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Zwölftes Kapitel.

Tychsen wanderte unterdes verdrossen dem Pfarrhofe zu. Das abscheuliche Wetter mit Flockengewirbel und Sturmgeheul paßte so recht zu seiner Stimmung. Sein stolzes blondes Gesicht zeigte die tiefste Unmutsfalte über der Nasenwurzel, und um seinen Mund lag ein sehr fataler Zug. Er hielt den mächtigen, in Seidenpapier gehüllten Strauß von Rosen und Veilchen wie eine Keule vor sich in der Hand, und seine Gedanken, die sich eigentlich mit einem zierlichen Begrüßungsgedicht für die verehrte Freundin beschäftigen wollten, fanden sich durch Fermanns Dazwischenkunft aus den Himmeln der Poesie rauh ins Fegfeuer der Schulstrafen hinabgerissen, und mitten in der bösen Glut stand Tino Photinos. Dazu steckte in seiner Brusttasche noch Freund Mavros letzter Brief mit der inhaltsschweren Frage:

»Wie kommt es, daß Antinoos seit einiger Zeit so selbständig schreibt, als stehe nicht uns, sondern ihm die Lenkung seines Thuns und Lassens zu?«

Wagte etwa hinter dieser Mauer von Starrsinn irgend ein aufrührerischer Funke sich langsam zur Flamme durchzuglimmen?

Vor der Gartenpforte des Pfarrhofes türmte sich eine Schneebarrikade, deren Fortschaffung Jens Petersen sich für den Nachmittag aufgespart hatte, so mußte der Direktor sich zum Umwege über den Hof bequemen. Merret brachte ihm ein Blumenglas mit Wasser für den Strauß, kehrte eilends zu ihrer Sandtorte in der Rührschüssel zurück, und dann verfaßte der Direktor, im trauten Zimmer am Schreibtisch sitzend, einen kurzen ungereimten Gruß für Frau Alice. Die ganze Anmut ihres Daheims fiel ihm, erregten Gemütes, wie er ohnehin war, heute doppelt auf im Gegensätze zu der etwas kühlen und prunkhaften Eleganz seines eignen Hauses. Hier schufen bequeme Möbel im Verein mit viel lebendem Grün und wenig auserlesenen Kunstwerken die wohlthuendste Harmonie.

Weder Öldruckbilder noch wohlfeile Lithographien machten sich breit; ein paar seltene alte Kupfer voll Dürers und Holbeins Nadel und eine wundersame Courtoissche Madonna nach dem Originale des letzten Pariser Salons, so unfranzösisch wie möglich in ihrer ernsten, heiligen Schönheit – das war alles, und die frischgrünen Blattgewächse hinter dem Ruhebette beschatteten das weiche, gesenkte Antlitz des Eros.

»Hier ist er mir rebellisch geworden, der Naxiote,« sprach Tychsen vor sich hin, »hier habe ich ihn ungehindert schwärmen lassen, angesichts dieses verliebten Schwärmers!« – er deutete wegwerfend zu dem Eros unter Palmen hinüber, »und vor der Madonna hat er sich in den Kultus der Frau verloren, die mit der Madonna ihr eigenes Bild an die Wand gehängt hat. Dies hätte ich ahnen und bedenken müssen, ehe Photinos' Epistel mir die Augen öffnete. Ah bah! Noch ist nichts verloren – ich will einen neuen Anlauf machen, und mißglückt auch der, so muß mir der thörichte Bursch nach Naxos zurück. Ich bedanke mich für dergleichen Sysiphosarbeiten genau so, wie Lesure schließlich gedankt hat. Das Gebahren des Jungen grenzt an Verrücktheit, und meine Schule ist kein Asyl dafür!«

Nachdem er sich dergestalt gegen sein Ich ausgesprochen und sich recht tief in den Ingrimm hineingeredet hatte, verließ er das Zimmer und ging von der Diele wieder zum Hofthor. Draußen schneite und wehte es heftig, und Tychsen blieb ein paar Augenblicke im Hofthor stehen, um den Mantelkragen in die Höhe zu klappen und das Sturmband vom Hutkopfe loszuknüpfen. Da gewahrte sein umherschweifender Blick plötzlich seitwärts auf der untersten Stufe des überdachten Hühnertreppchens eine schmächtige, zerlumpte Knabengestalt, die sich eng gegen die schattende Holzwand drückte und mit scheuen Augen, furchtgelähmt, auf den wohlbekannten strengblickenden Mann im Hofthor starrte. Dann streckte er den schwarzen Kopf vor, wie die Schildkröte aus der Schale, und versuchte einen Sprung zur hastigen Flucht, gerade als peitsche ihn das böse Gewissen mit Nesseln. Im Nu aber faßte ihn des Direktors starke Faust am fettigen Kragen und riß ihn so gewaltsam zurück, daß der Schlapphut in den Schnee kollerte.

»Tagedieb du! was hast du hier zu suchen? Was thust du auf der Hintertreppe und versteckst dich wie ein Galgenvogel?«

»Kalt, kalt! Signor!« wimmerte Nicolo im echtesten Bettelbubentone und rang gegen die haltende Hand. Ja, er wendete sich sogar und biß danach, so daß der Direktor seinen Stock erhob und nur noch fester in den Kragen des Radmäntelchens griff. Er zerrte den Burschen zur Treppe und sah dort oben eine Thür angelehnt stehen, deren Schlüssel sonst immer seitab am Haken hing. Glücklicherweise, sagte sich der Direktor, war's nur der Eingang zu allerhand wertlosem Gerümpel, aber des Eindringlings Strafwürdigkeit verminderte sich darum in seinen Augen nicht.

»Noch einmal: was hast du dort oben gesucht?« herrschte er den Zitternden an. »Wirst du sofort Rede stehen? – oder –!« Und wieder hob sich der Stock und deutete drohend zur offenen Thür hinauf.

»Ah, Signor! das nicht! – das nicht! Hören Sie doch, Signor!« schrie Nicolo und schlug mit beiden Füßen rücklings aus wie ein bockender Maulesel. »Ich bin das Modell – ich warte nur auf den padrone, den pittore –«

» Pittore? – Du lügst! Hier gibt es keinen pittore,« rief der Direktor entrüstet. Als aber Nicolo abermals wimmernd beteuerte: » Si, si, signor! è veramente vero! Ich habe fünf – sechs – siebenmal Modell gestanden dort oben! Alle Heiligen und das blutige Herz Jesu wissen es: bei dem jungen pittore – al signor Fotino –« da ergriff Tychsen den Buben mit beiden Händen und rief nach Merret Petersen.

Es dauerte ein Weilchen, bis sie erschien, und der Schreck fuhr ihr in alle Glieder, als das Kreuzverhör begann. Aber sie faßte sich rasch: durch ihre Schuld sollten ihre lieben jungen Herren nicht in Ungelegenheiten kommen, sie wußte von ganz und gar nichts. Das Lumpenstückchen da hatte sie – und das war die volle Wahrheit – noch niemals hier auf dem Hofe gesehen, und von wegen dem Malen? »Ja, hoher, himmlischer Vater! Zwei so feine, honette junge Herren, wie unserer und der andere, die läßt man doch in Ruh und Frieden, wenn sie für sich ihre Hantierung betreiben, in 'nem guten Haus, wie unserer Frau Pastorin ihr's! In solchem Haus, da spijont man nicht herum, da hat die Polizei nichts zu suchen, und ich bin 'ne resolvierte Frau, Herr Direktor, ich leide kein Unrecht und keinen Spitakel!«

Nach dieser furchtlosen Auseinandersetzung ließ sie dem jammernden Nicolo zuerst eine derbe Ohrfeige von ihrer nassen Hand angedeihen, gab ihm darauf ein Zehnpfennigstück aus ihrer Schürzentasche und jagte ihn schließlich vom Hofe. Der Italiener lief pfeilgeschwind davon, zwängte sich zwischen den Zaunstecken durch, weil die Pforte zehn Schritt weiter entfernt war, und hastete über die Heide, sein Mäntelchen eng um sich zusammenfassend. Da fiel ihm plötzlich ein glitzernder Gegenstand aus den Falten zur Erde. Er raffte ihn blitzschnell wieder an sich, blickte sich scheu nach allen Seiten um und jagte dem Hafendeiche zu. Hinter dem verschwand er.

»Ist das, was er da fallen ließ, sein Harmonikum gewesen?« fragte Merret und betrachtete den fernen Deich so aufmerksam, wie die Kanzel in der Kirche. Der Direktor zuckte die Achseln, und als in diesem Augenblicke ein starkes Sprudeln und Zischen in der Küche hörbar wurde, eilte Merret, ohne Antwort und Abschied zu erwarten, an ihren überlaufenden Milchtopf. Dort vertiefte sie sich wieder in ihre Pflichten, wähnte das heilige Reich droben beim Hühnerwiemen wohlverwahrt und den Herrn Direktor über alle Berge.

Der jedoch klomm geradeswegs das finstere Leitertreppchen hinan, stieß die angelehnte Thür der Kofferkammer vollends auf und trat ein.

»Studio« leuchtete ihm in fußlangen, roten Frakturbuchstaben entgegen, darunter in etwas kleineren griechischen Lettern der Name des Besitzers:

ΑΝΤΙΝΟΟΣ ΦΩΤΙΝΟΣ

*

Antinous Photinos! – Tychsen stand dem, was er hier erblickte, so verwirrt gegenüber, wie es einem Menschen nur möglich ist, der bis jetzt das Dogma der Unfehlbarkeit in sich selbst verkörpert glaubte und mm plötzlich entdeckt, daß seine Unfehlbarkeit ein leerer Begriff ist. Einem augenblendenden Faustschlage gleich traf ihn dies wunderliche Zusammenspiel schreiender und verblaßter Farben in Gestalt von Streifen und Flicken, blankem und blindem Gerät, und das alles um eine ungehobelte Art von Staffelei gruppiert wie für eine Theatervorstellung. An den Wänden ein lustiges Durcheinander französischer Illustrationen: von der Bougereauschen Madonna bis herab zur Balleteuse des » Châtelet« dazwischen Dutzende von tollen Bleistiftskizzen. Der Direktor setzte mit bebenden Fingern seine Augengläser auf, um diesen Frevel näher zu besichtigen.

Die Dachkammer wirbelte mit ihm im Kreise; das ganze Zopfstilgebäude seiner berühmten Pädagogik wankte unter ihm, seine Menschenkenntnis drehte ihm hohnlachend den Rücken. In einer Empörung, die der Worte spottete, wendete er sich von einer Wand zur anderen, und alle die übermütigen Karikaturen schwammen vor seinen Augen. Er mußte sich notgedrungen auf Tinos Kameltaschensessel niederlassen.

Was jede geniale Natur in dieser ganz ursprünglichen Künstlerwerkstatt entzückt und erheitert hätte: die frische, reiche Gabe aus dem überquellenden Füllhorne jugendlichen Erfindens und Schaffens, das machte diesen Mann, dem trotz seiner großen Schulgelehrsamkeit kein großer Geist innewohnte, halb rasend vor Zorn.

Ein Schüler, dessen Charakter und Intelligenz er mit der geringsten Note in seine Konduitenlisten eingetragen hatte, wagte es, seinen Cynismus in Gestalt von Grisetten und Gassenkehrern in das Heim einer fleckenlosen Frau einzuschmuggeln, wagte es, seine ätzende Satire auch auf ihn, den Schulgott, zu träufeln!

Da war er selbst, der Direktor Tychsen, als Löwe mit dem Eselschwanze und den Langohren im Tretrade, und hier wieder er in der Toga, auf einem Throne von lauter Paragraphenschnörkeln sitzend, die Füße auf dem Klassenbuche, in der Rechten einen Paragraphen als Scepter, und über dem Throne schwebte der heilige, entheiligte Spruch: » In hoc signo vinces!« – »In diesem Zeichen wirst du siegen!« – Zur Satire auch noch Blasphemie, und gerade dies Blatt war besonders keck in der Zeichnung. Da stand der ersterbende Fermann weihrauchschwingend hinter dem Paragraphenthrone, und die Prima führte, vor ihrem Machthaber grinsend und grimassierend, den Kriegstanz auf. Jedes der Frätzchen zu erkennen: Hallersleben, Photinos, der vielbelobte Klassenprimus: des Landrats »Kastor«, wie er genannt ward, vor dem niedlichen Dosengesichte die Eulenmaske der Weisheit, und hier »Pollux«, sein Zwillingsbruder, jenen grünen Zweig reitend, auf welchen er, nach des Direktors Meinung, niemals gelangen würde.

Tychsen war bleich vor Wut. Was für ein Licht warfen diese Ausgeburten einer schlüpfrigen Phantasie auf ihren Urheber! Er stand auf, knitterte das bunte Tuch, das über den nächsten Koffer gebreitet lag, zusammen und schleuderte es zur Erde. Daß hinter dem Koffer Tinos Mappe mit all seinen ernsten Studienversuchen steckte, Porträtskizzen von Frau Mina und ihrem Kinder-Vierklee, Entwürfe zu Illustrationen, das ahnte der Zornige nicht. Vielleicht hätte ein Blick in die verborgene Mappe genügt, um das Strafgericht abzuwenden, das sich nachtschwarz über Tinos Haupte zusammenzog, so aber geschah das Gegenteil. Keine Züchtigung erschien dem Direktor wuchtig genug für diesen Heuchler, an dem er Monate lang umsonst gearbeitet und sich dabei so gründlich in der Modellierung des Thons geirrt hatte.

Er riß ein Bildchen nach dem anderen schonungslos von den Wänden, machte, sie ohne Rücksicht in Falten brechend, ein Paket aus ihnen, verschloß dann die Atelierthür und nahm den Schlüssel mit sich.

»Ich werde ihn Frau Pastorin selbst zurückgeben,« sagte er zu Merret Petersen, ohne sich mit ihr auf weitere Auseinandersetzungen einzulassen. Er sah auch nach ihrer Meinung so bösartig aus, daß sie sich nicht zu bemerken getraute: die Kammer dort oben sei ihr Kofferraum, und der Schlüssel gehe Frau Pastorin seit zehn Jahren nichts mehr an.

Zudem nahm auch ihre Gedanken und Gefühle eine schlimme Entdeckung in Anspruch, die sie soeben erst gemacht hatte und notwendig aussprechen mußte! Der silberne Zuckerstreuer und zwei vergoldete Theelöffel, die sie selbst vor einer knappen halben Stunde blankgeputzt auf die Anrichte des Eßzimmers gelegt hatte, waren spurlos verschwunden. Freilich – das französische Fenster war ein klein wenig hochgeschoben gewesen, zum Durchlüften, aber vor dem Garten lag ja der Schnee turmhoch: kein Mensch hätte durch die Pforte eindringen können.

Der Direktor deutete statt der Antwort mit strenger Miene auf die schmutzige Spur eines groben Nagelschuhes. Halbverscharrt lief sie durch den Hof dicht an der Hausmauer hin und jenseits der niederen Gartenhecke bis zum Eßzimmer. Ein Zweifel konnte hier gar nicht Platz greifen.

»Wer das eine zugibt, muß das andere leiden, Petersen,« sagte der Direktor. »Verantworten Sie sich selber vor Ihrer Frau; das einzige, was ich thun kann, ist, daß ich den Landjäger hinter der Diebesbrut herschicke. Schließen Sie das Fenster gut und lassen Sie Jens ein Auge auf den Garten haben.«

Damit ging er, sein Paket unter dem Arme. Kurz vor der Stadt bog er, rechts vom Heckenweg, in das ländliche Kuhgäßchen ein, um Hackert, dem Landjäger, über den Diebstahl im Pfarrhofe zu berichten und die Verfolgung des frechen Burschen anzuraten.

»Einspannen und denn fünfundzwanzig draufpritschen, aber feste! Das diente dem Kretur, und nachher ins Loch damit!« sagte Hackert entrüstet, »bloß daß'r noch keine sechzehn ist, und die Unmündigen kommen akk'rat so leicht davon, wie das Huhn beim Eierlegen!«

»Ja, ja, bei Holmswyk schiebt ihr ihn über die Grenze, und bei Holmsend läuft er euch wieder in den Bezirk,« entgegnete der Direktor. »Das macht sich unsichtbar und wühlt sich durch wie ein Maulwurf. Das Silber wird wohl verloren bleiben.«

»Hoho! den Schwamm kriegen wir fix genug wieder!« meinte Hackert und rief in die dumpfige Stube hinein: »Mutter, wie wäre das denn mit den Schweinsohren? Kann ich bald 'nen Happen essen? Mit Nüchternis gehe ich nämlich nicht gern auf Fang, Herr Direktor, und den Bau finde ich ohne Suchen. Keine Sorge, daß uns der Fuchs auskommt! Unterdes zieht auch die Bö vorbei, und es klart 'n bißchen auf.«

Nach Erledigung dieser Angelegenheit eilte Tychsen durch das dichte Schneegestöber heimwärts, um seinen Sünder zu Fall zu bringen. Im Hause angelangt nahm er sich nicht einmal die Zeit, den Schnee vom Mantel zu klopfen. Sein nasses Papierbündel in Händen ließ er sich selbst durch die Hinterthür ein, die nur von Dienstpersonal und Marktweibern benutzt ward.

Während die ahnungslose Mina schon zum zweitenmal des Gatten Mittagbrot warm stellte und Gerda in der Kinderstube die Kleinen unterhielt, begab sich der Direktor, in Hut und Mantel wie er war, schnurstracks durch den schmalen Nebenkorridor zu Tinos Zimmer.


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