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8.

Bürklin ging geradeswegs nach Silvaplana. So oder so mußte er dort Lorenz auffinden. Er kannte Angelo Dorrers Anwesen ganz genau und wollte sich die Auskunft, die Nonna ihm nicht hatte geben können, persönlich einholen. Er verstand sich selber nicht mehr; sein Ich war mit einem gewaltigen Rucke aus den Fugen gerissen. Bis jetzt redete er sich's noch mit ziemlichem Erfolge vor, daß die Peinlichkeit seiner Stellung Frau Katharine gegenüber, sein augenblicklicher Mangel an geistiger Arbeit und körperliches Unbehagen zusammenwirkten, um ihn so elend zu machen.

»Hab' ich erst wieder ausgeschlafen, so ist das alles rasch überwunden und sieht weniger schwarz aus,« tröstete er sich. »Und sie wird sich auch überreden lassen, wieder nach Baselgia zurückzukehren, sie muß doch sehen, daß sich's im Grunde genommen gut und friedfertig mit mir leben läßt,« fügte er hinzu und schritt kräftig aus; denn es ging schon auf zwölf Uhr, und Lorenz mußte sich nun bald auf den Heimweg machen.

Die Sonne brannte vom köstlich blauen Himmel hernieder, aber die Landschaft war spätherbstlich geworden. Alles Laubholz entblättert, die vergilbten Wiesen nicht mehr mit den ultramarinfarbenen Genzianen, sondern mit den letzten, blaßlila Zeitlosen gestickt, über den Gebirgen kühler, tiefvioletter Duft und alle Gipfel mit frischem, blendendem Schnee bedeckt. Die sonst so belebte Landstraße schien ganz verödet, kein Gefährt mit lustig plaudernden und naturschwärmenden Insassen rollte vorüber, kein Malerschirm mir einem skizzierenden, auf unbequemem Feldstühlchen schaukelnden Wesen darunter zeigte sich trotz der zahllosen einladenden Punkte rings im Umkreise. Die Fremdensaison war für dieses Jahr vorüber. In den Silvaplaner Hausgärten sonnte man Betten und klopfte Teppiche; das Hotel Riv'alta und der »Wilde Mann« hatten vor den meisten der Fenster in langer Reihe die Jalousieläden bereits geschlossen. Auf der Gasse spielten und tanzten die Dorfkinder, die niemandem mehr im Wege waren, mitten unter ihnen das Ghiteli in seinen roten Strümpfen, den Lockenkopf sauber gescheitelt, und alle Bänder des blauwollenen Miederchens regelrecht zusammengebunden.

Das Kind sprang mitten aus dem lustigen Ringelreihen mit einem Jubelschrei auf den alten Freund zu und ruhte nicht eher, als bis er, seiner Gewohnheit treu, den Freigebigen gemacht und bei der Kaufmannsfrau gleich drüben eine Riesentüte grell gefärbter Zuckerkugeln für die muntere Schar erstanden hatte. Dennoch empfand er nur eine matte Freude beim Anblicke seines kleinen Lieblings und vergaß vollständig, sich nach Pers und Barbettas neuem Heimwesen am Seeufer umzuschauen, weil dort, bei der Post, der Baselgier Lorenz mit seinem Stuhlwagen gerade um die Ecke bog. Der hintere Sitz war hochgeklappt, um dem mächtigen, fetten Schweine Platz zu schaffen, das Lorenz in Triumph und beglückender Wursthoffnung eingeholt hatte. Angelo Dorrer, der schöne Metzger, stark begehrt von den Silvaplaner Koketten, saß neben dem Knechte.

Lorenz nickte dem Signor Dottore schon von weitem zu und lachte von einem Ohre zum anderen:

» Bun' giurno! ah, ah, Signor, bun' giurno! Das nenn' ich eine Prachtladung! Ein Schweinchen, wie es der Zia Nonna noch nicht in den Hof gebracht worden ist, so fett, so appetitlich! Dieus! wie mir schon der Mund nach dem Speck und der Wurst wässert, Quiet! Dorrer Angelo! schlage nicht auf den Gaul, damit unser Staatstierchen nicht erschrickt und vom Fett einbüßt!«

Angelo lachte schallend auf und tippte Bürklin, der neben dem Wagen stand, mit dem Peitschenstiel an die Schulter:

»Hören Sie den Fresser, Signor Dottore! Zia Nonna mag ihren Rauchfang mit Fußangeln versehen und den Speicher wohl verschließen! Das Schwein ist englische Rasse, Signor, ruhig, gelassen, wie es ihm nach seiner Herkunft zusteht. Die Englesi sind alle nicht anders! So eine noble cretura hat wahrlich Menschenverstand. Das ist viel zu stolz, um Lärm zu machen, wenn's in den Tod geht, Sie dürfen mir's glauben, Signor.«

»Und wir werden dir's leicht machen, mi' porco bellissimo,« fügte Lorenz hinzu und griff hinter sich, um das grunzende Mastvieh zu streicheln. » Piano, piano, Dorrer! sag' ich. Ein Stich oder zwei, und das Messer hübsch scharf dazu, dann hast du's überstanden, mein Tierchen! Darum mußt du dir dein Blut nicht aufregen und uns die Wurst gärend machen! Ah, Signor Dottore,« unterbrach er sich, »wie steht es mir an zu fahren, und Sie gehen zu Fuß daneben! Das vergäbe mir die Zia Nonna nimmermehr, wenn sie's erführe! Belieben Sie doch statt meiner neben Angelo zu sitzen, denn leider – den Herrenplatz hat das Schweinchen für dieses Mal!«

Bürklin mußte lachen, obgleich ihm nicht danach zu Mute war: »Ich danke sehr, Lorenz, unsere Wege trennen sich gleich. Weshalb hast du denn den Stuhlwagen für das Schwein genommen und keinen Karren?«

» Eh Signor, im Karren konnt' ich doch keine Dame fortschaffen, und zwei Fuhrwerke aneinander hängen wie einen Lokomotivzug, das nenn' ich ein Narrenspiel, capito? Zuvörderst mußt' ich die Signora – Sie wissen, die unsrige – nach Platta bringen, und dann erst durft' ich an mein Vergnügen mit dem Schweinchen denken.«

»Nach Platta, sagst du, ist die Dame gefahren? Wann sollst du sie wieder abholen von dort?«

»Abholen? Non so! Wie kann ich das wissen? Dafür möge Teresina Rizzi sorgen, die ihr das beste Zimmer im Hause vermietet hat. Ruhig, Angelo! Wie kann ich mit dem Signor sprechen, wenn du den Gaul neckst und uns das Schweinchen aus seiner Ruhe störst? Wir beide können nicht zugleich reden, eh porcello? Ja, wie gesagt, mit Sack und Pack hab' ich die Signora zu Teresina Rizzi fahren müssen.«

»Und wirklich gemietet hat sie dort?«

» È cosi! cosi! Da bleibt sie nun, solange es Gott und ihr selber gefällt. Mich hat's zwar verdrossen, daß ihr Platta, wo alle vier Winde zugleich blasen und nichts ist, damit man sich belustigen kann, besser behagt als Baselg' – aber was geht's mich an? Solang' Zia Nonna ihren Zorn darüber nicht an mir oder gar an dem unschuldigen Tiere hinter mir ausläßt, wächst mir darob kein graues Haar! – Ja, ja, Angelo! Ich höre! Wir müssen uns eilen, und da der Signor uns doch nicht die Ehre anthun will aufzusteigen, so magst du den Gaul ein wenig antreiben. Da pasch porcellino, da pasch! so gib Frieden, mein Tierchen, und bun di, Signor!«

Somit rollte das Gefährt rasch von. dannen. Ein Weilchen hörte man noch des Tieres Schreien und Grunzen, Lorenz' liebevollen Zuspruch und des schönen Angelo Lachen und Peitschenschnalzen; dann kam die Wegbiegung, und das letzte Zipfelchen von Angelos rotweißem Metzgerkittel verschwand.

Bürklin kehrte um; denn er wollte die breite Fahrstraße vermeiden und ganz einsam mit seinen Gedanken wandern. Deshalb ging er gleich seitab zwischen den Silvaplaner Häusern durch, über sumpfigen Wiesenboden hin und ließ Surlej, das zerstörte Dorf, dessen weißliche Trümmer weithin sichtbar sind, zur Linken liegen, um möglichst rasch in den bergenden Wald zu gelangen. Ihm war's, als könnte er heute den Anblick der Dorfruinen, mit ihren Nesseln und Wucherblumen zwischen wirrem Gestein, nicht ertragen, als sei ihm selbst ein schönes Bauwerk in Trümmer gestürzt, zu dem sein Herz Stein an Stein gefügt.

Endlich hatte er den Waldweg erklommen. Überall hüpften und tollten aus engen Schluchten hervor die schäumenden Bergbäche und Gerinnsel über den Pfad und tanzten eilig zum lächelnd schönen, bläulichen See weiter. Überall duftete es würzig nach Harz und Kräutern, der Windhauch spielte mit den langen, eisgrauen Moosbärten der ehrwürdigen Arven, und deren gedrungene Zapfen lagen hier und dort unter den tiefhängenden Zweigen. Pfeilgeschwind huschte ein Eichhorn am nächsten Stamme nieder, um nach den öligen Nüßchen zwischen den starren Schuppen der Zapfen zu suchen. Es war ein allerliebstes Tierchen von der schwarzbraunen Art; ängstlich äugte es zu dem Wanderer hinüber, aufrecht sitzend, seinen Leckerbissen zwischen den Vorderpfoten.

Aber der Wanderer beachtete es nicht; er folgte rasch, immer nur vorwärts schauend, den Biegungen des Weges und lenkte dann unweit Sils-Maria in ein schmales Tobel ein, das ihn, in gerader Richtung durchschneidend, seinem Ziele schneller entgegenbrachte als die allgemein begangene Straße durch das Dorf.

Endlich war Platta erreicht. Fast genau das nämliche Bild wie gestern bot sich dem Auge des Kommenden dar, nur daß jetzt die Morgensonne strahlte und deshalb das alte Haus vorn an der Straße im Schatten lag. Wieder lehnte Signora Teresina gegen den Thürpfosten und ließ die Spindel tanzen; das älteste ihrer Kinder, ein vierzehnjähriges Mädchen, schlank und sinnig von Ausdruck, hielt das »Bambino« auf dem Arme, ein reizendes Püppchen, das den schönsten Raffaelschen Jesuskindern glich; die übrigen Kleinen hockten, dicht aneinander gedrängt, auf dem kurzen Rasen der Berghalde und spielten mit ihrem zahmen Murmeltiere, das sich aufrecht setzen und betteln konnte und das Futter aus den braunen, eifrig hingestreckten Händchen nahm.

Es war ein prächtiges Bild: die lebhaften Kinder, lauter schwarze Lockenköpfe mit brennenden Augensternen, von ihrem Spiele gefesselt, und die Mutter in ihrer Witwentracht und der edlen, ungezwungenen Stellung an der rotbraunen Thür, in der Hand die graziöse Spindel, den Rocken im Arm, die sanften, ruhigen Augen ins Weite gerichtet.

Als sie Steffen Bürklin erkannte, rief sie eins der Kinder aus dem Kreise um das Murmeltier zu sich, hieß es Spindel und Rocken ins Haus tragen und ging dann auf Bürklin zu, als wüßte sie bereits, was er suchte.

»Die Signora ist fortgegangen, nach Curtins hinauf,« sagte sie, und da Bürklin sich anschickte, stehenden Fußes weiter zu wandern, hielt sie ihn einen Augenblick zurück, winkte ihn in den Hausflur und schloß die Thür hinter sich, der neugierigen Kinder wegen.

»Ich habe zwei Wörtchen mit Ihnen zu reden, Signor. Was ist es mit der Dame?« fragte sie. »Ich kann es nicht klar in meinen Kopf bekommen. Sie fährt mir heute früh vors Haus und hat eine Miene, als säße ihr der Tod im Herzen, und liegt mir mit aller Macht an, ich solle ihr ein Zimmer oder doch nur ein Kämmerchen vermieten. Sie sei fertig mit der Welt und wolle hier oben ganz in der Einsamkeit verbleiben. So wenigstens hab' ich mir ihre Worte gedeutet, Signor, denn ich kenne nur ein Geringes vom Italienisch, wie man es in der Fremde auf den Schulen lernt. So rede ich nun hin und her, denn ich habe es gottlob nicht nötig, des Gewinstes wegen Leute in mein Haus zu nehmen, aber sie bittet und fleht; sie sei von allen verlassen; sie wolle einen hohen Preis zahlen und unsere Kost teilen und keiner Seele beschwerlich fallen.

»Da hab' ich denn gefordert, was anständig ist zu fordern, und sie geht gleich in ihr Zimmer – das alte, große hier zur Rechten, Signor – und riegelt sich ein. Heiliger Herr des Himmels! denk' ich bei mir, sie wird es doch nicht etwa so machen wie der Inglese letztes Jahr zu Castasegna unserm Padrone gethan hat? Der hatte sich nämlich auch eingeriegelt und sich darauf eine Kugel durch den Kopf geschossen – denken Sie das Unglück für unsern Padrone, Signor. Nun – es wird mir's keiner verargen, daß ich mich nah' der Thür gehalten und gelauscht habe, um rasch zur Hand zu sein im Falle der Not. Und da, Signor, hat sie wohl eine Stunde lang laut geweint und vor sich hin geredet – verstanden hab' ich freilich kein Sterbenswort – bis sie zuletzt das Fenster öffnet und etwas hinauswirft. Das sollte wohl in den tiefen Quellbrunnen dort drüben fallen und in Ewigkeit verschwinden, aber Gott fügt, daß es nur gegen den Randstein klingt und bleibt am Boden liegen. Zuerst geb' ich nicht weiter acht darauf, denn die Signora ist zu mir in den Flur gekommen, hat mich angesprochen und mir gesagt, sie gehe nun ein wenig ins Fexthal, und in der Villa Philipp werde sie Mittag machen. Sehr blaß und sehr verweint sah sie aus, Signor, und die Kniee haben sicher gewankt unter ihr, und dennoch ist sie gegangen. Als ich aber hernach ums Haus zum Quellbrunnen gehen und sehen will, was sie zuvor durchs Fenster von sich gethan hat im Zorn, da find' ich den Ehering hier und ich denke: gib ihn dem Signor, wenn er seine Frau suchen kommt. Und da ist er!«

»Wir sind nicht Mann und Frau,« entgegnete Bürklin mit bedeckter Stimme. »Aber den Ring nehm' ich an mich und will ihn ihr wieder auf den Finger schaffen, so wahr mir Gott hilft. Seien Sie gut und freundlich mit der armen Seele, Signora Rizzi; es muß bald anders mit ihr werden, und sie wird Ihnen nicht lange im Hause zur Last sein, lassen Sie mich sorgen; denn ich verstehe nur allzu gut, wie schwer dies alles Sie beängstigt. Und damit muß ich auf und davon gehen – addio, Signora Rizzi! In Curtins also finde ich sie zuverlässig?«

»Beileibe nicht, Signor! Spüren Sie ihr nicht nach!« rief Frau Teresina erschrocken. »Streng verboten hat sie mir's. Ihnen zu verraten, daß sie hier sei – dem Lorenz aus Baselg' ist das nämliche von ihr anbefohlen –«

»Und daß der Lorenz geplaudert hat, ist nicht Ihre Schuld, mia cara,« entgegnete Bürklin. »Nochmals: haben Sie Geduld und Nachsicht. Sie wissen es ja selbst am besten, wie todunglücklich der Mensch werden kann, und wie doch aus eigener Kraft und mit liebreicher Hilfe endlich seine verlorene Ruhe wiederfindet, so oder so. Man muß es nur gelassen abwarten. Hab' ich nicht recht?«

È cosi, Signor – grazie!« sagte sie ernst und blickte nieder auf ihr Trauerkleid. »Ich werde Ihren klugen Rat befolgen, und möge Gott dann das Seinige dazu thun.«

Bürklin trat seinen Gang mit ungewohnter Hast an. Immer heftiger stritten die widerspruchsvollsten Gefühle um den Besitz seiner Seele. Der Trauring seiner armen, leidenschaftverblendeten Freundin schien ihm durch die Brusttasche bis ins tiefste Herz hinein zu brennen. Alles, was ihm Signora Rizzi eben mitgeteilt hatte, beängstigte auch ihn namenlos, so sehr er sich der Erzählerin gegenüber mit Ruhe gewappnet hatte. Er schaute angestrengt spähend um sich und suchte die geliebte Gestalt zwischen den finsteren Schroffen und Zacken dieser wilden Felsenwelt; jedes winzige schwarze Fleckchen, fern auf dem Eise des Fexgletschers, machte ihn erzittern; denn dunkel stieg das Gespenst der Gefahr vor seinem geistigen Auge empor und wuchs mit jedem Schritte, den er vorwärts eilte. Wie, wenn sie ihr Leben in einer grausigen Verzweiflungsthat geendet hätte, und er konnte es nicht hindern, er, der Gut und Blut gern für sie hingeben wollte! Mit einem Zauberschlage ward ihm die Riesenmacht seiner Neigung zu ihr, der Frau des anderen, klar, die ihm nicht angehören durfte. Vergessen, was er an ihr gerügt und gerichtet, gestern noch, vergessen seine toten Ideale über dem heiß pulsierenden Leben! Liebe, die allgewaltige, setzte den Fuß auf sein Herz und unterjochte es; sie zog ihren Schleier, der aus Rätseln gewoben ist, vor die Vergangenheit des Mannes und sprach ihr befehlendes: »Weichet zurück von ihm, ihr Schatten!«

Und sie wichen zurück von ihm! Nur noch ein Ziel kannte seine Sehnsucht, und das lag ihm näher als er ahnte.

Wie aus dem Boden herausgewachsen stand sie, die er in Schmerzen suchte, plötzlich vor ihm. Sie trat um die Felsecke, die sich zwischen Platta und Curtins in den Fußpfad schiebt, und in deren Schutz während des Frühsommers die reizendsten Kinder der Alpenflora gedeihen. Schreckhaft, wie ihre aufgeregten Nerven sie gemacht hatten, war sie von ihrem Ruheplatze hinter dem Felsen aufgesprungen, sobald ihr Ohr die nahenden Schritte vernahm.

Als sie Steffen Bürklin erkannte, wendete sie sich rückwärts, als müsse sie ihm entlaufen. Er aber stürzte halb besinnungslos auf sie zu und wäre um ein Haar vor ihr in die Kniee gebrochen. »Katharine! Katharine! Das konnten Sie mir anthun!« schrie er laut, und es klang wie ein Schluchzen zwischen seinen Worten, obgleich er ihr trockenen Auges ins Gesicht blickte. Heftig bemächtigte er sich ihrer widerstrebenden Hand, drückte sie gegen seine Brust und seine Wange, und erst die Eiseskälte der bebenden, sich wehrenden Finger brachte ihn wieder zur Besinnung.

»Vergeben Sie! Um Gott – tragen Sie mir's nicht nach!« bat er, und sie starrte ihn an wie versteinert. Nicht mehr dieselbe von gestern abend erschien sie ihm. Ihr Antlitz war über Nacht alt geworden, die Mundwinkel tief herabgezogen, die Wangen so bleich wie die Lippen, unter den Augen dunkle Schatten. Der steingraue Mantel, den sie trotz der Mittagshitze trug, erhöhte im Vereine mit dem schwarzen Schleier, der statt des Hutes über das blonde Haar gelegt und unter dem Kinne verschlungen war, den Eindruck des Farblosen, Toten.

»Was wagen Sie zu thun? Warum folgen Sie mir? Ich will allein bleiben!« rief sie, als er ihre Hand freigab. »Derjenige, dem man kein Lebewohl gönnt, hat auch kein Wiedersehen zu suchen!«

Bürklin mußte ein paarmal rasch aufatmen, ehe er im stande war, sich zu fassen und zu antworten.

Die Landstraße ist frei für jedermann, gnädige Frau – und nochmals – vergeben Sie mir – die Angst um Sie hat mich von Sinnen gebracht! Ich könnte Ihnen vorreden, daß ich nur auf einem meiner gewöhnlichen Spaziergänge begriffen sei, aber zu lügen vermag ich nicht. Ich kam Ihretwegen, Lorenz hat mir Ihren Aufenthalt verraten müssen. Nach allem, was wir gestern miteinander gesprochen haben, ich Sie unmöglich allein und leidend hier wissen.«

»Ich will allein sein!« wiederholte sie. »Bis ins innerste Herz haben Sie mich verwundet!« Ihre Augen füllten sich mit Thränen, und sie nagte an ihrer Unterlippe. »Sie sagten selbst, daß Sie für mich und meine Handlungsweise niemals Verständnis haben werden – nun lassen Sie mich wenigstens in Frieden! Ich fühle mich krank seit gestern, ja, ich bin unbeschreiblich elend, und ich bedarf der Einsamkeit, um mit mir selbst fertig zu werden. Nein! Nichts von der Zukunft!« schnitt sie ihm das Wort ab, »die Zukunft ist leer, von einem Tage lebe ich hoffnungslos zum andern, und Gott mag wissen, wie es enden wird! Bemitleiden Sie mich nicht – ich kann, was ich will, und ich will das Vergessen lernen!«

»Sie lernen es nie und nimmer!« rief er aus und fügte hinzu: »Es ist mir furchtbar, so von Ihnen scheiden zu sollen – ich frage und frage mich, ob ich zu hart war gestern abend; mein halbes Leben gäbe ich darum, könnte ich mir selbst mit gutem Gewissen »ja« antworten – aber es bleibt stumm in mir! Stumm – obwohl Sie mir teuerer sind –«

»Sparen Sie sich lieber den Schluß. Das, was Sie meine ›Schuld‹ nennen, steht zwischen unserer Freundschaft,« unterbrach Sie ihn bitter. »Beweisen Sie mir glaubhaft, daß es eine ›Schuld‹ ist, und ich will Ihnen auf den Knien für das Ende meiner Qual danken!«

Da ging ein plötzliches Leuchten über sein Gesicht, und alle die Züge fortreißender Leidenschaft glätteten sich aus. »Die Zeit wird Sie erkennen lehren, ich baue fest auf die Zeit und auf das Edle in Ihnen,« sagte er tiefbewegt. »So will ich Ihnen jetzt Lebewohl sagen, weil Sie es fordern. Wollen Sie mir erlauben, dann und wann im Vorbeikommen nach Ihnen zu sehen? Sie wissen, das Fexthal ist mein liebster und häufigster Spaziergang von Baselgia aus.«

Sie blickte ihn mit einem rätselhaften Ausdrucke an – Wunsch und Kampf lagen darin vereint. Ihre blassen Wangen röteten sich jäh und erbleichten dann wieder; endlich sagte sie langsam:

»Nein! Sie sollen nicht nach mir sehen! Sie werden zwar meine Gründe wieder nicht billigen und mich noch härter beurteilen meiner Gefühllosigkeit wegen, die Ihnen Ihre Wärme schlecht vergilt. Allein ich bin ebenso ehrlich wie Sie, und deshalb spreche ich ohne jeden Rückhalt, mag mir's auch bitter schwer fallen. Ich bin es zu wenig gewohnt, ohne Sorge und Liebe zu leben, und ich sehne mich manchmal so brennend nach all der Liebe zurück, die ich einst besessen und nun auf immer verloren habe – daß ich – daß ich fürchte – nein, ersparen Sie mir's, zu vollenden,« bat sie und blickte Steffen Bürklin abermals mit dem seltsamen Ausdrucke an. »Sie sind trotz aller Härte und trotzdem, daß ich gestern im Zorne das Gegenteil behauptete, doch voll wahrer Güte gegen mich – ich fühle es viel tiefer als Sie mir zutrauen mögen, ach, und die Sehnsucht in uns Menschen wächst von Tag zu Tag, wenn sie einmal in uns aufgewacht ist. Ihre Güte würde auch wachsen, und denken Sie, o denken Sie, wenn ich je etwas dächte oder spräche, oder gar thäte, was ich vor Viktor nicht verantworten könnte? Unsere Ehe ist ja zerrissen, und dennoch – dennoch!« Sie hielt inne und sah mit thränenschweren Augen zu Bürklin auf, bis ihr die großen Tropfen über die Wangen rollten.

Der Atem stockte ihm, und es brauste ihm vor den Ohren. »An mein Herz!« rief eine durchdringende Stimme zwischen das Brausen hinein, aber eine heilige Macht gebot der Stimme Schweigen, ehe sie ihren Ruf vollendet hatte; die Achtung vor der Frau war's, die, ihrer Schuld unbeschadet, einen guten Kampf siegreich kämpfte. »Sehen Sie, so steht es um mich,« fuhr sie fort, »und deshalb bin ich besser allein. Damit leben Sie wohl – fürs erste bleibe ich still in Platta, und ehe ich diese Gegend ganz verlasse, sehen wir uns noch einmal in Baselgia zum Abschied. Mein Gepäck ist dort zurückgeblieben. Adieu denn und versuchen Sie, nicht noch schlechter von mir zu denken, als vorher!«

Statt der Entgegnung beugte er sich wortlos über ihre Hand und küßte dieselbe ehrerbietig. Dann, von einem Impulse getrieben, hielt er sie fest, griff mit der freien Linken in seine Brusttasche, und einen Moment später hatte er Katharinens verschmähten Trauring an seinen rechtmäßigen Platz auf den Ringfinger geschoben.

»Werfen Sie ihn nicht wieder von sich! – Niemand spielt ungestraft mit Gottes Sakrament!« sagte er, seine Aufregung mühselig niederzwingend, und drückte dabei Katharinens Hand so gewaltsam, daß der Ring ihr ins Fleisch schnitt und sie vor Schmerz hätte aufschreien mögen. Dann verließ er sie, noch mitten im Wege stehend, lüftete grüßend den Hut und wendete sich zurück gegen Platta hinunter. Ehe er jedoch das Dorf erreichte, bog er, jenseits des Kirchleins Crasta auf der Höhe, in den steilen Felsenpfad ein, der empor nach Muott'ota führt und sich von dort ins Val Fedoz abwärts schluchtet.

Als Steffen Bürklin sie verlassen hatte, kam ein Gefühl von erstickender Demütigung über Frau Katharinens Seele. Sie schlich wie gelähmt in ihr Versteck hinter dem vorspringenden Felsen zurück, setzte sich dort auf den kurzen Rasen, faltete die Hände ums Knie und blieb stundenlang in dieser zusammengekauerten Stellung, ohne an Mittagbrot oder Heimkehr nach Platta zu denken, ja fast ohne sich zu regen.

Gott allein weiß, was sie dachte, welche Bilder an ihrem Inneren vorüberzogen, während sie den goldenen Ring an ihrem Finger betrachtete, der die Sonnenstrahlen einfing und weiterblitzen ließ. Magnetisch bannte dies Lichtspiel ihren träumenden Blick an sein Gefunkel. Nochmals ein vermessenes Thun mit diesem Ringe zu treiben, sie hätte es nie gewagt auch ohne den leisesten Hang zum Aberglauben. Es gibt unerklärbare Eindrücke und dunkle Mächte, die uns Menschen zum blinden Gehorsam zwingen. So auch in Frau Katharinens Lage. Ihr Ring war wieder da, und nach dem »Wie« fragte sie nicht. Er machte sie von neuem vor ihr selbst zur Frau – nicht zur geschiedenen, sondern zur unlöslich gebundenen. Trotz der Trennung gebunden an ihn, dessen Name im Ringe geschrieben stand, zusammen mit dem Datum des Tages, der sie vor zehn Jahren zur glückseligen Braut gemacht hatte.

»Hole mich heim – ich finde den Weg nicht!« sprach es als Endpunkt aller Gedanken in ihr, und daneben tönten ohne Unterlaß Bürklins Worte: »Wehe den Fahnenflüchtigen! – Nur über Canossa geht der Weg in die Heimat zurück.« Schon als Kind war ihr das Abbitten immer so schwer geworden, und jetzt sah sie sich durch eine Ideenverkettung im Hofe ihres eigenen hübschen Hauses, daheim in der Langgartener Vorstadt stehen, der Schnee lag hoch, die Fenster, zu denen sie emporblickte, waren vereist. Da meinte sie plötzlich des Gatten Stimme zu vernehmen, zwei-, dreimal rasch hintereinander rief er ihren Namen. Sie wußte nicht, ob sie hier in der Bergeinsamkeit geschlafen und lebhaft geträumt, oder ob die allzeit geschäftige Phantasie ihr den Streich gespielt hatte.

Ein Grauen überfiel sie in der stummen Öde, sie sprang auf, raffte Handschuhe und Plaid vom Boden und lief wie gejagt nach Platta zurück. Dort warf sie sich erhitzt auf ihr Bett und schlief stundenlang. Abends aber saß sie, ein schweigender Gast, in Frau Teresinas warmer Herdecke auf der Polsterbank; sie konnte unmöglich allein sein mit ihrer Furcht vor der rufenden, heimatlichen Stimme!


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