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Achtes Kapitel.

Es kam jedoch nicht so rasch zur Ausführung des Atelierprojektes, wie die beiden Feuerköpfe aus der Unterprima gedacht hatten. Vorläufig war der Pfarrhof eine unzugängliche Festung unter Frau Minas und der Diakonissin Befehlen; die Pastorin erholte sich langsam, und um Mitte Februar ward für ihre Abreise in die Kieler Klinik gerüstet, wo man nach einer Operation volle Genesung für sie erhoffte. – Da wurde, eben vor dem Übersiedelungstermin, Frau Mina heimberufen, weil eines ihrer Kinder unter den Anzeichen des Scharlachfiebers erkrankt war, und nun kamen alle die wohlüberlegten Pläne in Verwirrung. Die erste Etage des Gymnasiums ward isoliert; der Direktor zog, um den Unterricht fortsetzen zu können, mit Gerda in drei Stübchen des Erdgeschosses, die beiden jungen Leute sollten mit Sack und Pack zum Pfarrhof hinausziehen, um dort, von Merret Petersen versorgt, ein brüderliches Dasein zu führen. – Nur eine kurze Minute durften sie die Pastorin vor ihrer Abreise sehen. Schwester Ursula führte sie einzeln ins Zimmer, zuerst Kurt, dann Tino, und während der kleinen Audienz blieb sie, geräuschlos umherordnend, in nächster Nähe; denn die ganze Verantwortlichkeit des Reisetages lag auf ihren Schultern. – Die Sache war Kurt etwas unbehaglich. Seine Tante erschien ihm so unglaublich hinfällig, daß er fürchtete, sie unvermutet in Ohnmacht sinken zu sehen. So wünschte er ihr nur alles denkbar Beste und empfahl sich mit Ausdrücken ritterlicher Zärtlichkeit. Sie war entzückt von der Frische seiner Erscheinung und im Gegensatze dazu erschütterte Tinos Eintritt sie weit mehr als gut war. Alle Rücksicht vergessend, warf er sich vor ihr nieder, bedeckte ihre Hände mit Küssen und barg sein Haupt in ihrem Schoße. Sie wollte zu ihm reden, aber ihre sanfte Stimme brach, und Schwester Ursula hatte nichts Eiligeres zu thun, als den ungestümen Ausländer mit einem strengen Blicke ihrer grauen Augen aus dem Zimmer zu weisen. Nun stand er mit Kurt draußen im Garten und hatte nichts gesagt – gar nichts!

»Das ist auch am allerbesten: selbst ist der Mann!« tröstete Kurt, und was blieb Tino zu thun übrig, als sich zu bescheiden?

Dennoch war er ebenso glücklich wie Kurt, als gegen Abend Jens Petersen mit dem Schiebkarren erschien, um das Gepäck der jungen Herren zum Pfarrhof hinauszuschaffen. Frau Mina winkte aus dem Fenster Lebewohl. Abgesehen von der Veranlassung war ihr Tinos Fortgehen eine Erleichterung, und sie würde es freudig begrüßt haben, wenn die Pastorin ihn ihr ganz und gar abgenommen hätte.

Der Direktor gab den Freunden eine Anzahl knappgefaßter Verhaltungsmaßregeln mit auf den Weg, stellte ihnen häufige Revisionsbesuche in Aussicht und gestattete gnädigst, daß Gerda die Scheidenden bis zur Schulhofspforte begleiten durfte.

Sie hing trübselig den Kopf. »Wann werd' ich nun einmal meinen Spaß am Atelier haben!« klagte sie. »Geben Sie auch acht, Kurt, daß Tino sich nicht erkältet, hören Sie?«

»Ja, ja! ich werde Ihnen das Wickelkindchen unversehrt wieder abliefern,« versicherte Kurt, und nun endlich konnte er mit seinem Jonathan von dannen ziehen.

Es war ein stiller, grauer Abend, als die beiden Arm in Arm über die Wiesen dem Pfarrhofe zuwanderten. Das fahle, bereifte Gras knisterte unter ihren Füßen, ein kalter Hauch strich lautlos darüber hin, wie umschleiert dehnte sich das Gelände zum Horizont. Wolken und Krähenschwärme segelten unstät am Himmel von Ost nach West, und träge Regentropfen fielen.

»Richtiges Heimwehwetter!« meinte Kurt und zog Tinos Arm eng an sich. Er dachte an die hellerleuchteten Berliner Straßen zurück, die er nach flüchtig vollbrachter Arbeit so gern durchschlendert hatte, einen gleichgesinnten Klassengenossen zur Seite, in der Westentasche die Spargroschen für irgend ein Bierlokal oder eine entlegene Konditorei, Anlaß zu »Ulk« auf Schritt und Tritt. Und hier ging er durch das öde Heideland, auch mit einem Kameraden, der ihn wohl anzog, ihm aber, trotz aller Freundschaftsgefühle, fremdartig und rätselhaft blieb. Wie abwesend blickte er jetzt wieder vor sich hinaus in die dämmernde Ferne, wie regungslos ruhte seine kühle Hand an Kurts breiter Brust, in der das warme, lebensfrohe Jünglingsherz pochte, sorgenfrei und hoffnungsreich, greifbaren Zielen entgegen.

Auch Tino träumte von daheim, von dem wundervollen Lenze auf den glücklichen Inseln, von Fischfang und Bootfahrt durch blaue, sonnenbeglänzte Flut, die perlend und zischend Kiel und Ruder umschmeichelte. – Wie glänzte des Ruderers Scharlachmütze und sein helles Hemd mit dem vielstreifigen Gürtel – und nun trat drüben auf Paros der schöne Gipfel des Eliasberges violettrötlich hervor. – Licht, Leben, Farbe, köstliche Wärme ringsumher, und aus dem Boote erklang es jauchzend:

» Khére, khére, Elefteria!«
»Freiheit, Freiheit! sei gegrüßt!«

»Und ich war doch nicht glücklich daheim!« sagte Tino plötzlich laut. »Laß es hier düster sein wie das Grab, es wird golden in meiner Seele werden!«

»Hm, ja – neben dem Hühnerwiemen! Wenn du's dort vorerst nur nicht das Gegenteil von ›golden‹ findest!« ernüchterte Kurt und fügte hinzu: »Morgen ist auf alle Fälle Sonntag, da wollen wir arbeiten wie die Schanzgräber, mein Junge, und Mutter Petersen wird feierlichst eingeweiht; denn das Scheuern können wir noblen Primaner unmöglich selbst besorgen. Für Tante Alices Güte, der vollendeten Thatsache gegenüber, bürge ich mit meinem Kopfe und meinem väterlichen Erbe, und famos wäre es doch, wenn ich der Achselträger deiner Berühmtheit würde. So, hier wären wir ja, und nun schleunigst an die Krippe!«

Mit einem Satze waren die vier flinken Füße jenseits der Gartenhecke: denn was sind Pforten und Mauern der elastischen Jugend, die so gern alle Hindernisse überfliegt wie ein gut geschnellter Ball? Im Sturm nahmen sie das alte Haus und den gedeckten Tisch, und Merret Petersen schmunzelte über der großen Pfannkuchenschüssel so breit, als wollte sie sagen: »Auf mich könnt ihr zählen, ich bin in allen Stücken eurer Meinung.«

Der Sonntagmorgen kam mit Sturm und Regen. Der wilde Wind griff an die Scheiben und Ecken des alten Hauses und rüttelte es bis in seine Grundfesten; die rauschenden Wassergüsse machten die langweilige Dachtraufe gesprächig. Im Garten ließen sich die Bäume ihre letzten braunen Blätter, die der Herbst vergessen hatte, von den unwilligen Ästen reißen, und die jungen Keime der ersten Schneeglöckchen froren im nassen Erdreich. Wie weltabgeschieden lag der Pfarrhof! Die Stadt war im Regennebel versunken, die Nebel lasteten auch auf Watt und Deich, und nur dann und wann tauchte der schwarze Halligrücken aus weißem Wogengischt empor.

Den Freunden war dies tolle Unwetter, das ihnen einen ungestörten Arbeitstag verhieß, gerade recht. Tino hatte sich auf Kurts Rat von einem seiner zahlreichen bunten Seidentücher trennen müssen. Er besaß davon in allen Regenbogenfarben und liebte es, die Nüchternheit seiner grauen und braunen Anzüge damit zu umstrahlen. Kurt überreichte der wackeren Merret Petersen die Gabe als eine Zuthat zum Sonntagsputz von seinem Freunde und sich selbst. Dagegen erbäten sie sich die Kofferkammer zur Benutzung für allerhand weltliche, aber durchaus edle Genüsse.

»Denn, liebe Petersen,« sagte er, »wir dürfen doch Frau Pastorin ihre besten Gardinen nicht einräuchern, und was wäre das elende Erdenleben ohne ein bißchen blauen Dunst? Ruiniert wird Ihnen gar nichts, im Gegenteil: wir gehören zum internationalen Verschönerungsverein, und Sie können fragen, wo Sie wollen, ob der etwas anderes als lauter Segen stiftet!«

»Herrje! was geht mich all Ihr gelehrtes Zeug an, Herr Kurt,« endete Frau Petersen den Wortschwall und faltete ihr grünrot schillerndes Seidentuch zusammen. »Wenn Sie mir dreierlei versprechen wollen, so steh' ich Ihnen nicht im Weg. Fürs erste: keine Karten spielen, denn das schickt sich nicht in einem geistlichen Hause, fürs zweite: keine Polterei mit fremden jungen Leuten, fürs dritte: daß Sie mir meine Koffer in Frieden lassen. Und wenn Sie mir das versprechen wollen, na – so können Sie von meinetwegen Ihre Dummheiten angeben.«

Kurt klopfte sie auf die breite Schulter und gelobte so musterhafte Führung, daß kein Küchelchen im Ei gestört werden solle. Schließlich erreichte er's auch noch, daß die brave Seele, dem Sonntag zum Trotz, ihren alten Wolllakenrock überwarf und mit solidem Reinigungsgerät bewaffnet, das Leitertreppchen zur Kofferkammer abermals erklomm, während die Freunde Tinos Koffer auspackten, und ihm die gefüllte Bildermappe nebst allerhand schönem orientalischen Zierat entnahmen.

Jens Petersen mußte allein in die Stadt zur Kirche gehen, »Mannsleute können bei solchem Dreck Schlickstiefel anziehen und die Hosen in die Schäfte stecken,« sagte seine Ehehälfte, »ein Frauenzimmer ist mit Röcken behaftet, und der neumodische Pastor ist das Aufheben gar nicht wert!«

Tino konnte das Ende der Generalreinigung kaum erwarten. Wozu die Spinnweben zerstören, das Öfchen schwarz wichsen und die Dielen scheuern? Gerade die staubigen Fäden vor den Scheiben machten sich malerisch, und das Rostrot des kleinen Ofens hatte so hübsch zum Grau des Fußbodens gestimmt. Die Wände blieben glücklicherweise fleckenschattiert, wie sie gewesen, und zuletzt kam das Ende der Sintflut aus dem Scheuereimer. Frau Petersen ward wieder treppab kommandiert mit dem Bedeuten, durchaus keinen Besuch heraufzuführen, heute nicht und niemals. Falls etwa jemand komme, möge sie unten in der Küche mit dem Besenstiel dreimal gegen die Decke klopfen, sei es aber der Herr Direktor – dann viermal.

»Na, Feuer soll ich doch wohl anlegen müssen,« meinte sie in der Thür, Kurt indessen antwortete:

»Bewahre Gott! wir arbeiten uns siedend heiß; vorläufig bringen Sie nur den Werkzeugkasten, den Leimtiegel mit der Spiritusflamme und gegen elf Uhr ein Paar fette Butterbröte.«

Nun ging's da oben in der Mansarde an ein flottes Schaffen. Tino kehrte eine ganz neue Persönlichkeit heraus. Wie ein Schreiner von Profession bastelte er, bis er sich mit Hilfe einiger alten Leisten und Brettchen ein Ding zusammengezimmert hatte, das einer Staffelei sehr ähnlich sah. Über Frau Petersens altersschwarze Leinentruhe und die beiden blumenbemalten Holzkoffer warf er seine grellfarbigen Tücher und einen maigrünen Kaftan mit Goldstickerei, dem Küchenschemel, der, längst in Ruhestand versetzt, hinter der Thür steckte, ergänzte er das fehlende Bein, holte aus einem Bodenwinkel Stroh zum Sitzpolster und nagelte eine halbe Kamelstasche darüber, die sich unter seinen Schätzen fand. Was er auch angriff, alles hatte Geschick und Geschmack, und als um elf Uhr Frau Petersen mit ihrer Theebrettkante um Einlaß für die bestellten fetten Butterbröte pochte, schlug sie, nach Ablieferung ihrer angenehmen Fracht, vor Erstaunen die Hände über dem Kopfe zusammen.

War das ihre häßliche Rumpelkammer? Dies zierliche Gemach, wo Dutzende von lustigen Bildchen, mit Reißzwecken kreuz und quer an die Wände geheftet, prangten? Wo der Polstersessel vor dem Malgerüste stand, just so, wie unten bei ihrer Frau Pastorin? Sie fuhr mit dem weißen Schürzenzipfel über die Augen und schüttelte den Kopf zu solcher Hexerei von zwei fahrigen jungen Herren. Nein! es ließ sich auch zu schön an! Und gar seidene Decken auf ihren gemeinen Koffern, und um das Fenster schwebte ein Wölkchen von gelbweißem Schleierflor; auf dem Simse ein Thonkrug mit zerbrochener Schnauze, darin ein sonderbarer Strauß: kahle Äste und Tannengrün – ganz regenfrisch. Herr Kurt saß, eine mächtige Cigarre im Munde, auf dem Öfchen, und der Fremde hockte davor, die Beine gekreuzt, einen Fetzen Teppich unter sich. Wie prächtig stand ihm der violette Schlafrock mit blaugrauem Pelz gefüttert und die rote Troddelmütze zu den kohlschwarzen Locken! Er hatte eine kleine Papierrolle zwischen den Zähnen und blies Rauch durch die Nasenlöcher. So etwas sah man ja sonst nur in den Jahrmarktsbuden für Geld, und nun durfte sie sich alles und jedes ganz sinnig und umsonst betrachten. Dann hielt ihr Kurt die zweite Rede an diesem denkwürdigen Tage:

»Sehen Sie, liebe Petersen, so fürstlich kann das hier nun immer bleiben, wenn Sie reinen Mund halten und uns gewähren lassen. Es soll Ihr Schade auch nicht sein, sagt der Jüngling hier, der wie ein übergeschnappter Frosch auf dem Sumpfe sitzt. Unserer Frau Pastorin wollen wir in diesen heiligen Hallen eine liebliche Empfangsüberraschung bereiten, aber Herr und Frau Direktor dürfen beileibe keinen Wind davon bekommen! Denn Frau Direktor ist höchst genau, und Herr Direktor würde für das, was wir in Ehren und Züchten betreiben, einen schrecklichen Namen haben: Allotria! Merken Sie sich dieses Wort, liebe Petersen, und nun wallen Sie Ihres Weges in Frieden. Wenn aber Fräulein Gerda uns einmal besuchen möchte, dann klopfen Sie getrost fünfmal mit dem Besenstiel!«

»Gott behüte uns, Herr Kurt! Das geht ja wie von der Kanzel!« sagte Frau Petersen. »Wie ich an dem jungen Herrn seinem Aufschick merke, soll hier wohl Theater oder sonst 'ne künstliche Handlung verübt werden, und das ist schön und keine Sünde, wenn die Baptisten und andere fromme Leute auch den Mund gestopft voll darüber haben. Aber, mit Verlaub, Herr Kurt – Jens müßte die Anstalt hier auch in Augensicht nehmen, weil er gewissermaßen der einzige Mannsmensch hier im Hause ist. Deshalb geht das nun nicht anders, und Jens redet nur, wenn er gefragt wird, oder wenn ihm das Wasser hoch an den Kragen steigt.«

»Nun, dann rufen Sie ihn meinetwegen, Mutter Petersen, aber vereidigen Sie ihn vorher aufs Hauskreuz,« entgegnete Kurt, und die behäbige Frau holte ihren Gatten, der eben von der Kirche heimkehrte, stehenden Fußes herauf. Er räusperte sich umständlich, wiegte den Kopf und äußerte nur das eine Wort: »Fein!«

Als Kurt ihm eine Cigarre anbot, wies er sie zurück und sagte:

»Nee! – Is nich nödig, jung' Herr. Die Dinger mag ich nich, ich kau' man bloß Priem. Dicht halten thu ich auch ohnedem; denn, was schert mich Mutter ihre Kofferkammer?«

Da erhob sich Tino, goß von seinem heimischen Mastixlikör, dem Raki, in ein silbernes Becherchen, mischte mit Wasser, daß opalisierende Wölkchen aufstiegen, und reichte Jens den Trank. Jens nahm mit Dank an, zog den harzigen Duft durch seine lange Nase ein und bewältigte das Ganze mit einem Riesenschluck bei geschlossenen Augen.

»Fein!« sagte er abermals, schnalzte mit der Zunge und zwinkerte dem Spender listig zu, ehe er wieder treppab stolperte.

»Die beiden hätten wir, Tintoretto!« jubilierte Kurt, und den lieben langen Sonntag schwelgten die guten Kameraden droben neben dem Hühnerwiemen in Einsamkeit, Nichtsthun, Tabaksqualm und »Geschichten aus unserer Jugend.« Regen und Wind musizierten dazu, und die Dachtraufe erzählte ihre thränenreichen Märchen bis spät in die Nacht hinein.


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