zu deren Füßen lila und weiße Astern, braune Skabiosen und orangengelbe Afrikanen auf schmaler Rabatte blühen. Eine Doppeltreppe führt zur Eingangsthür empor, und darüber steht eine halbverwitterte Hotelinschrift auf – » vue« endigend. Wind und Regen thaten sehr recht daran, daß sie sich der unpassenden Bezeichnung erbarmten und sie loszubröckeln und hinwegzuwaschen trachteten. Dies Urbild eines verschwiegenen Heims von Geschlecht zu Geschlecht sollte ein Hôtel vorstellen mit all seinen vergänglichen geräuschvollen Zuthaten! Hinter diesen runden Fensterscheiben sollte man sich glattfrisierte Kellnergesichter, aufgebauschte Modedämchen und zechende Herren der Schöpfung denken und eine Table d'hôte mit künstlichen Blumengruppen und Alfenidbestecken in dem niederen, lauschigen Eßzimmer zu ebener Erde, wo die Engadiner Ofenbank zum warmen Mittagsschlafe unwiderstehlich einlud und die Engadiner Wandschränke lauter beneidenswerten Väterhausrat bargen! Ja – Wind und Regen vollbrachten ein gutes Werk, und der jetzige Eigentümer des alten Hauses, ein reicher Mann, dem Sils-Baselgia nicht unterhaltsam genug zum Leben sein mochte, ließ den Dingen ihren Lauf und den unzufriedenen Elementen ihre Kurzweil.

In diesem Patrizierhause hatte Bürklin vor drei Jahren einmal, auf einer Tour von Silvaplana ins Bergell begriffen, Schutz vor plötzlich hereinbrechendem bösen Schneewetter gesucht. Totenstill wie ein verzaubertes Schloß lag das große graue Gebäude, im langen Bogenfenster der massiven Scheune neben dem Haupthause kauerte ein scheckiger Kater und miaute jämmerlich vor Frost. Barry, der schwarz-weiße Berghund im grasbewachsenen Hofe, steckte dem fremden Eindringlinge vertrauensvoll seine naßkalte Nase in die Hand, trabte schweifwedelnd mit und sprang knurrend gegen die Hausthür empor, daß man öffnen solle, denn die Schelle versagte den Dienst. Darauf war drinnen Pantoffelschlurfen hörbar geworden, eine ältliche Beschließerin in Kopftuch und großer Leinenschürze erschien auf der Schwelle, lockte zuerst den scheckigen Kater herein und begrüßte dann freundlich den ganz verschneiten Ankömmling. Hinter ihm warf der heulende Nordsturm die Thür wieder hart ins Schloß, nun saß er fest im Banne der Vergangenheit, die ihn umgab. Durch einen hallenden Flur ward er in das warme Eßzimmer geführt, wo der dreiarmige Hängeleuchter sich im Getäfel spiegeln konnte und zwischen den kleinscheibigen Fenstern die laut pendelnde Uhr im polierten Gehäuse hing.

Draußen tobte und wütete das Unwetter immer wilder, in ganzen Wolken stob der Schnee hernieder, der Wind heulte und pfiff ums Haus, es polterte im Kamin, und die Scheiben klirrten. Kein Gedanke daran, heute abend noch nach Silvaplana zurückzuwandern oder nur zu fahren! Bürklin ergab sich durchaus nicht ungern in diese gezwungene Gefangenschaft. Wie prasselten hier drinnen die Arvenknorren so hell im Ofen, Nonna, die Alte mit der blauen Leinenschürze und dem angehakten Schlüsselbunde, tischte ungefragt eine schmackhafte Abendkost auf und plauderte ein Viertelstündchen, ehrerbietig an der Thür stehend, den Strickstrumpf in Händen, mit dem willkommenen Gaste. Gutmütig forderte er sie zum Niedersitzen auf, aber statt der Antwort schob sie sich ungeschickt seitlings zur Stube hinaus unter dem Vorgeben, das Bett rüsten zu wollen. Zur rechten Zeit war's in schönster Ordnung gewesen, das stattliche Lager mit dem Himmel von vier gewundenen Säulen getragen. Es stand in der tiefen Nische des Zimmers eine Treppe höher, Boas und Ruth, im Rokokokostüm auf das Gobelin der spanischen Wand gezaubert, hielten Wache hinter dem Schlafenden, und mit dessen Taschenuhr tickte der Holzwurm im schwarzbraunen Wandschranke um die Wette.

Am nächsten Morgen aber hatte die Sonne allzu goldig auf den fernen Fexgletscher und den nahen See gestrahlt, und Doktor Bürklin verliebte sich beim hellen Tageslichte noch viel heftiger in das wunderhübsche altmodische Gemach mit seinem Reichtum an bequemen Sesseln und Schemeln, bocksbeinigen Tischen und nachgedunkelten Ölbildern in zopfigen Rahmen. Kurz und gut, für diese Ferien war er nicht mehr aus Baselgia fortgekommen, sondern hatte sich durch Lorenz, den Knecht, Rechnung und Gepäck von Silvaplana herüberholen lassen und sagte erst Mitte November dem Silser-See notgedrungen Lebewohl, als der letzte Gast des Jahres. So, das versprach er Nonna beim Abschiede, gedächte er's fortan immer zu halten, wenn der gute Gott ihn bei Leben und Gesundheit ließe. »Heimat des Friedens,« diesen Namen gab er seinem stillen, herbstlichen Asyle; denn die ehemalige Hotelherrlichkeit war allgemach verblaßt wie der Regenbogen im Gewölle und blieb verblaßt zu Bürklins größter Befriedigung.

*

Nun weilte er seit vierzehn Tagen zum drittenmal in Sils-Baselgia und kehrte eben heute an dem prächtigen Septemberabende von Vicosoprano zurück, wo er auf Burg Castellatsch nach Spuren ihrer einstigen Besitzer, der Prevosti, gesucht hatte. Vergeblich zwar, aber ein paar interessante Wappen- und Sgraffitoschildereien konnte er sich wenigstens von den Häusern des Ortes abzeichnen und sammelte außerdem allerhand wertvolle Notizen für seine Schriftstellerei und einen uralten Volksreim dazu ein. Mit ganz leeren Händen pflegte er niemals von seinen Forschungswanderungen heimzukehren. Im Gehen wiederholte er sich mechanisch, wie es der Ermüdeten Art ist, seine wohlgelungene Übersetzung des Volksreims:

»Streu deine Körnchen getrost ins Getümmel,
Gott läßt sie sammeln und säen im Himmel.«

»Welch ein belehrender Fund,« dachte er bei sich, zog den Vergleich zwischen diesem romanischen und jenem deutschen Sinnspruche, der zu seinen auserwählten Lieblingen gehörte:

»Thust du das Gute, so wirf es ins Meer,
Sehen's die Fische nicht, sieht's doch der Herr.«

So ganz nahmen ihn seine Gedanken hin, daß er wirklich zusammenschrak, als urplötzlich Per Vians fünfjähriges Ghiteli ihm in den Weg sprang. Schon seit mehr als einer Stunde hatte das schwarzäugige kleine Ding wartend auf einem Steinhaufen am Wiesenrain gehockt, den Zeigefinger im roten Mäulchen. Sobald Bürklins Gestalt am Seeufer vor dem Hotel Alpenrose sichtbar wurde, flog die Kleine ihm entgegen wie ein Pfeil vom Bogen geschnellt, hing sich an seinen Rucksack und faßte mit den bunten Zuckerstangen zugleich auch des Spenders freie Hand. Dann hüpfte sie, knuppernd und plaudernd, mit strahlenden Augen neben ihm her, er welschte ihr Halbitalienisch mit ihr, und sein ernsthaftes Gesicht verjüngte sich förmlich dabei.

Das Ghiteli gehörte für ihn zu Baselgia wie der Singvogel in den Wald. Es war mutterlos und trieb sich ohne Aufsicht bald da bald dort herum, fast seit es die winzigen Füßchen allein setzen konnte. Es sah so hübsch und munter, gerade wie seine italienische Mutter, die Giuditta Fanconi aus Chiavenna, die dem Per Vian davongelaufen und in der Fremde gestorben war, als ihr Kindchen noch keine sechs Monate zählte. Das galt seinem Vater als eine wahre Last. Er mußte zum Holzschlagen droben in den Wäldern ob Islas bleiben, und Ghiteli hatte den lieben langen Tag sattsam Zeit und Anlaß, zu Schaden zu kommen und kindische Dummheiten zu begehen. Aber seine Dummheiten ließen sich ertragen und zu Schaden kam es nicht. »Es hat seinen Schutzengel, das verlassene Lamm,« sagten die Dorfleute, und dabei waren sie allesamt unbewußt des armen Waisenkindes beste Schutzengel, namentlich Nonna im Jostihofe, und die hatte dem Signor Dottore gleich am allerersten Abende unter ihrem Dache von Per Vians Ghiteli erzählt. Tags darauf sollte es ihm vorgestellt werden, aber nirgends ließ es sich auftreiben. Da fand es Bürklin selbst und ganz zufällig auf seinem nachmittäglichen Gange nach Chiastè, der waldigen Landzunge, die sich dicht hinter Baselgia weit in den See hinausstreckt. Dort hatte sich's zwischen den Bäumen und dem Felsgerölle verlaufen gehabt. Seine bloßen Füßchen bluteten; es saß teilnahmlos, eiskalt und übermüdet im Grase, und der Wind zauste ihm das weiche Haargeringel. Natürlich hatte Bürklin das zarte Geschöpfchen auf den Arm und mit sich zurück nach Baselgia genommen, Per Vian eine tüchtige Strafpredigt gehalten und sich von nun an mit »Zia Nonna,« wie die Alte im ganzen Dorfe hieß, zum Wohle seines kleinen Findlings verbündet. Seitdem lief das Kind in Hof und Haus ungehindert aus und ein wie ein zahmes Hündchen, vergnügte sich mit Barry, kritzelte, am Herdfeuer kauernd, auf den Trümmern einer Schiefertafel, besuchte sogar hier und da den »Signor Dottore« droben in seiner »schönen Stube« und fand immer einen guten Brocken und einen gesunden Trunk. Per Vian, dem die Vatersorgen, wie gesagt, ungemein lästig fielen, hätte dem Signor Dottore sein mißachtetes Kleinod herzlich gern für eine Handvoll guter Münze abgetreten, aber Bürklin gehörte in diesem Punkte nicht zu den Romantikern. »Mitnehmen und erziehen kann so ein alter Junggesell, wie ich es bin, kein fremdes Kind,« Pflegte er etwaigen leichtverständlichen Vorschlägen des Rabenvaters Per zu entgegnen; »es bleibt am richtigsten hier, wo einmal seine Heimat ist. Dann und wann sorgen fürs Ghiteli – das thu' ich von Herzen gern, obwohl Ihr's nicht verdient. Per Vian! Ihr solltet dem Kinde eine zweite Mutter geben, aber schafft, daß Ihr eine findet, die beständig und verständig ist, so heißt mein Rat!«

Die zweite Frau hatte sich Per Vian nun zwar wirklich ausgesucht, allein des Doktors Rat – der war dabei in den Wind geblasen worden! Im Dorfe schlugen sie die Hände über den Köpfen zusammen: Barbetta Tosio aus Islas hatte er erwählt, die rote Barbetta, Menika Caderas Nichte, eine achtzehnjährige Dirne, und was für eine Dirne!« Die Blicke der Baselgier Fraubasen sagten mehr als die kühnsten Worte, und auf Zia Nonnas runden Wangen brannten rote Flecke, sowie nur die Rede auf Barbetta kam. Ghiteli war der zukünftigen Stiefmutter durchaus nicht gram, obwohl » la mamma mia« viel zu wünschen übrig ließ. Sie pflegte Bürklin mit Vorliebe von ihr zu erzählen, und bei all seinen Bedenken sagte er sich zum Tröste in des Kindes Seele gern, daß es wenigstens keine böse und mürrische Stiefmutter zu fürchten habe.

Morgen sollte das Aufgebot in der Kirche sein, und Klein-Ghita fabelte schon längst von Hochzeit und Hochzeitskuchen.

Für heute jedoch wußte sie ihrem Beschützer nur von einer anderen wichtigen Neuigkeit zu berichten: » Una carozza Signor! Una carozza! Eccola, eccola. Signor! – eccola, la carozza!«

Ja, dort stand die » carozza« wirklich und leibhaftig im Hofe des Jostihauses. Lorenz schnallte eben den Koffer ab, und als Ghiteli davonlief und Bürklin den Korridor durchschritt, eilte Nonna vor ihm her treppauf, frische Bettwäsche und Handtücher über dem Arme tragend. Oben neben Bürklins Zimmer wurden dann Möbel gerückt, und eine fremde Frauenstimme, tief und gedämpft, verhandelte mit Nonnas lebhaftem Diskant.

Neugier plagte Bürklin nicht, Hunger ebensowenig, er hatte sogar noch die Hälfte seiner Reisekost wieder mit heimgebracht. Nur rechtschaffen müde fühlte er sich nach dem starken Marsche.

Draußen verblaßte allmählich das Abendrot. Es streifte das Halbrund des Fexgletschers und zitterte im Seespiegel, daß er schillerte wie ein Opal. Schon begann der kühle Herbstnebel aus den Wassern emporzusteigen. Die Nacht sank rasch herab, nur über den höchsten Berggipfeln, dem Piz Corvatsch und Piz della Margna, flimmerte noch eine kurze Weile kaltes, stahlfarbenes Licht, von dem niemand zu sagen vermochte, woher es stammte.

Steffen Bürklin warf ein frisches Holzscheit in die zusammensinkende Glut des behaglichen, weit vorspringenden Eisenofens, schloß die Fensterläden und zündete die kleine Schirmlampe neben dem Schreibpulte an. Dennoch zögerte er, seine mitgebrachten Schätze zu sichten und genauer zu studieren. Müßig blieb er im Lehnsessel dicht am Feuer sitzen und horchte halb im Traume der fremden Frauenstimme Wand an Wand. Ein Etwas in jener Stimme heimelte ihn an und rief ihm seine Vergangenheit wach, die doch längst unter dem Rasen eingesenkt ruhte. Und wieder und wieder mischten sich in dies träumende Hindämmern die beiden Sprüche, der romanische und der deutsche:

»Streu deine Körnchen getrost ins Getümmel –«
– – – – – – – – – – – – – –
»– sehen's die Fische nicht, sieht's doch der Herr –«

Er schrak auf und setzte sich kerzengerade:

»Wie? – das reimt sich ja gar nicht! Hab' ich denn schon im Schlafe, gesprochen? – das wäre! –

Gottlob, da pochte es an seine Thür; nebenan war's jetzt still geworden, Bürklins Vergangenheit sank in ihr fernes Grab zurück, die Poesie flüchtete, und die wackere Prosa trat in Nonnas behäbiger Gestalt herein, schuldbewußt von heute morgen her, und deshalb mit doppelt gutem Abendessen und außerdem mit einem Herzen voll von Neuigkeiten.

»Nun, soll die heilige Geduld endlich auch einmal ihr Recht haben, Zia Nonna?« empfing er sie und drohte lächelnd mit dem Finger.

Freilich, freilich! 's Recht kommt alleweil und mille perdoni und hundert ›g'segn's Gott‹ dabei!« antwortete sie, deckte den Tisch, trug auf und zögerte noch ein paar Augenblicke hinter Bürklins Stuhl, beide Hände auf die breiten Hüften gesetzt.

»Ei, ei, ei! Und daß mich's heute früh im Kopfe gerissen hat, und ich schlafe hernach nur so weiter wie ein toter Stein, und der Signor Dottore fort ohne seinen Thee! Das vergeb' ich mir nimmermehr! Ich hab mich nur auf Menika Caderas getröstet gehabt, die ist mit der Sonne beim Tagwerk, und die gottverlassene Dirne, die Barbetta, wird wohl den Signor nicht verdrossen haben – denn das läuft zum Holzschlag mit dem Per, ehe der Hahn kräht! Und nun gar zu Abend, als das Ghiteli hereinsaust und reißt mir den Schemel am Herd um und des Katers Milchnapf dazu, und vermeldet mir die fremde Dame im Zweispänner.«

»Wie kommt aber eine einzelne Dame um diese Jahreszeit hierher nach Baselgia?«

»Ei, wie der Signor Dottore daher nach Baselg' gekommen ist, gerade so, nur nicht zu Fuß und im Schnee,« entgegnete Nonna und stellte sich zum besseren Erzählen vor den Tisch. »Zu kalt ist ihr's eben zum Weiterfahren geworden. Sie hat nur so mir nichts dir nichts in die blaue Herrgottswelt hinausgewollt und hat zum Kutscher – der Joseph Pernitsch aus Campfèr ist's gewesen – von Santa Croce drunten bei Chiavenna geredet. Man denke, man denke! Santa Croce, Signor, wo die Öfen zum Zierrat auf Spinnenfüßen in den Stuben stehen, und wer einheizt muß Strafe zahlen, ja, so sagt man! – Nun hat ihr unterweilen unser Haus gefallen, vornehmlich weil's still ist und wohl besser zu einem schweren Herzen passen mag als Santa Croce, wo sie die Schweine auf der Gasse metzgen und die gesegneten Kinder vor den Hausthüren abstrafen, daß es ein Geschrei und ein Geplärr gibt miteinander wie in der Judenschule!«

»Die Fremde ist Witwe?«

»Witwe? Weshalb? Davon hab' ich nichts vernommen. Was mag sie überhaupt sein, Signor, das möcht' ich wohl wissen!«

Sie zog ihr fettiges Notizbuch aus der Schürzentasche und zeigte Bürklin den Namen, den eine fremde Hand auf das letzte Blatt verzeichnet hatte: »Frau Katharine Eschrodt, Danzig.« Weiter nichts – die vier Worte gaben allerdings neugierigen Seelen nur recht skizzenhafte Auskunft. »Also eine gut preußische Landsmännin,« sagte sich Bürklin, und sein Interesse begann sich zu heben.

»Nun hören Sie, Signor, sie schreibt sich Frau und sieht von Gestalt aus wie eine Frau, aber einen Ehering trägt sie nicht, darauf laß ich mich köpfen,« fuhr Nonna fort. »Sie hat ein feines Gesicht und eine gute Stimme, aber sie zieht eine Stirn wie die böse Zeit, und im Bösen möcht' ich just nicht mit ihr über einer Suppe zusammensitzen! – Ich hab' ihr auch das Klavier von unten heraufbringen lassen, weil sie's wünschte,« fügte die Alte ein wenig zögernd hinzu, »und dann hat sie mich gefragt, ob ein Mensch hier etwas dagegen hätte, wenn sie drinnen ihre Musik spielte.«

Bürklin seufzte unhörbar. Mit gelindem Grausen vergegenwärtigte er sich die Harfentöne des hochbetagten Tafelklaviers unten aus dem Eßzimmer. Aber seine Höflichkeit überwand das Grausen.

»Warum soll sie nicht spielen dürfen? Wenn sie nur bis Mitternacht genug davon hat,« entgegnete er. Damit holte er sich sein Paket Zeitungen vom Pulte und löste das Kreuzband, ein Zeichen, daß er nun allein sein wolle.

Nonna verstand den Wink, entfernte sich mit dem Eßgeschirr und verschob all ihre weiteren Anliegen auf passendere Zeit.

Steffen Bürklin begab sich sehr früh zur Ruhe, es war kaum zehn Uhr. In seinen ersten Schlummer mischten sich die schwachen, heiseren Klänge des ehrwürdigen Klaviers im Nebenzimmer. »O, du armer Chopin!« war sein letzter bewußter Gedanke. Noch einmal fuhr er aus dem Schlafe auf: der Deckel des Instrumentes ward sehr unsanft zugeschlagen. Ihm war's, als hörte er noch den halblauten, schmerzlichen Ruf einer Stimme – ein Weilchen horchte er gespannt, aber der Ruf wiederholte sich nicht. Nach und nach überwältigte ihn die Müdigkeit von neuem, und nun blieb alles still bis zum Morgen.


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