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Zehntes Kapitel.

Als Tino nachmittags mit leerem Hefte in der Klasse erschien, hielt ihm der Oberlehrer Fermann eine entrüstete Strafpredigt vor allen Mitschülern. Tino schloß störrisch die Lippen aufeinander, kritzelte mit dem Bleistift von unten gegen die Tischkante und blickte, an dem Zürnenden vorüber, zum Fenster hinaus. Eine eisige Gleichgültigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Er dachte nur an den morgenden Tag und Nicolos Kommen und daran, wie er den zweiten Anfang noch malerischer und reizvoller gestalten könne.

Die Horazische Ode, die übertragen wurde, ging an seinem Ohre vorüber wie Wassermurmeln:

»Gleichmütigen Sinn im Unglück wahre dir,
Im Glück ein Herz vom eitlen Übermut
Der Freude frei!
Bedenke, Dellius,
Auch du mußt sterben –«

Als an ihn die Reihe kam zuckte er flüchtig die Achseln und sagte: »Wozu? – Ich habe nicht präpariert.«

»Sie sollen präpariert, Photinos!« rief der Lehrer, ein kleiner hitziger Mann, schlug mit dem Buchrücken aufs Katheder, und dann vermochte er vor Zorn minutenlang keine Silbe zu reden, als Tino, zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor, antwortete:

»Ich will nicht mehr präparieren, und wenn ich relegiert werde, so hab' ich meinen größten Wunsch erfüllt.«

Fermanns rotes Gesicht ward purpurn; er nahm die Brille ab, und das Buch zitterte in seiner Hand. »An Ihnen werde ich ein Exempel statuieren!« schrie er, schlug abermals mit dem Buchrücken aufs Pult, und während der ganzen Stunde blieb Tino Luft für ihn. Mochte er sich nun gegen die Bank zurücklehnen, die Augen schließen oder kritzeln soviel er wollte!

Über der Klasse lag wie Gewitterschwüle der Eindruck dieser unerhörten Unverschämtheit einem der harmlosesten Pauker gegenüber. An dem Fremdlinge haftete der Reiz der Neuheit schon längst nicht mehr, und deshalb bezeichnten auch nur wenige sein Benehmen mit dem Ehrentitel »forsch«, die Mehrzahl nannte es »schäbig«.

Als die Klasse schloß, ging Tino dem erzürnten Fermann nach, zog den Hut und sagte: »Ich bitte um Vergebung, professeur. Sie persönlich wollte ich nicht beleidigen, ich wünsche nur alles daran zu setzen, um diese Schule möglichst bald zu verlassen, deshalb ersuche ich Sie, mein Vergehen ganz objektiv zu betrachten.«

»Schöne Objektivität das!« brauste Fermann abermals auf. »Sie haben sich schlichtweg flegelhaft benommen, Photinos, und ich kann, trotz Ihrer lahmen Entschuldigung, oder richtiger, gerade infolge derselben, dem Herrn Direktor den heutigen Vorgang nicht verschweigen.«

»So reden Sie – desto besser für mich.« Tino zog zum zweitenmale den Hut und entfernte sich, den Kopf im Nacken. Er sagte sich's ganz klar, daß er vor einer Katastrophe stehe, und es war ihm so unnatürlich ruhig zu Mute, wie dem Soldaten vor der Schlachtlinie. Wie er für seine Sache kämpfte, darüber dachte er nicht nach; es galt Barrikaden zu stürmen und Widersacher zu entwaffnen – was machte es ihm aus, ob er das ritterliche Schwert schwang oder mit dem groben Kolben dreinschlug? Nur zum Ziele! Der entfesselte Dämon in seiner Brust schrie: »Notwehr!« der Zögling des Jesuitenpaters bekannte: »Der Zweck heiligt die Mittel!« – Auch der gewiegteste Menschenkenner hätte zur Zeit nicht vorausahnen können, ob dieser feuerblütige, hartköpfige Jüngling als ein Mann und sieghafter Held aus dem Ringen hervorgehen würde, oder ob er, ein Opfer des Größenwahnes, sein Banner auf die Spitze eines Scheinpalastes pflanzend, mit diesem Palaste zusammenstürzen werde.

Kurt war von Tinos offener Rebellion in der Klasse sehr unbehaglich berührt worden, trotzdem er selbst im Grunde den Freund dazu aufgestachelt hatte. Es ist nun einmal nicht anders im Leben. Theorie und Praxis decken sich nicht immer, namentlich nicht bei jener liebenswürdigen Klasse von Alltagsmenschen, die einen beredten Mund, leichtes Blut und bequeme Existenzbedingungen haben und die obendrein, kraft ihrer Geburtsprivilegien, bei jeder Gelegenheit und jedem entscheidenden Momente ihr » Noblesse oblige!« in den Vordergrund schieben.

»Ich wollte jetzt eigentlich, daß ich dir damals nicht geraten hätte, den Paukern die Bücher an den Kopf zu werfen,« sagte er auf dem Heimwege von der Schule zu seinem Kameraden.

Tino drehte sich scharf herum und blieb vor Kurt stehen. »Bist du mein Freund nicht mehr?« fragte er und heftete, unter zusammengezogenen Brauen, seine Augen auf ihn. Statt der Melancholie brannte ein fremdes Feuer in ihren Tiefen, und der selbstbewußte Junker Kurt deuchte sich plötzlich ganz klein neben dem naxischen Aufwiegler mit der Lateinmappe unter dem Arme. »Bist du mein Freund nicht mehr, dann sage es, und ich helfe mir allein heraus,« wiederholte Tino mit der Herbigkeit eines Menschen, der niemals glänzende Erfahrungen an seinen Mitchristen gemacht hat.

»Wenn du gleich an mir zweifelst, weil ich für alles, was du thust, nicht dieselbe blinde Bewunderung hege, wie für dein Talent, dann kennst du treue deutsche Freundschaft nicht!« entgegnete Kurt, und seine Worte klangen so wahr und freimütig, daß Tino ihm, hinter der Schutzwehr des Heckenweges, beide Arme um den Hals warf, ihn voll Feuer küßte und sagte:

»Ja, du bist der erste Freund, den ich gefunden habe! Durch mein ganzes Leben werde ich dir's danken, wenn du jetzt zu mir stehst. Laß uns einander niemals verlieren!«

Kurt gab den Kuß maßvoll zurück, schüttelte Tinos Rechte desto kräftiger und ging wieder in den lässig-gemütlichen Ton über.

»Sag mal, alter Knabe, wie willst du nun deine Bombe vollends zum Platzen bringen? Da bin ich doch neugierig.«

»Warte nur, warte, bis er zurück ist, der Löwe in der Tretmühle,« erwiderte Tino eifrig. »Dann schlage ich los, und dann geht's mit Evoe in die Wolken hinauf!«

»Sieh zu, wie du das zu stande bekommst!« rief Kurt. »Du bist nur einer gegen das ganze Femgericht!«

»Nein, wir sind zu zweien!« antwortete Tino, drückte Kurts Hand heftig zusammen und blickte ihn durchbohrend, fordernd an.

»Welch ein Fanatiker!« dachte Kurt und reckte seine schmerzenden Finger; dann schlug er Tino derb auf die Achsel und sagte: »Ja, ja, natürlicherweise! Wir sind zu zweien.«

Daheim angelangt, nahm sich Tino aus der Pastorin Bücherschranke einen Band mit Abbildungen römischer und griechischer Antiken, um bis spät abends an den Meisterwerken des Phidias und Agasias zu studieren, während neben ihm Kurt unter Stöhnen und Gähnen seine Horazische Ode zu Ende präparierte.

»Ich bin mit mir zufrieden,« seufzte er erleichtert vor dem Einschlafen.

»Ich noch lange nicht!« sagte Tino, und löschte die Kerze mit dem Wunsche, daß es doch bald wieder Morgen sein möchte.

Der nächste Tag kam, und zur festgesetzten Stunde erschien Nicolo, diesmal satt und schweigsam. Keine Störung unterbrach bis nach ein Uhr die Sitzung. Die zweite Anlage des schönen Knabenkopfes stellte die erste weit in den Schatten, und Tino machte sich mit wachsendem Mute und freudiger Begeisterung ans Durchführen seines Werkes. Die Abbildungen aus der Antike ließ er nicht mehr von sich, und nach der Arbeit verbarg er den Band sorgfältig in der Nebenkammer. Er suchte mit Glück im Spiegel an sich selbst die Folgerichtigkeit der klassischen Plastik zu ergründen und das so Gelernte auf seine Zeichnung zu übertragen. Schließlich saß er ganz verwundert vor seiner eignen Leistung, die jedem Kennerauge schon eine Vorahnung künftigen großen Könnens verraten hätte.

Allein für jetzt folgten nur Kurt und Gerda Tinos Fortschritten mit glühendem Interesse. Gerda hatte sich durch inständige Bitten bewegen lassen, zur Zeit der Sitzungen Nicolos öfter wiederzukommen. Regungslos pflegte sie hinter Tinos Sessel zu stehen und kein Auge von seinem Stifte zu lassen. Hie und da zweifelte sie eine Linie, ein Licht oder einen Schatten an, und ihre Hand wollte sich wie sonst in kindlicher Vertraulichkeit auf die seine legen, damit sie innehalte, aber statt dessen falteten sich ihre Finger lose ineinander, und nur mit gedämpfter Stimme, so daß Nicolo es nicht vernahm, deutete sie ihm den vermeintlichen Fehler an. Er unterdrückte ihr gegenüber jeden Widerspruch. Ihre Nähe that ihm wohl und weh zugleich, die Veränderung ihres Wesens erschien ihm als ein Reiz mehr und erfüllte ihn doch mit Schwermut, der sich die Sehnsucht verband, jene Sehnsucht, die der Willenskraft Sporen an die Füße schnallt und der Zeit Schwingen an die Schultern heften möchte. Immer schöner und klarer ward ihm das kindliche Mädchen die Verkörperung seiner Kunst und seines Hoffens. Kurt verhielt sich von Tag zu Tage ernster. Gewöhnlich kam er mit Gerda und verfolgte kopfschüttelnd Tinos Schaffen.

»Mensch! du bist ja ein Künstler!« sagte er mehr als einmal und fügte entschlossenen Tones hinzu: »Ich helfe dir durch, komme, was wolle!« All sein mutwilliger Witz ließ ihn im Stiche. Dieser Tino, der hier mit glänzenden Augen vor seiner Staffelei saß, ganz Unbegreifliches und doch greifbar Lebendes schaffend, war ein anderer als jener Tino der französischen Karrikaturen und der phantastischen Illustrationsversuche.

Endlich hatte er sein Bild vollendet und triumphierte. Genau zehn Tage waren seit der Abreise des Direktors verflossen, und man erwartete den Gestrengen zurück. Dann würde es einen großen Skandal um Tinos willen in der »heiligen Feme« geben, wie die Schüler das Lehrerkollegium nannten. Tino sagte sich das mit klaren Worten voraus, aber es galt ihm völlig gleich: mochte man doch den unvermeidlichen Karzer durch Nahrungsentziehung oder Verdunkelung schärfer machen! Sein Schmachten hatte er gestillt, und in seiner Seele tagte es!

Während dieser Zeit erhielt er auch seinen Privatwechsel für den April: die letzte Märzwoche neigte sich schon dem Ende zu. Der Oheim fügte dem üblichen Taschengelde noch eine schöne Summe bei, da des Neffen Geburtstag auf den ersten April fiel, und der begleitende Brief war von ungewöhnlicher Wärme und Milde.

»Deine alte Dada Erini,« so schrieb Mavro, »ist mit ihrer jetzigen Gebieterin nach Naxos zurückgekehrt. Gestern besuchte sie mich und fragte mich ganz und gar aus nach dir. ›Was macht Phosmou Tino, mein Lichtchen? Mein Kind, das du in die Fremde hinausgestoßen hast, Kyrie Photinos?‹ Sie wollte sich kaum zufrieden geben, die gute, geschwätzige Dada, und zuletzt, als ich ihr von deinen Studien erzählte, die du hoffentlich mit Eifer betreibst, rief sie ganz aufgeregt: ›So ist er nicht wie sein Vater? So wächst ihm ein Pelz anstatt der Vogelfedern?‹ Sie sendet dir so viel Grüße, wie der Himmel Sterne hat. – Ich aber hoffe, daß Tinomou im neuen Lebensjahre bestimmte Vorsätze faßt und sich endlich klar macht, was er will und soll. Schreibe mir mit Nächstem eingehend über die Zukunftspläne, die unser Freund für dich ins Auge faßt. Mit zwanzig Jahren darfst du dich zu den Männern zählen; mein Haar ergraut und ich möchte deinetwegen außer Sorge sein.«

Angesichts dieses schwerwiegenden Briefes faßte Tino, von Kurt und Gerda dazu ermutigt, den großen Entschluß, seine Zeichnung photographieren zu lassen. Den ersten Abzug sollte Oheim Mavro erhalten, mit einer heißen Bitte an sein Vaterherz; denn als solches hatte es sich doch immer bewährt, trotz seiner Strenge. Und mußte es gegenüber dem klaren Beweise künstlerischen Strebens nicht Einsicht haben? Die drei jungen Augenpaare hingen strahlend am anmutigen Abbilde des Italienerknaben, und Tino meinte, ein seligeres Bewußtsein als diese Wonne am ersten vollendeten Werke, das so lebendig aus dem Hintergrunde kräftiger Strichlagen hervortrat, könne nie wieder durch seine Brust ziehen!

»Ist es möglich, daß man es so viel schöner finden kann als Tantchens Zeichnungen?« fragte Gerda Kurt, als er sie die Treppe hinunter begleitete.

»Genie!« sagte Kurt mit Nachdruck und fügte hinzu: »Lassen Sie ihn nur Ihren Riesenrespekt nicht allzusehr merken, Kleine, das soll nämlich Gift für junge Streber sein und ihr Können zu Boden drücken. Nichts für ungut; denn selbstredend fällt das Lob eines Kameraden weit weniger ins Gewicht als das einer jungen Dame.«

Darauf verabschiedete sich Gerda und ging langsam heim, den Kopf voll aufregender Traumgedanken.

Kurt und Tino rollten unterdes Nicolos Konterfei um einen Stock und trugen es sorgsam in die Süderstraße zu Harms Brodersen, dem Photographen. Harms Brodersen war, trotz seiner altfränkischen Manieren und seines bescheidentlichen Ateliers auch eine Art Künstler in seinem Fache. Sommers verlegte er den Schauplatz seiner Thätigkeit nach den Inselbädern und sandte von dort alljährlich eine Serie reizvoller Momentbilder in den deutschen Kunsthandel hinaus: Marinen, Sonnen- und Mondspiegelung in stiller und bewegter See, die Dünenwelt und das Watt in ihrer ewig wechselnden Gestalt bei Sturm und Ruhe. Winters retouchierte er den Holmswykern schöne Gesichter, verherrlichte die jeweiligen Athleten und Schulreiterinnen des Jahrmarktscirkus und war Busenfreund der höheren Schüler des Gymnasiums. Die Herren Primaner nannte er überhaupt seine besten Kunden; denn dünkten sie sich nicht schon halbwegs Studenten und ließen heimlicherweise zahllose Kneip- und Katerbilder bei ihm anfertigen? Namentlich Junker Kurt und die Zwillingssöhne des Herrn Landrats hatten unerschöpfliche Börsen. Der Naxiote war ihm eine hochinteressante, aber fernstehende Persönlichkeit, und gerade eben hatte er gegen Professor Scherzer, der sich für seine Braut photographieren ließ, geäußert:

»Was der Herr von Fotinnjos schön aus den Schultern 'rauswächst, Herr Professor, 'ne Brust kriegt er auch, und sein Gesicht hat ordentlich 'nen Anstrich, ich weiß nicht wie. Den können Sie, so wie er da ist, getrost aufs Postament von 'nem alten Göttertempel setzen, es glaubt Ihnen jeder.«

Eine halbe Stunde später traten die beiden jungen Leute mit ihrer Rolle bei Brodersen ein, und er wurde höflich ersucht, einen Augenblick mit ihnen in das Privatgemach neben der »Folterkammer« zu treten. Dort enthüllte Tino seine Zeichnung und bestellte eine Kabinettphotographie danach, falls der Kopf sich dazu eigne.

»Au, Donnerwetter! Und ob, Herr von Fotinnjos!« sagte Brodersen und hielt die Zeichnung auf Armslänge von sich ab. »Sie wollen mir doch nicht etwa weißmachen, daß Sie dies – dies Kunstprodukt selber hervorgebracht haben, Herr von Fotinnjos?«

Tino neigte mit ernstem Gesichte den Kopf, der Photograph kniff die Augen zusammen, schob die Unterlippe heraus und setzte den Fuß vor. »Bei Reißner in der Klasse?« fragte er lakonisch.

»I bewahre! Gibt Reißner je etwas anderes als Akanthusblätter und das Danteprofil?« nahm Kurt das Wort. »Nein, dies ist der sogenannte Ausfluß des morgenroten Genius, und daß wir's Ihnen bringen, Brodersen, beweist Ihnen hoffentlich, welch hohen Wert wir Ihrer strengsten Diskretion beimessen. Denn keine Menschenseele darf vorläufig etwas von diesem vielsagenden Geniestreiche erfahren, sonst möchte ein beachtenswerter Gewinn aus dem Glücksrade unserer Zeit verloren gehen.«

Brodersen legte mit pfiffiger Miene den Kopf auf eine Seite und lächelte. »Herr Baron – ich erlaube mir, Ihren kleinen Scherz vollkommen zu verstehen – vollkommen! Ich habe bereits die Ehre gehabt, mehrere Meisterstücke von bedeutenden Herren Kunstmalern – verstehen Sie – zu photographieren und dito unsere Frau Pastorin Breitschwerdt ist öfters so liebenswürdig gewesen. Dennoch halte ich den Kopf des Herrn von Fotinnjos für eine schlechterdings noble Leistung. Das sagt alles, Herr Baron. Dicke Striche und mit dem Finger drübergewischt: so muß man's machen. Nur das Modell berührt mich unangenehm, mit Respekt zu sagen. Diese infame Diebsrange aus der Hafenschenke –«

»Sie lügen! Er stiehlt nicht!« unterbrach Tino entrüstet und nahm dem Photographen seines Lieblings Bild heftig aus der Hand.

»Bitte! bitte höflichst, Herr von Fotinnjos – nur keinen Einriß; der verhunzt uns sogleich die Photographie,« bemerkte Brodersen verbindlichen Tones. »Und was diesen Bengel anbetrifft, Herr von Fotinnjos, so können Sie dem seine abnorme Schlechtigkeit gar nicht ermessen, weil Sie selber in der südlichen Lage zu Haus sind, wo die Korinthen und Rosinen etc. wild wachsen. Da soll wohl jeder sein tägliches Brot auf dem Präsentierteller finden, und das Mausen ist kein Laster! Ähnlich haben Sie den Rangen 'rausgekriegt, auffallend sogar, bloß den Schmutz dürfen Sie dreist noch schwärzer draufreiben. Das ist nämlich nebst dem Altdeutschen das Moderne in unserer neuen Kultur –«

»Besten Dank, Brodersen, thun Sie Ihre Pflicht und versiegeln Sie Ihre Lippen! Sie haben sich ja nun gründlich ausgesprochen,« rief Kurt, und damit gingen die Kameraden von dannen.

»Jetzt mag der Karzer kommen; mein Ehrenfeld liegt nicht mehr im Schulgebiet!« sagte Tino.

Vorläufig schrieb er einen herzlichen und dankbaren Brief an Oheim Mavro, verschob aber die Beantwortung der Zukunftsfrage auf die nächste Post. Damit zugleich gedachte er die Photographie seines Kunstwerkchens heimzusenden.

In jeder stillen Stunde zerbrach er sich den Kopf darüber, welcher Art wohl der Stoß sein möge, mit dem das Schicksal ihn auf die erste Staffel zum Parnaß befördern werde: an ein glattes Beginnen war unter den obwaltenden Verhältnissen nicht zu denken. Im Fieber durchwachte er die Nacht; im Fieber saß er am Samstag Vormittag auf der Schulbank, hörte nichts, lernte nichts, und als ränge er gegen finstere Mächte, setzte er sich jedem Befehle und jedem Tadel mit wilder Heftigkeit zur Wehr. Den Lehrern fiel es auf, daß er krank und verzehrt aussah; sie machten ernste Gesichter, tauschten in der Pause ihre Meinungen über den Fall aus und gestatteten schließlich dem Aufgeregten, vor Schluß die Schule zu verlassen, mit dem guten Rate, sich daheim ruhig niederzulegen und kalte Überschläge auf den Kopf zu machen.

Auf allgemeinen Beschluß hin ging für diesmal der Karzer an Tino Photinos vorüber, und Professor Scherzer, Tychsens Stellvertreter, ließ es bei einem scharfen Verweise bewenden. Er selbst hatte die Fürsprache gethan, nahm sich aber vor, den Direktor, den man am kommenden Mittwoch zurückerwartete, zu einer strengen Untersuchung der Sachlage zu bestimmen.

Er vermochte nicht auszufinden, wo und wie Tino seine Freistunden verbrachte. In keinem der Lokale, die öffentlich und heimlich von den Primanern besucht wurden, kannte man den Namen und die auffallende Persönlichkeit des Griechen, und Kurt beantwortete eine bezügliche Frage ohne Besinnen:

»Wenn irgend einer von uns niemals Allotria treibt, Herr Professor, so ist es Photinos.«

Dennoch mußte Kurt Auskunft geben können. Am Montag entschuldigte er Tinos Fehlen krankheitshalber und verabschiedete sich zugleich, da er Urlaub hatte, um seine Tante aus Kiel heimzuholen.

»So gehen Sie wohl gleich zur Bahn?« fragte Scherzer, als Kurt im Flur seine Reisetasche umhängte. »Gut – warten Sie einen Augenblick; wir haben den gleichen Weg, und ich möchte mit Ihnen noch ein paar Worte über Photinos sprechen.«

Sie schritten schweigend nebeneinander hin, bis sie das Gymnasium und die Hauptstraße im Rücken hatten und in die stille Allee kamen, die das Städtchen umzog und am Bahnhofe ausmündete. Trotz des ersten Lenzmondes war es ein sehr winterlicher Tag; der Schnee lag fest im kahlen Gezweige und die Luft war schwer und eisig, wie gemacht, um ernsten Gedanken nachzuhängen.

»Geben Sie mir den Schlüssel zu Photinos' Charakter, Hallersleben,« nahm der Professor unter den Baumreihen sein Thema wieder auf. »Seit Wochen haben Sie beide zusammen gehaust: Sie sind sein einziger Freund und müssen über die Motive seiner grenzenlosen Arbeitsscheu und Verstocktheit im klaren sein. Er macht den Eindruck eines Geistesabwesenden – Mahnen und Strafen kümmern ihn keinen Deut, und doch spricht aus seinen Augen kein niedriger Sinn: sie blicken verstört, aber nicht bösartig. – (Dies alles selbstverständlich im engsten Vertrauen, Hallersleben.) Teilen Sie mir, bitte, Ihre Beobachtungen mit, um dies Rätsel zu lösen. Ich habe schon mit meinem Bruder gesprochen, ob sich – vielleicht infolge von Heimweh und Klimawechsel – ein Gemütsleiden anbahnen könne. Aus diesem Grunde habe ich auch den Karzer, den Photinos vollauf verdient hätte, hintertrieben und wünsche so dringend Tychsens endliche Rückkunft herbei. Vor allem bin ich froh, daß Sie Ihre Frau Tante heimbringen, Hallersleben, mein Bruder hat mir oft erzählt, wie sie in Wahrheit die Mutter Ihres Freundes geworden sei. Ich interessiere mich aufrichtig für ihn und möchte ihm von Herzen gern helfen. Wollen Sie mein Vertrauen nicht mit gleichem vergelten?«

Kurt ging tiefgesenkten Hauptes neben seinem Lehrer. Das Vertrauen desselben ehrte ihn und schmeichelte seiner persönlichen Eitelkeit; sollte er aber hinterrücks verraten, was sein Freund in undurchdringliches Geheimnis für alle Welt hüllte? Und steckte wirklich hinter des Professors Forderung keine der üblichen Spionagen, die ihren Urquell und Zusammenfluß im Konferenzzimmer hatten? Verstohlen blickte er zu Scherzer empor und begegnete seinem offenen, gewinnenden Auge.

»Gehören Sie auch zu jener Kategorie von Schülern, die den ›Paukern‹ grundsätzlich mißtraut und sie keines persönlichen Interesses für fähig hält?« fragte er. »Beim Großstädter aus der Heimat der Intelligenz hätte ich einen weiteren und freieren Blick vermutet. Noch einmal: ich meine es ehrlich mit Photinos und spreche hier als Mitmensch, nicht als Pauker zu Ihnen, Hallersleben.« Er streckte seine Hand aus und Kurt ergriff und schüttelte sie.

»Ich weiß Ihr Vertrauen sehr zu würdigen, Herr Professor,« sagte er, »aber Photinos hat mein Wort auf Verschwiegenheit, und das kann ich als Kavalier unter keiner Bedingung brechen. Ich muß mich deshalb auf bloße Andeutungen beschränken, die Ihnen jedoch vielleicht genügen und Sie auch aufklären werden, wenn Sie sich wirklich so warm für meinen Freund interessieren, daß Sie ihn fortgesetzt beobachtet haben. Er steht vor einer großen Krisis – er paßt nicht mehr auf die Schulbank!«

»Dahin passen die meisten noch in Photinos' Alter, mein lieber Hallersleben,« entgegnete Scherzer ernst. »Tüchtiges Arbeiten auf geistigem Felde erhöht den Adel jedes – auch des vornehmsten Künstlerberufes.«

»Bei Gott! Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen!« fiel Kurt lebhaft ein und schob in raschem Impulse seine freie Hand unter den Arm des Professors. »Sehen Sie – sieben Jahre lang hat dieser Mensch hoffnungslos für seine Ideale gekämpft – ja, in Kindertagen schon! Nun ist er vertrotzt und zum äußersten entschlossen, zu Giftpfeilen und Tomahawk, wie eine Rothaut. Bedenken Sie dies Leben, das er bis jetzt geführt hat! Er kommt mir vor wie mein Kaninchen zu Hause in Berlin, das ich früher einmal besaß und mit der Hundepeitsche prügelte, weil es kein Fleisch fressen wollte. Wenn Photinos offene Rebellion macht, so tragen zwei die Schuld: sein Onkel und – der Herr Direktor! – Ich spreche natürlich jetzt auch als Mitmensch und nicht als Schüler, Herr Professor.«

Scherzer lächelte unwillkürlich über Kurts Eifer und den Kaninchenvergleich; dann sagte er:

»Weshalb führt Photinos den Kampf versteckt wie ein Franctireur und nicht offen, wie sich's unter anständigen Feinden geziemt? Rücksichten zu üben, deren Zweck man nicht kennt –«

»Verzeihen Sie,« unterbrach Kurt und zog die Uhr, weil der Bahnhof in Sicht kam, »er verlangt durchaus keine Rücksichten. Er wartet nur, bis er in einigen Tagen sein Beweismaterial vollständig in Händen hat; dann wird er vor und mit aller Welt seine Sache ausfechten. Er ist ein schneidiger Kerl – ich stehe durch Wasser und Feuer auf seiner Seite! – Und Sie, Herr Professor?«

»Ich muß mir den Fall überdenken und zurechtlegen, Sie Brausekopf,« erwiderte Scherzer. »Abgesehen von dem Faktum, das ich mir längst klar gemacht habe, daß nämlich an unserem Klassenkreuz ein Kunstjünger hängt, tappe ich im Dunklen wie vorher. Dennoch haben Sie recht: Wortbruch ist ehrlos. Wohl Ihnen, wenn Sie's allezeit so treu beherzigen, wie heute! Einstweilen vergessen Sie Ihren Schnellzug nicht; da läutet's zum erstenmal. Gute Reise, und wenn Sie einer Hilfe für Photinos bedürfen, so kommen Sie unbedenklich zu mir.«

»Famoser Mensch, der Scherzer – aber selbst ist der Mann und dabei bleibe ich!« sagte Kurt vor sich hin, während er eilends zum Billetschalter lief und dann eben noch in den Zug springen konnte, ehe dieser sich in Bewegung setzte.

Scherzer ging auf einem großen Umwege nach Hause. Es schneite wieder in dichten Flocken, er achtete nicht darauf, so sehr beschäftigten die beiden Freunde, die Fremdlinge des Gymnasiums, seine Gedanken. Wie gut hatte ihm heute Kurt gefallen, der Leichtfuß, den es in der Klasse fortwährend zu kecken Streichen prickelte und dem doch kein Lehrer ernstlich zürnen konnte! Der englische Spruch: » blood tells« kam ihm in den Sinn. Wahrlich, aus dem vorlauten Munde hatte eben ein edles Blut gesprochen! Und Tino Photinos? Mußte er trotz aller Gegenzeichen nicht doch dieser warmen Freundschaft wert sein? – Unbedachte Freundschaft pflegt nur an Sonnentagen Stich zu halten.

Er überlegte sich's hin und her, ob er nicht die drohende Katastrophe, zu welcher der Unwille des gesammten Lehrerpersonals der Unterprima Material zusammentrug, abwenden könne, falls er den Sünder selbst zu einem offenen Bekenntnisse und zur Abbitte vor des Direktors Heimkehr vermöge. Würde sich aber der zurückhaltende Fremde dazu verstehen, ihm gegenüber, der sein Interesse bis dahin nur durch die Abwendung des Karzers bethätigt hatte? Es kam auf einen Versuch an.

Er wußte, daß Tino seit dem gestrigen Sonntagabend wieder ins Gymnasium zurückgekehrt war, und dorthin lenkte er seine Schritte. Unterwegs begegnete ihm Gerda, er sprach sie an, und sie sagte ihm, daß Tino mit heftigen Kopfschmerzen das Zimmer hüte, niemanden sehen möge und schwerlich vor einigen Tagen wieder die Klasse besuchen könne.

Als Scherzer dann in die Süderstraße einbog, winkte Brodersen und rief ihm zu: ob er sich sein Probebild nicht einmal ansehen wolle. So trat der Professor einen Augenblick ins Atelier.

»Da haben Sie Ihre werte Person, Herr Professor; recht bestimmt und gemütlich! Fräulein Braut werden höchst angenehm überrascht sein,« sagte der Lichtkünstler, und Scherzer nickte belustigt.

»Nichts Neues auf Lager, lieber Brodersen?« fragte er. »Wie ist es denn mit der Sturmflut-Aufnahme geworden?«

»Dunst für diesmal – es gischte zu stark, und pralle Sonne, Herr Professor,« entgegnete Brodersen. »Ohne Wolkenbildung ist der Effekt nicht glaubhaft für das ungebildete Publikum, und das feine will jetzt nur noch die modernen Meister von der Freiluftrichtung. Das verwetterte Paris muß immer das ›Preh‹ haben. – Ja – Neues hätte ich nichts – allerdings – etwas ganz Rares und Interessantes: es ist zwar gewissermassen ein diskreter Fall – Ehrensache und jugendlich, indessen – Herr Professor teilen meine Bestrebungen stets so hocherfreulich, daß ich durchaus keinen Anstand nehme. – Belieben Sie sich mit mir in die Apparatenkammer zu bemühen?«

Er ging voran, und der Professor folgte in der Erwartung, irgend ein sehr gewagtes Kostümbild der Cirkusdiva zu sehen, die Holmswyk kürzlich zu Begeisterung entflammt hatte. Statt dessen legte Harms Brodersen Tinos Zeichnung auf den Tisch und stellte sich mit der üblichen Weisheitsmiene seitwärts vom Beschauer auf.

»Das ist ja entzückend!« rief Scherzer, und ohne daß er zu fragen brauchte, wußte er, von wessen Hand das kleine Kunstwerk stammte. Der diskrete Brodersen ließ ihn auch keinen Moment in Zweifel über den Urheber.

»Ja – nun denken Sie bloß, Herr Professor, das ist von dem jungen Baron, dem Griechenländer in der Unterprima. Der hat es verfertigt, Herr von Fotinnjos, so mir nichts dir nichts. Ich sage kein Wort – aber – warten Sie nur ab!«

Gern hätte der Professor noch viel eingehender den schönen Kopf betrachtet, aber seine Essensstunde schlug von den Türmen. Seinem geübten Auge entgingen die kleinen Unbeholfenheiten der Technik nicht; als ein Ganzes betrachtet war die Zeichnung jedoch so frei und edel aufgefaßt und vollendet, daß Scherzer sich selbst aus tiefster Überzeugung zurief: »Er muß hinaus in seinen Beruf!«

Morgen sollte ein ernstes und energisches Wort gesprochen werden. Ja, wenn jeder, der seine gute Sache verschiebt, vorher wüßte, was das »Morgen« bringt!


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