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2.

Diese lange, ewige Nacht in der Einsamkeit! – Frau Katharine hatte gar nicht daran gedacht, die Läden vor den beiden Fenstern zu schließen, Rouleaus gab es keine, und die Vorhänge waren weit zurückgesteckt und sehr hoch aufgegriffen. Wer verhüllte sich in dieser herrlichen Gegend unnütz die Aussicht ins Freie? So konnte sie ungehindert in das gespenstische Nebelmeer hinausblicken, das die umflorte Mondscheibe nur schwach erhellte. Wie es wogte und wob, sich ballte und zerteilte in gewaltigem Kampfe! Wie dräuend streckte der mächtige Piz Lagrev – nahe zum Greifen schien er – seine starrenden Schroffen und Zinken aus dem weißlichen Dunste empor und ließ sie wieder darin versinken auf Augenblicke. Immer heller trat sein Gipfel mit dem viereckigen Gletscherfelde heraus: das machte der Schnee, der da droben heimlich niederfiel. Nun zogen bergende Wolken vor den Mond, der Wind hub wieder an zu seufzen und zu klagen, und drüben aus den schwarzen Felsspalten schrie ein nächtlicher Vogel unaufhörlich sein schauriges »Schu-hu-uh!« herüber. Kein andrer Ton ringsum in weiter Runde.

Ach ja, es war wohl die richtige Nacht dazu, um bange Herzen noch banger schlagen zu machen!

Katharinens Kugellampe brannte noch im Hintergrunde ihres Zimmers, als das ganze alte Haus schon seit Stunden in ungebrochenem Schlummer lag. Der matte Lampenschein vermochte jedoch nicht die dunklen Ecken und Nischen des großen Raumes zu erfüllen. Lange, schwarze Schatten streckten sich weit über den rotgrün geflammten Teppich hin, der den Schritt unhörbar machte. Der Ofen war seit Stunden erkaltet, davor stand der halbgeleerte Reisekoffer mit geöffnetem Deckel, und auf der verblaßten, seidengewirkten Überdecke des Bettes hatte sich die Einsame, die jetzt trostlos weinend in der Fensternische stand und hinausblickte, lange Zeit hin und her geworfen, ohne die ersehnte Ruhe zu finden. Denn sie war matt zum Umsinken, und ihre thränennassen Wangen brannten vor innerer Glut.

Nichts, gar nichts ersann sie, um den nagenden Schmerz in ihrer Seele zu lindern. Der Schlummer flüchtete weiter und weiter hinweg von ihr; wollte sie die ermüdeten Augen schließen, so zog eine unsichtbare Gewalt ihr die schweren Lider von neuem empor, und das finstere Landschaftsbild da draußen prägte sich in ihrem Innern mit zwingender Macht ein. Der Uhuschrei, der sich in gemessenen Pausen wieder holte, sträubte ihr förmlich das Haar vor Furcht, der Piz Lagrev rückte anscheinend immer näher auf das Dorf und das alte Haus und sie selber zu, gerade als wollte er alles unter seiner Felswucht verschütten und begraben!

Sie hatte es vorhin mit dem Klavierspiel versucht, aber es zerfleischte ihr Herz wie eine Geierkralle! Die schwachen, verschleierten Töne klangen Sterbeseufzern gleich.

Ob Lesen ihr nicht ein wenig Vergessen brachte? Aber was lesen? Bücher besaß sie hier keine außer ihrem Schweizer Bädeker und ein paar Novellen: Eisenbahnlektüre, leichte Ware, deren keckgeschürzte Konflikte und flache Lösungen sie in ihrer verzweifelten Stimmung anekelten. Sie mochte die buntbroschierten Bändchen mit ihren vielverheißenden Titelblättern gar nicht ansehen, geschweige denn zu Ende bringen.

Nicht einmal eines von Kettys Bildern hatte sie in ihrem jähzornigen Entschlusse mitgenommen! Es war ihr, als könnte sie sich der lieben frischen Züge ihres Kindes kaum mehr erinnern, so abgespannt fühlte sie ihre Nerven. Eine heiße Sehnsucht übermannte sie. »Ketty! – o, Ketty!« flüsterte sie schluchzend ins Leere hinaus, des Kindes Namen und zugleich die kosende Abkürzung ihres eigenen. Wie deutlich hörte sie jetzt den Gatten nach ihr durchs Haus rufen: er legte die Betonung je nach der Stimmung bald auf die erste, bald auf die letzte Silbe. Schon ehe sie ihm ins Gesicht blickte, pflegte sie immer genau zu wissen, was ihr von ihm bevorstand, Liebes oder Tadelndes.

Sie preßte ihr Gesicht gegen das Fenster, und ihre Thränen rannen als glühende Tropfen an den Scheiben hin. Mein Gott! Hatte es denn so weit mit ihnen kommen müssen, daß sie sich trennten – vielleicht um sich nie wieder miteinander zu verbinden in der alten Liebe?

»Sage mir doch einmal klar und logisch deine Gründe, Ketty!« Wieder war's Viktors Stimme, die zu ihr sprach, und aus der Dunkelheit draußen schaute sein Gesicht zu ihr herein; sie sah die hohe, weite Stirn, die Nase mit den beweglichen Flügeln, den freundlichen Mund, den der schöne dunkle Vollbart halb versteckte, und über allem die scharfblickenden großgeöffneten Augen mit den Heiterkeitsfältchen im Winkel. Wie oft hatte man sie um ihren stattlichen, energischen Galten beneidet, und von diesem Gatten war sie gegangen um eines Gewittersturmes willen, anstatt sich unter Dach und Fach, an das zürnende und doch liebende Herz zu flüchten und geduldig zu schweigen und zu harren, bis das Wetter vorübergebraust wäre.

»Hätte es denn vorüberbrausen können, ohne einzuschlagen und zu zünden?« Sie hielt mit Weinen inne, stemmte beide Hände auf den Fenstersims und starrte geradeaus auf die schroffe Felswand des Piz Lagrev. Ihre Stirn runzelte sich, und sie schob die Unterlippe vor. »Nein!« sagte sie mit kurzer und harter Betonung, aber ihre Lippen bebten schon wieder, als sie das eine Wort kaum ausgesprochen hatte.

Wo lag der Anfang dieser ehelichen Mißverständnisse? Katharine mußte ihr überwachtes Hirn abmühen, um sich selbst das Anklagematerial gegen ihren Mann geordnet und folgerichtig vorzulegen. Natürlich – sie trug kein Lot der zentnerschweren Schuld, sie war die Märtyrerin ihres unverdient herben Geschickes! Konnte Viktor sie für ihre Erziehung, ihre angeborenen Neigungen und Abneigungen verantwortlich machen? War's ihr so schwer zu verdenken, daß sie, jung, lebhaft und verwöhnt, mehr Vergnügen am Umgange mit den liebenswürdigen Kavalieren von den Leibhusaren fand, als an der Gesellschaft der juristischen Kollegen ihres Gatten, lauter kluge Ehrenmänner, die nach dem Abendbrote ihre Prozesse weiterführten und Viktor beim Glase Bier rieten: er solle seine Frau Gemahlin vor dem Herrn Rittmeister von so und so und dem Herrn Lieutenant so und so hübsch in acht nehmen, denn Frau Ketty habe ein äußerst argloses und lebhaftes Gemüt!

Sie hatte es sehr deutlich im Nebenzimmer gehört, sie war noch nicht zu Bett gewesen, wie diese zechenden Ehemänner und ironischen Junggesellen zu glauben schienen! Und Viktor? Jeden einzelnen hätte er, ihrer ungestümen Meinung nach, vor die Pistole fordern müssen dafür, daß sie die unberufenen Warner machten, wo nicht der geringste Grund zur Warnung vorlag! Aber statt dessen hatte sie Viktors Stimme ganz im gewohnten gemütlichen Tone vernommen: »Nun, mein Bester, unsere Soldaten sind keine Menschenfresser, und meine Frau werd' ich schon selbst in acht zu nehmen wissen. Verschonen Sie mich nur um Himmels willen mit Stadtklatsch!« Dann eine Pause und dann wieder Viktors Stimme: »Wollen Sie noch ein Glas? Hell oder dunkel? Gemischt? Auch gut, wenn ich das Gebräu nur nicht trinken soll!« Dann wurde der letzte Schwurgerichtsfall mit frischen Kräften wieder weiter verhandelt, und Viktor sprach so eifrig, als sei ihm der Angriff auf die Ehre seiner Frau kaum einmal durch die oberste Haut gedrungen. Katharine hatte gezittert und gebebt vor Empörung.

Eine Stunde später im Schlafzimmer war es zwischen den beiden zu der bösen, heftigen Scene gekommen, die aus einem Nichts zur glückzerstörenden Lawine anwuchs. Die Lawine kam ins Rollen und rollte unaufhaltsam der Tiefe zu. Jeder Tag brachte neue und unlösbarere Mißstände. Mit ausgebreiteten Armen warf sich der Gatte dem Ungetüm entgegen; denn er liebte sein Weib und sein häusliches Glück, aber die Gattin konnte es nicht lassen, mit dem Fuße an die Lawine zu stoßen und mit bitteren Worten an das Ehrgefühl ihres Mannes, bis der jammervolle Tag kam, an dem der Haß mit seinen Giftkörnern die todeswunde Liebe ganz betäubte und des Hauses letzten Frieden von dannen trieb. Sie sargten die scheintote Liebe ein und riefen den entflohenen Frieden nicht zurück, sie erstickten das wärmende Herdfeuer und gaben ihren Glücksgarten den Disteln und Dornen preis. Ach, wer vermag klar zu sagen, wie solch ein Bruch zwischen zwei Herzen eigentlich zu stande kommt?

Sie fühlte sich als die Schuldige und nannte sich die Unschuldige, und so war sie von ihm gegangen. Er hielt sie nicht zurück und bot ihr keine Hand zum Lebewohl, und sein gütiges Gesicht hatte sie mit einer fremden und stolzen Kälte angeblickt. Nun waren sie getrennt, und in Danzig erzählte man sich wahrscheinlich das gewöhnliche Märchen von »zarter Konstitution« und »einem Winter im Süden.«

Würde »die Welt« an das Märchen glauben? Unwillkürlich blickte Katharine an ihrer schönen, vollen Frauengestalt hinunter und versteckte dann ihr Gesicht mit festgeschlossenen Augen in beide Hände. O, die Bilder, die sich trotzdem Einlaß in ihre Seele erzwangen! Mochte die Welt das Märchen glauben oder nicht, das war ihr gleichgültig, aber – Viktors Abschied und Kettys versteinertes, liebes Gesichtchen: »Wann kommst du wieder zu uns, einzige Mama?«

»Nie! nie!« Sie riß die Hände von den Augen, schüttelte sich vor Frost und hielt den Atem an, das heftige Klopfen ihres Herzens behorchend.

»Ja, es ist besser so,« sprachen ihre Gedanken, »er fühlt es setzt auch, daß wir einander verkannt haben, daß unsere Ehe ein Irrtum gewesen ist, vielleicht von Anfang an –« Nur das Kind! Seine sonnigen Züge redeten doch so deutlich von der innigen Liebe zweier Herzen, die Leben und Gestalt angenommen hatte! – »Ach, es war Lüge – alles ist Lüge in dieser Welt!«

»Wirklich?«

Wer fragte dieses »Wirklich?« in ihre ziellos umherschweifenden Phantasien hinein? Das plötzliche Rot angstvoller Erregung überflog ihr blasses, trotziges Gesicht. Sie wollte nicht mehr daran denken und grübeln! Jetzt war ein festes Ziel erreicht, und ihre Mittel? Die würden auf lange hinaus genügen hier in der Einöde.

Hatte sie etwa nichts in die Ehe mitgebracht? Sie suchte ihre Brieftasche aus dem Kommodenschubfache hervor und legte die Banknoten nebeneinander auf den Tisch. Zweitausend Mark, ungefähr die Hälfte der Jahreszinsen ihres Vermögens, die Summe, die als Nadelgeld jährlich für sie vereinbart worden war; Viktor liebte es, sie gut gekleidet zu sehen. Niemanden hatte sie beraubt, als sie sich vor der Abreise den Betrag von der Bank holen ließ, und hier in Sils-Baselgia, bei fünf Frank täglicher Pension und der gänzlichen Abwesenheit aller Toilettenansprüche, mußte sie ein volles Jahr und länger von ihrem Gelde leben können. Ein volles Jahr – dreihundertfünfundsechzig Tage und Nächte wie diejenigen seit ihrer Abfahrt von daheim! Sie schob das Geld und die Brieftasche zurück und warf sich von neuem aufs Bett, um ihr Weinen zu ersticken: »Mein Leben ist verpfuscht und mein Herz ganz verbittert!« schluchzte sie. »Aber jetzt feige umkehren, die weiche Seite zeigen – abbitten, den gerechten Stolz demütigen und dann wieder andere Mißverständnisse erdulden und ausgleichen sollen? – eine Kette ohne Ende! – Unmöglich! Es kann doch nie wieder werden, wie es war – ich habe mir meine Freiheit selbst zurückgenommen, und ich will sie behalten und ertragen, komme, was da wolle! Knechten lass' ich mich nicht!«

Ihre Thränen versiegten, und ganz unvermittelt schlich eine lähmende Müdigkeit ihr über Glieder und Gedanken. Kaum vermochte sie's noch, dem hausfraulichen Ordnungstriebe folgend, ihr Geld nachzuzählen und zu verschließen, die Überdecke des Bettes, glatt gefaltet, beiseite zu legen und sich zu entkleiden. Ja, fast hätte sie vergessen, die Lampe zu löschen. Wenige Minuten später lag sie fest schlafend in den Kissen. Nur die regellosen, seufzenden Atemzüge und die Unruhe der heißen Hände verrieten, wie schwer und traumbeängstigt ihr Schlummer war.


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