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Drittes Kapitel.

Nun war er da, der Geheimnisvolle! – Überraschungen beabsichtigen immer etwas Reizendes und verfehlen unter hundert Malen neunzigmal die erwünschte Wirkung. Der Direktor hatte auch kein Glück mit seiner Überraschung, als er den lieben Seinigen, volle vierundzwanzig Stunden vor der verabredeten Ankunftszeit, mitten ins Scheuern, Kränzewinden und Kuchenbacken hineinplatzte.

Aus der Strebeleiter stehend, nagelte Kurt gerade die Blätterguirlande über Gerdas ehemaliger Zimmerthür fest. Sie hatte, dem Fremdling zuliebe, ihr kleines Reich mitleidig gegen ein kornblau tapeziertes Mansardstübchen vertauscht. Die beiden, Kurt und Gerda, waren heftig im Streite miteinander. Gerda wollte durchaus unter der Guirlande das neugriechische Willkommenswort » Khére!« – »Sei gegrüßt« – angebracht haben, Kurt aber fand diese Huldigung nicht nur im höchsten Grade unweiblich und überflüssig, sondern er docierte auch von seiner Leiter herab, daß » Khére!« gar keinen moralischen Hintergrund habe. Jede Grammatik lehre, daß es » Cheire!« heiße.

»Nein: › Khére!‹« beharrte Gerda eifrig. »Ja dieser Sache ist mir Franz denn doch maßgebender als Sie. Ihr Grammatik-Griechisch ist ja lauter vermodertes Zeug!« Dabei blieb sie, und ruhte nicht eher, als bis Kurt ihr das rosa Papier mit dem schöngeschriebenen Empfangsworte abgenommen und gehörigen Ortes befestigt hatte. Sie wußte selbst nicht, weshalb sie ein so starkes Mitgefühl für den Unbekannten empfand: sie dachte sich jedenfalls den Unterschied zwischen Holmswyk und Naxos gar zu groß!

»Nun müssen rechts vom › Khére!‹ noch die drei Astern angebracht werden – hier – seien Sie so gut, Kurt –«

In diesem entscheidenden Momente ward draußen die Thürglocke mit dem unverkennbaren, scharfen Ruck der hausherrlichen Hand gezogen, gleich darauf ertönte aus den Küchenregionen ein heller Aufschrei; im Nu war Gerda an der Treppe und Kurt auf festem Boden, die Kinder jubelten »Papa! Papa!« und Frau Mina lag, trotz mehliger Hände und hochgestreifter Ärmel in der Umarmung des heimgekehrten Gatten.

Kurt, dem die erste Vorstellung während einer Familienscene nicht paßte, drückte sich unbemerkt treppab zum Hause hinaus. Im Vorbeieilen nahm er mit flüchtigem Blicke Notiz von dem jungen Griechen, der, seinen Hut in der Hand, regungslos am Treppengeländer lehnte. Eine knabenhaft zarte Gestalt und ein hageres, bräunliches Gesicht mit gedrückten Brauen und Adlernase über vollen, farblosen Lippen.

»Schwarze Locken hat er, aber gottlob! – ein Melanos ist er nicht!« sagte sich Kurt erleichterten Herzens und schlenderte dann lustig pfeifend zwischen den Hagedornhecken hin dem Pfarrhofe zu, um seiner Tante die summarische Schilderung von Antinoos Photinos in dem einen Worte zu geben: »Mulatte!«

*

Der Direktorin erstarb vor Schrecken all ihr Französisch auf den Lippen, als der Direktor den neuen Hausgenossen aus seiner Ecke hervor ans Licht zog, um ihn den Seinigen vorzustellen. Nein! wie abstoßend, wie unerhört häßlich! Und das sollte ein Grieche sein, der verurteilt war, den idealen Namen Antinoos zu tragen! Die arme Frau ahnte in dieser Enttäuschungsminute wahrhaftig nicht mehr, wie man »guten Tag« und »seien Sie willkommen« auf Französisch ausdrückte! Wortlos, mit hochroten Wangen nahm sie die lange, blasse Hand des Knaben in ihre und schob dann, unwirscher, als sonst ihre Art war, die Kinder beiseite, weil die niedlichen Geschöpfchen rundäugig und offenmündig im Kreise standen und das rabenlockige Weltwunder anstarrten.

Gerda allein hatte Fassung bewahrt; Antinoos Photinos enttäuschte sie nicht im geringsten. Freimütig ging sie auf ihn zu, schüttelte ihm herzhaft die Hand und sagte mit ihrer weichen Mädchenstimme: » Khére!«

Schwager Franz hätte sie da und dort dafür umarmen mögen, und über des fremden Knaben scharfes, melancholisches Gesicht flog ein Sonnenblitz. Jetzt gewahrte und las er auch den heimatlichen Gruß über der Thür, und als wüßte er ganz sicher, woher derselbe stamme, beugte er sich plötzlich über Gerdas Hand, drückte sie zuerst schüchtern küssend an seine Lippen und dann gegen seine Stirn.

Sie nahm seinen Dank mit der vollen Unbefangenheit des Kindes an, lachend ob dieser überraschenden Huldigung, und nun hatte auch Frau Mina ihre Fassung und ihr Französisch wiedergefunden. Sie übertrug es der Schwester, das erste Licht ins Chaos zu bringen, und während der Gatte hinunter in den Hof eilte, um das Abladen der Gepäckstücke zu beaufsichtigen, ging sie, von den trippelnden Kleinen gefolgt, um sich von den letzten Spuren ihrer Kochkünste zu befreien.

»Kommen Sie, dies ist Ihr Zimmer,« sagte Gerda auf Französisch, und Antinoos Photinos, der mit seiner Gefährtin von einer Größe war, ergriff, einem Hilflosen gleich, ihre Hand, hielt sie im Gehen fest und ließ sich so von ihr in sein neues Reich führen.

Er stand inmitten des schmucklosen Stübchens mit dem schwarzglasierten Kachelofen, seine Lippen bebten und flüsterten vor sich hin, langsam wendete er den Kopf von einer Seite zur anderen und reckte mit einer raschen Gebärde der Abwehr seine Hände zum Fenster hin. Gerda sah wohl, wie er die Augen zusammendrückte, um den hervordrängenden Thränen zu wehren, und wie seine Schultern in mühsam verhaltenem Weinen zu zucken begannen, aber in mädchenhafter Scheu wagte sie weder zu gehen noch sich zu regen. So blieb sie an die Stelle gebannt und verwendete keinen Blick von dem Weinenden.

Ja, des Naxioten schönheitverkündender Name war eine Ironie. Schmal und engbrüstig steckte er in seinen eleganten, französischen Kleidern; der Kopf erschien für seine starken Züge und die tief in die Stirn fallenden Lockenmassen viel zu zierlich, die Augen zogen sich nach den Schläfen zu abwärts und hatten schwere Lider, das gab ihnen den müden Blick. Das Ganze war ein altkluges, verbittertes Gesicht, alles eher als liebenswürdig. Kurt Hallersleben brauchte in Wahrheit diesen Rivalen schwerlich zu fürchten, wenn überhaupt von Rivalität je die Rede sein würde. – Jetzt trat er ans Fenster, weinte unverhohlen und preßte seinen Kopf gegen den Kreuzstock.

Endlich faßte sich Gerda ein Herz und berührte seinen Arm mit flüchtiger Zartheit.

»Bitte, weinen Sie nicht so sehr, Antinoos,« sagte sie, – das ›Monsieur Photinos‹ wollte ihr, angesichts dieses gebrechlich aussehenden Knaben, nicht über die Lippen – »gehen Sie vom Fenster fort, der Tag ist heute gar zu trüb, und Sie kennen wohl nur blauen Himmel, nicht wahr?«

Ein leises Zusammenziehen der Schultern, sonst kein Zeichen des Verständnisses, aber sie ließ sich nicht abschrecken.

»Antinoos,« begann sie wieder, »Ihr Name ist so lang und fremd für uns. Hat man ihn niemals abgekürzt bei Ihnen daheim? Möchten Sie es denn nicht lieber, daß wir alle Sie so nennen, wie Sie es zu Hause gewohnt sind?«

Er ließ die Hände sinken und sah sie aus seinen thränennassen Augen an. »Danke, danke, Mademoiselle – wenn Sie ›Tino‹ zu mir sagen wollten, so wäre es sehr gütig,« entgegnete er verschleierten Tones und wendete sich wieder ab von ihr. Mit rätselhaftem Ausdrucke fuhr er fort, starr zum Fenster hinauszuschauen, als bannten ihn die kahlästigen Bäume des mauerumgebenen Schulhofes. Der herbe Wind, der schon vom Nahen des nordischen Herbstes flüsterte, beugte und zauste Ast und Zweig mit höhnischem Pfeifen, und die schweren, tiefhängenden Wolken wälzten sich gegeneinander in unbeholfenem Kampfe, bis der gewaltige Ost sie zu Paaren trieb und über die Stadt hinweg landein jagte. Nun rauschte auch der Schlagregen kalt an die Scheiben, und eine beklemmende Traurigkeit lastete auf allem Toten und Lebenden ringsumher.

Da riß sich Tino Photinos plötzlich von diesem schwermütigen Ausblicke los; er schauderte zusammen, seine Brust arbeitete stürmisch – dann schlug er unter lautem Weinen den Kopf gegen die Wand und zerraufte sein schwarzes Haar mit der rücksichtslosen Gewalt eines Rasenden.

Gerda stand diesem elementaren Schmerzensausbruche des Südländers einen Augenblick versteinert gegenüber, sprang dann auf ihn zu und schüttelte ihn voll Entsetzen an der Schulter.

»Tino! o Tino, Pfui! Was thun Sie? Wie schrecklich ist dies! Hier, hier – trinken Sie Wasser – nehmen Sie doch die Hände aus den Haaren!«

Sie griff nach seinen Fingern, die das Glas zurückstießen, und er wehrte sich wild gegen ihre kleine, kräftige Hand, halb besinnungslos, unaufhörlich weinend und rufend:

»Ich bin unglücklich! Überall bin ich unglücklich! – Ich will sterben – ich will nicht lernen, nein! nein!«

Bei dieser Wendung öffnete sich die Thür. Der Direktor trat ein und wies seine junge Schwägerin mit strenger Miene zum Zimmer hinaus. Sie blieb draußen stehen, hielt bang den Atem an und lauschte, an die trennende Thür geschmiegt, der kalten, klaren Stimme ihres Schwagers. Er sprach griechisch; und wie lauter Verdammungsurteile eines erhabenen Richters tönten die fremdartigen, schönklingenden Worte in das Ohr des geängstigten Mädchens.

Tino gab auf keine der scharfgestellten Fragen Antwort, er fuhr nur fort tief und stöhnend zu schluchzen.

Gerda fand es unerträglich. Sie schlich zu ihrer Schwester hinüber, durch den langen Seitenkorridor ins Eßzimmer und begann den Tisch zum Mittagsbrot zu decken. Frau Mina strahlte vor Vergnügen: sie erzählte Wunderdinge von all den Geschenken, die Fränzchen mitgebracht habe, und die nachmittags ausgepackt werden sollten. Als Gerda ein Wort über Tino Photinos und seinen bitteren Kummer einfließen lassen wollte, verdunkelte sich das frohe Gesicht der Schwester, und sie rief, vor Ärger rot werdend:

»Schweig' mir von dem gräßlichen Jungen, Gerda! Fränzchens Idee, den mit nach Holmswyk zu schleppen, ist mir heute noch tausendmal unverständlicher und unsympathischer als neulich, während wir bei Alice den Unglücksbrief lasen!«

Gerda wirtschaftete mit dem Messerkorbe, und ihre Gedanken konnten sich nicht von der Frage losmachen: was wohl Franz mit dem ungebärdigen Griechen beginnen werde, wenn er etwa in seiner Gegenwart, wie vorhin in der ihrigen, den Kopf gegen die Wand schlüge und sich die Locken zerzauste! Ehe sie jedoch zum Resultat ihrer Betrachtungen gelangte, erschien der Direktor mit Tino zugleich zum Essen. Er sah sehr erhitzt und unzufrieden drein, als habe es einen harten Strauß mit dem Starrkopfe an seiner Seite gegeben.

Bezwungen war der Starrkopf für heute, allein nicht zu bewegen, die Speisen anzurühren. Nur vom Eingemachten kostete er, aber die Thränen rannen ihm unaufhaltsam über die Wangen, und mit gebrochener Stimme bat er: Madame möge ihm erlauben, den Tisch zu verlassen. Sein mageres Gesicht trug bei dieser Bitte einen Ausdruck feindseligen Trotzes, die Brauen schoben sich in einer tiefen Falte zusammen, und nur die stark ausgebildeten Nasenflügel spielten und blähten sich unaufhörlich, wie die Nüstern eines störrischen Hengstfohlens, das sich gegen das Gebiß im Maule wehrt. Der Direktor ließ Messer und Gabel unsanft auf den Teller fallen und blickte dem Hinausgehenden mit gerunzelter Stirn nach; Frau Mina stimmte von frischem ihr kleines Klagelied über die störende Neuerung an und schwieg erst, als der Gatte abwehrend sagte: »Laß gut sein, Minchen, er ist noch zu fremd und obendrein aus lauter Eigensinn und Heftigkeit zusammengesetzt. Was sag' ich? Heftigkeit? – Tobsucht ist richtiger! Nur Geduld – ich werde schon mit ihm fertig!«

Dennoch währte es zwei volle Tage, ehe sich Tino Photinos herbeiließ zu essen, zu antworten und etwas anderes anzublicken als die Schulhofsmauern und seine eignen Hände. Einzig Gerda gegenüber zeigte er eine Art von Zutrauen, und Frau Mina freute sich ihrer scharfsinnigen Prophezeiung vor acht Tagen im Pfarrgarten. Die Pastorin war in der letzten Zeit nicht zur Stadt gekommen; das Wetter blieb gar zu böse, und sie hatte eine zarte Gesundheit; der Direktor fand vor Ferienschluß viel angehäuftes Arbeitsmaterial, und deshalb kam der Sonnabend Nachmittag heran, ehe es hieß:

»Du könntest mit den Kindern auf den Pfarrhof gehen, Fräulein Schwägerin, und Alice den Korb Südfrüchte abgeben, den ich für sie mitgebracht habe. Ich wünsche, daß Antinoos sich anschließt. Falls ich selbst keine Zeit finden sollte, euch abzuholen, meldest du mich für morgen gleich nach Tisch an und bestellst mir vorher den jungen Hallersleben zur Prüfung ins Konferenzzimmer. Punkt zwölf hat er sich dort einzufinden.«

Die Augustsonne hatte doch noch einmal den Sieg über Regen und Herbstgebraus davongetragen, und die Umgebung des Küstenstädtchens lag da, so lieblich, so lachend grün und rosig blühend im Schmuck der Heideblumen, wie nur möglich unter dem hellblauen Himmel. Die Bienen summten und die Schwalben hielten zwitschernd Rat, welcher luftige Reiseweg am schönsten sei dem Süden zu.

Gerda schritt, den Fruchtkorb am Arme, ihre beiden ältesten Nichtchen zur Seite, munter plaudernd voran. Sie hatte, angesichts der völligen Undurchdringlichkeit Tino Photinos, ihre Unterhaltungsversuche mit ihm schließlich aufgegeben. Langsam wandelte er hinter ihr drein, und hätte sie nur einmal nach ihm umgeschaut, würde sie allerlei Überraschendes in diesem Gesichte entdeckt haben, das ihr, seit jenem ersten vulkanischen Ausbruche, nur mehr schlaffe Leblosigkeit gezeigt hatte.

Nun er sich einmal gänzlich unbeobachtet fühlte, gab er sich unbefangen den Eindrücken seiner neuen Umgebung hin, und seine Augen, von denen niemand genau zu sagen vermochte, ob sie blau oder schwarz seien, musterten jedes Ding im weiten Kreise mit prüfender Schärfe. Schöne, poetische Augen waren es, da sie sich jetzt größer und größer unter den trägen Lidern aufschlugen. Wißbegier und Verständnis blickten aus ihnen, und als sich die schwellenden Lippen des jugendlichen Mundes lächelnd teilten, spielte um hier fein auslaufenden Winkel ein Zug jener geistigen Anmut, die der Weisheit fehlt und ohne die das Genie nicht zu denken ist, wenn ein leuchtender Gott und kein Dämon es werden und wachsen heißt.

Wer konnte wissen, was in dieses Knaben ängstlich verschlossener Seele vorging? – Der frische Seewind warf ihm die Locken zurück und lustig durcheinander; denn das weiche Hütchen, das sie bedeckt hatte, ruhte längst zusammengeknittert in einer der Taschen des knappen Rockes. – Der drallen Holmsender Fischerdirne, die, ihre Butte auf dem Kopfe, hochgeschürzt vorübertrabte, mochte der Fremdling gut gefallen; sie nickte ihm lachend zu und rief ein scherzendes Wort in schleswigschem Platt, da er die Augen nicht von ihr nahm.

Und plötzlich sah er, wie Gerda, die zehn Schritte vor ihm allerhand Tollheiten mit den Kleinen trieb, aus ihrem Notizbuche leere Blätter riß, um den beiden Schiffchen zu falten. Eines der Blätter fiel unbeachtet zur Erde, und der Wind trieb es Tino entgegen. Er haschte es, nestelte behende den Schiebstift von seiner Uhrkette los, und, den nächsten Heckenpfahl als Stütze benutzend, skizzierte er, stehenbleibend, die kräftige, langsam schreitende Gestalt des Fischermädchens, mit der Fischbutte aus den dichtgelegten Zöpfen und dem eingestemmten Arme. In leichten Umrissen gab er die malerische Figur sehr treffend wieder und sogar ein Stückchen Landschaft: die öde Sanddüne des Galgenberges und die drehenden Windmühlenflügel dahinter, fügte sein rascher Stift hinzu. Aber gleich darauf ward die Windmühle zu einem segeltragenden Fischerboote umgestaltet, und der Galgenberg verwandelte sich in eine hochgehende Meeresbrandung, die Heide unter den Füßen des Fischermädchens in glatten Sand. Die Marine in ursprünglichster Einfachheit und Kleinheit war fertig.

Hastig barg der geschickte Zeichner sein Werkchen in der Brusttasche, eben rasch genug, daß es Gerdas Auge entging. Sie wendete sich gerade um, winkte und wartete, bis er sich zu ihr gesellte. »Nun, Tino, ganz stumm?« fragte sie. »Da sind wir schon gleich am Pfarrhof, sehen Sie, das alte rote Dach geradeaus zwischen den Bäumen – und nichts als Langeweile haben Sie von Ihrem Spaziergange gehabt!«

»Langeweile? o nein,« entgegnete er. »Im stillen suche ich mir oft meine Freuden und finde sie dann und wann.«

»Hier aber gewiß nicht, in Holmswyk nicht,« fiel sie ein. »Wie wäre es möglich, daß Sie, mit der Sehnsucht nach Ihrer herrlichen Heimat im Herzen, bei uns Freuden fänden?«

»Und es ist doch so! Ich werde durch die Welt getrieben wie ein Rad, das keinen Willen hat, weil es ein totes Ding ist, aber leider lebt das Ding in Wirklichkeit und ist ein Mensch, der mit den Augen das Glück stiehlt, da wo es niemand vermutet. Indessen – was rede ich! Sie können es niemals begreifen.«

»Ich möchte es aber begreifen lernen, wenn ich nicht zu dumm dazu bin,« sagte Gerda. »In vollem Ernste – Sie könnten mich wohl ein wenig einweihen, Tino, es ist mein schönstes, wenn ich die Vertraute von jemandem bin, und verraten thu' ich auch kein Wörtchen.«

Er blieb stehen, nahm die Unterlippe zwischen die Zähne, blickte das junge Mädchen durchdringend an wie ein Inquisitor und überlegte.

»Es wäre wohl schön – wenn ich mich auf Ihr Wort verlassen dürfte –« meinte er zögernd und fingerte mit der Linken an der Herzgegend seines Rockes, daß es ein leises, knisterndes Geräusch gab.

Die Kinder kletterten durch die große Lücke der Weißdornhecke und unternahmen einen Ausflug seitwärts in die Kuhweiden: Gerda übersah alles. Zu interessant war ihr die Aussicht auf den romantischen Seelenbund mit einem leibhaftigen Stammesgenossen der Argonauten und Arkadier. »So gewiß ich hier stehe, kann ich schweigen,« beteuerte sie nochmals, und daraufhin griff Tino Photinos in seine Brusttasche und reichte ihr die kleine Skizze.

»O! Das ist ja unsere Fischerkarin aus Holmsend – nein, wie reizend!« rief sie. »So im Vorübergehen müssen Sie's hingezeichnet haben, anders ist es doch gar nicht möglich gewesen. Aber das Schiff und die See sind aus Ihrem Kopfe, nicht wahr? Denn unsere Boote hier nehmen sich tausendmal plumper aus, und im Watt habe ich solche Wellen noch niemals gesehen: haushoch –! Ja – das könnten Sie drucken lassen, Tino, es ist beinahe, als ob es von Gustav Doré wäre. Kennen Sie die Bilder von ihm zu den Perraultschen Märchen?«

Tino bejahte, und bei dem ungeschminkten Lobe des anmutigen Kindes überflog ein feines Rot seine Wangen. Trotzdem sagte er mit ernstem Gesichte: »Obwohl meine Skizze Mademoiselles Beifall gefunden hat, werde ich sie verändern, indem ich die ruhige See dort unten studiere und den Schiffen ihre richtige Form gebe. Sonst verdrießt es mich später, daß sie nicht zur Figur des Mädchens passen. Die Kunst, so wie ich sie mir vorstelle, muß die Wahrheit selbst sein.«

»Ach, das mag sich hundertmal so gehören, aber es ist viel hübscher, gerade wie es da gezeichnet ist,« erwiderte Gerda und hielt das Blättchen ein wenig von sich ab. »Ihr Fischerboot gefällt mir besser als die hiesigen Backtröge mit den geflickten Segellappen, und unser Watt, wissen Sie, das ist eigentlich nur ein schmutziger Riesentümpel voll Tang und Schlick.«

Er bewegte die linke Hand ein paarmal rasch in der Luft hin und her, als wollte er sagen: »Laß ungesprochen, was du nicht verstehst!« und damit war das Thema für jetzt erschöpft. Auch schenken wollte er ihr das bewunderte Seebildchen nicht. »Ich muß es für einen großen Zweck aufbewahren, Mademoiselle,« erklärte er ihr. »Dieser Zweck enthält eben mein Geheimnis. Zu Hause werde ich Ihnen – Ihnen ganz allein – noch viel bessere Skizzen zeigen. Erinnern Sie mich daran, wenn es Ihnen gefällt. Noch eine kurze Zeit, Mademoiselle – und dann –!«

Seinen Satz vollendete er nicht; so straff, wie es seinem zarten Körper nur möglich war, richtete er sich in die Höhe und blickte mit großen Augen geradeswegs in die Sonne empor, ohne daß seine Wimpern zuckten. Da zog eine Wolke vor die himmlische Lichtscheibe, und auch aus Tinos Augen wich der Glanz, der aus einer fernen, schöneren Welt zu stammen schien.

Er versteckte seine Skizze wieder sorgsam, dort lag der trauliche Pfarrhof schon nahe vor ihm, und als gleich darauf die Pastorin ihm ein so herzliches Willkommen bot, wie er, der Fremdling, es von Rechts wegen kaum erwarten durfte, da war er wieder der scheue Knabe geworden, die Haltung zusammengesunken, die Augen unter finsteren Brauen.

Kurt Hallerslebens frisches, frohes Gesicht trug in dieser lachenden Sommerstunde mit fliegenden Fahnen bei Gerda den Sieg über Tino Photinos und seine interessanten Geheimnisse davon. Er jagte mit des Backfischchens Hilfe die bösen, goldlockigen Amorettchen von der Kuhweide auf den eingehegten Tugendpfad zurück, nun knarrte die Gartenpforte, und dann machte sich's die junge Gesellschaft in der Hainbuchenlaube um den gefüllten Obstkorb behaglich. Zum Glück für die allezeit hungrige Jugend hatte Merret Petersen gerade vor einer halben Stunde den Butterkuchen aus dem Ofen gezogen, was schadete es, daß er noch warm verspeist wurde? Trotz aller Unvernunft, deren Frau Mina ihre kinderlose Freundin bezichtigt haben würde, geschah den schmausenden Kindern kein Leid – im Gegenteil! – wie es eben bei gar vielen süßen, aber unerlaubten Genüssen im Leben geht.

Der Pfarrgarten war heute nach den Regentagen ein besonders reizendes, farbenbuntes Idyll in der unfruchtbaren Heide. Die Pastorin hatte nichts an der ursprünglichen, altmodischen Anlage geändert; schnurgerade lief der Mittelweg von Ost nach West, und zu beiden Seiten schloß sich eine Blumenrabatte an die andere. Da blühte es um die Wette! Alles umzogen von samtnem Maßlieb und blaßrosa Federnelken, dahinter nickten die braunen Skabiosen zu den leuchtenden Malven hinüber, schönäugige Stiefmütterchen deckten das Erdreich, und Verbenen und Heliotrop griffen mit ihren zerbrechlichen Rankenfingern dazwischen hinein. Am Gartenzaune hatten die Spätrosen ihr duftendes Revier, über sie hin spreizte der wilde Wein seine herbströtlichen Blattfächer, und die Reseda, die köstliche Balsamträgerin der nordischen Insel- und Küstengärten, wucherte üppig wie Unkraut im Sonnenschein.

Es war dem bedrückten Tino plötzlich, als sei er aus einer Wüstenei in seine warme, farbenprangende Heimat zurückversetzt worden, aber ohne des Oheims schwere Hand über seinem Haupte. Mit der federkräftigen Elasticität des Südländers, die gar oft Erwachsene kindlich erscheinen läßt, begann er aufzuleben gleich der Rose von Jericho und sich mit Wollust im Sonnenlichte zu sonnen. Sein trübes Gesicht veränderte sich bis zum Liebreiz innerhalb weniger Minuten, die schlaffen Züge spannten sich an, er plauderte und hantierte mit lebhafter Grazie, und die schmale Knabengestalt schien sich zu recken und zu dehnen. Zum ferneren Glück für ihn sprachen Kurt und Gerda gleich gut französisch, und die Pastorin mischte sich, ab und zu gehend, freundlich in die lebhafte Unterhaltung.

Kurt, der ein neidloser Charakter war aus dem einfachen Grunde, weil er sich seiner eignen Unwiderstehlichkeit in allen Lebenslagen deutlich bewußt blieb, fand in dem »Mulatten« alsbald ein ganz brillantes Kerlchen, und wer sich auf Gymnasiastendeutsch versteht, weiß, daß die so gespendete Beifallsäußerung hoch anzuschlagen ist. Im übrigen that, um für alle Fälle sicher zu gehen, der blonde Junker sein Allerbestes gegenüber der »holden Kleinen,« wie er in seines Herzens Tiefe die große und schlankgewachsene Gerda nannte.

Nach beendetem Schmause sprang Tino auf. Das alte Pfarrhaus schien seine Neugier zu reizen, und wie ein getreues Hündchen folgte er der Pastorin über den gepflasterten Vorhof, der, am laufenden Brunnen und den gekappten Linden vorbei, in die offene Diele führte. Das grüne Thor ward nur nachts geschlossen.

Seine Art, ihr Heimwesen zu bewundern, war der Pastorin merkwürdig und interessant. Zuvörderst geriet er außer sich über Jens Petersen, der inmitten der Diele auf dem Leiterwagen stand und durch eine gähnende Fallthür das gebündelte Heu des zweiten Schnittes auf den Speicher schleuderte.

»Welch ein Kopf! welch ein Charakter!« rief er, mit beiden Händen gestikulierend, und trat bald rechts bald links, um das eigentümliche Friesenprofil mit den straffen, gelben Haaren und vorliegenden grellblauen Augen zu betrachten. »Dieser Mann muß sehr wachsam sein, er hat den Blick der Hydrioten. Es kleidet ihn nicht, daß er eines Landmanns Arbeit thut,« bemerkte er, als er sich endlich vom Gegenstande seiner Bewunderung losmachte, und fügte hinzu: »Hat ihn schon jemals ein Künstler als Modell benutzt, Madame?«

»Jens Petersen? – o nein!« erwiderte die Pastorin. »Ist er denn wirklich so malerisch? Da müßt' ich mich ja schämen, das in all den Jahren nicht längst entdeckt zu haben!« Und nun fiel auch ihr, als sie sich noch einmal nach ihm umwendete, der besondere Schnitt seines Gesichtes auf: die langgestreckte, an der Spitze kurz abwärts gebogene Nase und der scharfe, gerade Mund, dessen Unterlippe vorsprang, um mit dem kantigen Kinn eine fast ungebrochene Linie zu bilden.

»Er ist übrigens kein Seefahrer, sondern ein einfacher Gartenbauer, der sich bei bösem Wetter hübsch warm hinter den Ofen setzt,« erklärte sie, und Tino Photinos entgegnete entschieden:

»Dann ist er an seinem wahren Berufe vorübergegangen, Madame! Er sollte Seemann sein oder Korsar; denn seine Augen schauen vor sich, als ob sie nach Klippen oder Raub in die Ferne spähten.«

»Wie scharf er beobachtet – er gefällt mir!« dachte die Pastorin und hieß ihn in die eigentlichen Hausräume eintreten. Sie zeigte ihm Eßzimmer und Wohnstube; er ließ seine feingegliederten Finger über das ehrwürdige Schnitzwerk des Paneeles hingleiten, um zu prüfen, ob die Arbeit in weichem oder hartem Material ausgeführt sei, und es entzückte ihn, daß die Oberfläche der Laubgewinde hart wie Stein und spiegelglatt von Alter und Sauberkeit war. Nun trat er ans Fenster mit dem Blicke auf die Hallig und ihren ernsten Kirchturm und, beide Hände eng um die Lehne des Armsessels geschlossen, betrachtete er das Bild vor seinen von Heimweh erfüllten Augen.

»Wie dunkel ist diese Insel – gerade als müßte der Tod auf ihr wohnen!« sagte er nach langem Schweigen mit unsicherer Stimme. »Ah – es thut weh, dorthin zu schauen: nur eines Adlers Auge vermöchte andere Töne zu finden als grau – grau – grau! Daheim sehe ich auch eine Insel vom Dache unsers Hauses; Paros heißt sie, und sie steigt weißlich wie Licht aus dem Meere. Abends wird der Fels unter der Sonne rot, sie durchglüht ihn. Aber jene graue Insel – es bedürfte des Höllenfeuers, um ihr Licht zu geben. Ja, es muß eine Insel der Unseligen sein – sie macht einem das Herz trostlos.«

Die Pastorin legte ihre Hand mütterlich auf die seinige. »Sie haben Heimweh,« sagte sie und zog ihn unwillkürlich näher zu sich heran. »Ich verstehe, daß Ihnen unsere Hallig da drüben weh thut. Auch ich sehe sie niemals ohne Schmerzen an; denn mein Bestes hab' ich dort verloren, aber an der Insel lerne ich täglich eine große Lektion: ›man darf sich nicht scheuen, der Trübsal, die Gott verhängt, tapfer ins Auge zu schauen?‹ Sie verstehen mich nicht, wie? Mein Französisch ist nicht gelehrt genug zum Philosophieren,« fügte sie hinzu, und ein sonderbares, heißes Gefühl durchströmte des Knaben vereinsamtes Herz, als er in die klaren, ruhigen Frauenaugen blickte und die reine Güte, das warme Mitgefühl in ihnen las. Er preßte stumm die Hand, die seine Finger hielt, und ließ sich, trotzdem er wohl verstand, was die Pastorin sprach, doch gern von der Aussicht auf das tote Watt und die arme Hallig hinwegführen. Erst nach langen Monden sollte ihm das Wort in die Erinnerung zurückkehren: »Man darf sich nicht scheuen, der Trübsal, die Gott verhängt, tapfer ins Auge zu schauen.«

»Kommen Sie, Lieber – ich will Ihnen noch etwas zeigen,« lenkte die Pastorin ab. »Möchten Sie meine bescheidenen Arbeiten sehen, da Sie sich augenscheinlich für Malen und Zeichnen interessieren? Ich bin eine schlechte Fußgängerin seit Jahren schon, da lasse ich denn meine Finger auf dem Papier spazieren wandern.«

»Ah! – Madame ist Künstlerin? wirklich?« Es blitzte in seinen Augen auf, und er hielt den Atem an.

Sie wehrte lächelnd ab. »O nein, nein! Nur Dilettantin im verwegensten Sinne des Wortes. Aber ich liebe die Kunst und suche sie zu würdigen. Dort, gerade vor Ihnen, ist das, was ich mein Atelier nenne; gehen Sie gern hinein?'

Einen Moment die höfliche Form vergessend, eilte er ihr voran in das kleine Gemach gegen Norden. Es eignete sich mit dem einzigen Bogenfenster vortrefflich für seinen Zweck. An den Wänden hingen allerhand anspruchslose Bildchen; eine Porträtstudie von Gerda, zu ruhig aufgefaßt für Tino Photinos' Geschmack, lehnte gegen die Staffelei, und auf dem bäuerlichen Tische mit den dreibeinigen Schemeln ringsum lagen viele Bleistift- und Kreideskizzen: Landschaftliches und Figürliches. Wie manches Schmeichelwort war der schönen Besitzerin dieses Kunsttempelchens schon gespendet worden, aber dieser fremde Knabe legte die Hände hinter dem Rücken zusammen, ging mit vorgestrecktem Kopfe und prüfenden Blicken von einer Wand zur anderen und stand, unsicheres Mißbehagen in den Augen, wohl fünf Minuten lang vor der Staffelei, ohne auch nur die geringste Bemerkung laut werden zu lassen. Dann breitete er die Skizzen auf dem Tische aus und schob sie abermals stumm beiseite, nur ein Blatt, das ganz zu unterst lag, sonderte er von den übrigen, nahm es behutsam in die Hand und betrachtete es mit ernster Aufmerksamkeit und leisem Kopfnicken.

Es stellte einen hageren Mann im Apostelgewande dar, der am Meere stand, die tiefen Augen emporgerichtet, die Hand halb abwehrend ins Weite hinausgereckt, als sähe er unfaßliche Bilder in den geballten Wolken des Horizontes. Über ihm breitete ein Adler die großen Schwingen aus, hinter ihm ging die Sonne nieder, so daß sein Haupt von einem natürlichen Heiligenscheine umgeben ward, und »Patmos« stand unter der Skizze geschrieben.

»Sankt Johannes, der Evangelist –,« sagte Tino mit gedämpfter Stimme und machte eine Handbewegung, als wollte er sich bekreuzen. »Wie schön ist Ihnen das gelungen, Madame! Eine Idee greifbar gemacht – zur Wahrheit! Woher kam Ihnen diese Eingebung?«

»Aus der Liebe. – Es ist das treueste Bild meines verstorbenen Mannes,« erwiderte die Pastorin ebenso leise, und Tino entgegnete mit feierlichem Ernste:

»Was unsere ganze Seele erfaßt, was die Liebe in uns erschafft, das muß uns so glücken – wenn wir nur Kraft behalten – Kraft ist das erste, und Ihnen, Madame, ist sie aus der Schwäche des Körpers entstanden! Welch ein Chaos ist doch dies Leben, Madame, und nicht alle finden den Faden! – Dieser Johannes hatte ihn gefunden, wenn sein Bild die Wahrheit spricht. Er sieht aus wie ein Helfer – warum lebt er nicht mehr, warum nahm ihn Gott hinweg?«

»Er hatte vollendet – ja! Sein Andenken hilft mir und kann durch mich auch anderen helfen,« sagte die Pastorin. Es ward ihr ganz weh und beklommen bei den Worten des fremden Knaben. Was mochte hinter seiner großen Stirn arbeiten, die erst neunzehnjährig, schon begann, sich mit feinen Fältchen zu durchfurchen?

Ehrerbietig den Kopf neigend, legte er die Skizze auf ihren Platz zurück. Irgend ein Urteil über die anderen Leistungen seiner neuen Freundin fällte er nicht.

»Ich bin noch sehr jung und aufrichtiger, als man es in meinen Jahren sein darf, Madame,« war seine ausweichende Antwort auf ihre Fragen. Da sie seine Aufrichtigkeit zu ermutigen suchte, verneinte er mit feiner ausdrucksvollen Fingerbewegung, wandte sich zur Thür, und dabei blieb es. Die Pastorin war im ersten Moment sehr unangenehm von dieser Schroffheit berührt, als er aber, gleichsam abbittend, wie zwei Tage früher Gerdas Hand, so jetzt die ihrige zuerst zum Kuß an die Lippen und dann gegen seine Stirn drückte, da wandelte sich ihr Unmut in den Ausruf: »Gott behüte Ihr ehrliches Herz, mein Kind!«

»Er segne das Ihre, Mamakamou!« gab er zurück, und das seltene, liebliche Lächeln verklärte sein Gesicht.

Vom Eßzimmer führte ein französisches Schiebfenster in den Garten hinaus, und bald tummelte sich die Jugend auf dem Grasplatze beim Ringspiel. Tino sprang hoch und blitzschnell wie ein Akrobat und lachte ein paarmal kurz und hell auf, um in den Pausen wieder und wieder, an Gerdas krummen, alten Augustapfelbaum gelehnt, nach der Hallig hinüberzublicken. Immer feurigere Strahlen warf die Abendsonne, aber keiner vermochte den schwärzlichen Sargdeckel zu erreichen, an dem die bitteren Wasser des flutenden Meeres höher und höher hinausschlugen. Nun begannen die Grillen lauter zu zirpen, die Möwen schwebten schräg und schossen gellend zu ihren Ruheplätzen abwärts, eine salzige Kühle ging plötzlich durch die warme Sommerluft, und das Vergnügen am Spiel erschöpfte sich.

Die Pastorin sah von fern den Direktor über die Weiden kommen. Sie wandelte ihm, auf ihren Stockschirm gestützt, entgegen, und weit hinaus folgten ihr die plaudernden Stimmen der drei jungen Leute, die nebeneinander auf der Grasbank des Luginsland saßen. Ihre Köpfe standen als schwarze Schattenrisse im flammenden Goldgrunde des Abendhimmels. Zwischen das eifrige Geplauder hinein zwitscherten die Stimmchen der beiden ballfangenden Kleinen unten im Garten.

»Wie liebenswürdig, daß Sie doch schon heute zu mir kommen, Franz,« sagte die Pastorin, als der Nahende sie erreicht hatte, »und wo ist Mina?«

»Mina beaufsichtigt den heiligen Sonnabend, läßt das Unterste zu oberst kehren und grüßt schönstens,« entgegnete Tychsen. »Ich habe mich ihr für die Sicherheit unserer Jugend verbürgen müssen, so wird es heute nichts mit einem gemütlichen Erzählabend unter vier Augen werden, meine gute Alice, und doch hab' ich alle Taschen und Gedanken voll von Erinnerungen und mächtigen Eindrücken und das vollständigste Material zu einem neuen Gedichtbande gesammelt. – Aha! Tinomou schon ganz heimisch bei Ihnen! Bei seinem verzweifelten Temperamente habe ich das kaum zu hoffen gewagt. Der dritte im Bunde ist wohl der junge Hallersleben? Meinen Sie, daß er einen Kameraden für den Tino abgeben wird?«

» Qui vivra verra,« entgegnete sie. »Mein Neffe ist ein charmanter Junker Leichtherz vom Alltagsschlage, erfüllt von der kindischen Weisheit und Plänemacherei seiner achtzehn Jahre. Er wird Ihnen ganz gewiß niemals eine Minute Schlaf rauben. In Ihrem Naxioten steckt etwas Besonderes, wenn die Zeichen nicht trügen. Er ist ganz und gar eigentümlich mit seiner schönen Häßlichkeit und seinen Augen voller Fragen und Rätsel. Es würde mich lebhaft interessieren, Näheres über ihn zu wissen; denn ich wünschte wohl, ihn manchmal hier bei mir zu sehen, falls Sie nichts dawider haben.«

»Gar nichts in der Welt – im Gegenteil! Für wen wäre Ihr Interesse kein kostbares Geschenk, liebe Alice?« sagte er, ihre Beurteilung seines griechischen Zöglings geflissentlich überhörend, und bot ihr den Arm. Sie legte ihre Hand leicht auf seinen Ärmel und schwieg, bis er fortfuhr: »Mina findet den Jungen vorläufig abscheulich! Ehrlich gestanden, habe ich meine Frau noch niemals so unliebenswürdig gesehen wie gestern und vorgestern. Gottlob hat sie rasch wieder Vernunft angenommen, nachdem ich ihr alles Nötige auseinandergesetzt habe. Bei Ihnen wird mir diese Arbeit leichter gemacht!«

»Ja, ja, ich schöpfe auch den Rahm von der Milch, oder besser gesagt, ich genieße nur das eventuelle Vergnügen, Gastfreiheit üben zu dürfen, und muß nicht wie Mina die Sorge und Verantwortung für den Monsieur Tino tragen,« antwortete die Pastorin und drohte lächelnd mit dem Finger. »Machen Sie mir meine Mina nicht schlecht, Freund Franz! Ihr unentbehrlichen Männer seid uns Frauen gegenüber nicht immer von salomonischer Gerechtigkeit, namentlich wenn ihr uns sicher am Ringe führt! – Nun also erzählen Sie mir Tinos Geschichte, aber zuvor lassen Sie sich noch ganz nebenbei sagen, daß Sie wirklich prächtig braun und frisch aussehen. Alle Überarbeitungsblässe vom Frühjahr ist hinweggewischt.«

Er lüftete dankend den Hut und hob seinen Kopf noch ein wenig höher; denn umsonst wird ein Mann nicht »Lohengrin« oder »Zeus von Otricoli« zubenannt, je nach Alter und Geschlecht seiner Bewunderer in der besten Gesellschaft eines Städtchens von zehntausend Einwohnern. Auch der klügste und unfehlbarste Gymnasialdirektor hat seine Stelle, wo er sterblich ist!

»Eigentlich müßte ich beim Großvater Photinos anfangen, um Ihnen den Tino klar zu schildern,« begann er und wendete, nachdem er seine Uhr zu Rate gezogen hatte, an der Gartenpforte mit der Freundin noch einmal auf dem schmalen Wiesenpfade um. »Das aber würde viel zu weit führen, und nach unsern ›ehrdrähtigen‹ Begriffen, um mit Merret Petersen zu reden, ist der Roman schon ohnehin romantisch genug. Die Photinos also haben von altersher Weinbau getrieben, und seit Generationen holten sich alle Männer ihre Frauen von den Mainoten, drunten aus den taygetischen Bergen. Tinos Mutter war eine Kazzaros, eine feurige Person, der Vater in allen denkbaren Künsten Autodidakt. Er ließ seine Weingärten verkommen und verschleuderte sein Vermögen in Athen und Smyrna unter Sängern und Improvisatoren. Mit allen denen stand er auf du und du, und seine Frau, ganz entgegengesetzt der weiblichen Würde und Sittsamkeit ihrer Landsmänninnen, trieb ihn immer höher in die leichte Luft hinauf, bis er nicht mehr darin atmen konnte. Er fand sein Ende, und wenig poetisch war es! Einfach im Schlamm zu Grunde ging er und zog seine excentrische Frau mit sich hinab. Die Einzelheiten der tragischen Geschichte sind mir verschwiegen worden, und – was gehen sie mich auch an!

»Kurz und gut, mein Freund Mavro Photinos, des Verstorbenen älterer Bruder, ward Vormund und Nährvater Tinos, der das einzige Kind seiner unglücklichen Eltern geblieben und anscheinend gänzlich von ihnen verabsäumt und vergessen worden war. Sie müßten dies Original, den Mavro Photinos, kennen. Alice! Aus hartem Holze geschnitzt, rasch Feuer fangend wie ein Kienspan, dabei praktisch und geldliebend, der Vertraute seiner Arbeiter und der Seefahrer des halben Archipels, sein Gehör merkwürdig scharf für Reim und Rhythmus der Volkspoesie. Vom Munde ab lauscht er den Leuten ihre Liedchen, schreibt sie aus dem Gedächtnis auf und schlägt den Gewinn, den er daraus zieht, zu Tinos Erbe.

»Nun, Mavro also hatte Tinos Wartefrau, die alte Dada Erini, auch eine Mainotin, mit dem Kinde zugleich ins Haus genommen, weil das Bübchen eine elende, verdorrte kleine Pflanze war und an Dada Erini gewöhnt. Drei oder vier Jahre lang hat er den Knaben der Alten noch überlassen, bis aus dem Gespenstchen ein Menschchen geworden war, das einen gewaltig harten Kopf und eine gefährlich erregbare Phantasie entwickelte.

»Jetzt schiebt sich ein reizendes kleines Idyll in diese Geschichte ein, Alice, und Freund Mavro mit den funkelnden Augen und beredten Händen müßte Ihnen heute an meiner Statt jenes Idyll so köstlich schildern, wie er mir's that, als er erzählte, auf welche Weise er den Urgrund von Tinos Phantastereien erforscht habe. Stundenlang pflegte er abends hinter dem Diwan des Kinderzimmers verborgen auf der Matte zu liegen und den Verkehr zwischen Dada Erini und ihrem Pfleglinge zu belauschen. Die Alte ist ein wandelndes Märchen gewesen. Die wunderbarsten und ungeheuerlichsten Geschichten sind ihr von den Lippen geflossen, und das bleiche Knäbchen hat zitternd zwischen ihren Knien vor seiner Schiefertafel gehockt und zu den Märchen die Bilder gekritzelt. Wie mir der Mavro dies Genrebild anschaulich beschrieb! Sie hätten das braune Weib mit der Kunkel und dem bunten Musselinkopftuche nicht nur leibhaftig vor sich gesehen, sondern auch sprechen hören:

»›Tinomou! mache es richtig! Drei Köpfe muß der Drache haben und aus dem Schlunde züngelt er Flammen – recht, recht! Laß ihm auch unter den Füßen hervor Flammen schlagen – ei! wie es brennt, Phosmou Tino, mein süßes Lichtchen aus Gottes Hand! Und male der Calliste, der Armen, ein schönes Angesicht, schön, rat' ich dir, und sehr traurig, und die Thränen lässest du ihr in runden Tropfen zur Erde fallen. Viel Thränen, Tinaki; denn wisse, ihren Geliebten hat der Drache verzehrt. So, so, zeig her, laß mich anschauen und vergiß mir bis morgen das Märchen nicht. So, so, nun legst du dich nieder, mein Vögelchen, schlafe gesegnet, und wenn die dunkle Nacht dich schreckt, dann schlägst du ein Kreuzchen und schaust nach den Augen der heiligen Engel da draußen am Himmel?‹

»Auf solche Weise lebte das Kind in einer Traumwelt zwischen Weinen und Lachen, und Mavro gestand sich's in tödlicher Angst, daß der Sohn alle Anlagen besitze, zu werden und zu enden, wie der Vater vor ihm. Er verwünschte in mancher stillen Stunde sein bescheidenes poetisches Familienerbteil: die Liederliebe. – ›Bin ich nicht von meines Bruders Blute?‹ fragte er sich oft. ›Könnte dies unschuldige Kind von meinem Feuerchen nicht auch hier einen Funken und dort einen auffangen, wenn es größer wird und mit mir ins Meer hinausfährt, wo die Ruderer mir ihre Lieder singen? Weiß ich, wie hoch die Flamme schlägt, die mein Fünkchen anfacht? Ich bin ein alter Mann, und meine Mutter war keine wilde Kazzaros wie seine Mutter! Gott verzeihe dem unseligen Bruder seine Wahl!‹ – So quälte er sich, denn er ist die Pflichttreue in Person.

»Er beschloß, das Übel mit der Wurzel auszurotten, und entfernte den kleinen Phantasten eines Tages völlig unvorbereitet von Dada Erini. Zuerst steckte er ihn in die heimische Klosterschule, brachte ihn dann nach Athen, und da die Herrlichkeit des Piräus und seiner sagenschönen Hauptstadt Tinos Neigungen nur zu begünstigen schien, entfernte der Oheim ihn auch von dort und versetzte ihn nach Marseille in die beste der Schulen, die auf eine rein praktische Laufbahn vorbereiten. Von den Stunden für Zeichnen, Musik und Rhetorik, die besonders bezahlt werden mußten, ward er streng ausgeschlossen; so, meinte Oheim Mavro, solle ihm das Fabulieren und Träumen schon vergehen. Allein trotz der Sorgfalt, die man dem gut zahlenden Ausländer angedeihen ließ, konnte der Direktor des collège in seinen Briefen an Mavro nichts als Klagen über Tinos Trägheit, Starrsinn und aufrührerisches Wesen melden; Tino selbst ließ kaum zweimal im Monat eine gleichgültige Epistel heimgelangen. Endlich schrieb vor etwa vier Wochen Lesure, der Direktor, nach Naxos, daß der Junge, erneuter rebellischer Umtriebe halber, seine Ausweisung aus dem collège erhalten habe, und daß der Pflegevater wohl thun werde, den Sünder schleunigst abzuholen.

»Malen Sie sich aus, Alice, was darauf geschah. Dem Briefe folgte drei Tage später eine arg verstümmelte Depesche, der entsetzte Mavro besann sich eine gute Woche lang ratlos in seinem einsamen Hause, weil er niemandem die Schmach des Neffen anvertrauen wollte, und da war es, daß ich auf Naxos anlangte. Gleich in der ersten Stunde schüttete er mir, dem Fremden, Unbeteiligten, sein geängstigtes Herz aus, und ich riet ihm dringend, sofort ausführlich ans collège zu depeschieren. Wir saßen auf dem platten Dache bei Kaffee und Eingemachtem, vom Meer kam der warme Wind, und vor einer Viertelstunde hatten wir das unsichere, kleine Paketboot der Kalimarchischen Gesellschaft einlaufen sehen. – Da stolpert urplötzlich der junge Hausdiener zu uns in die luftige Region des Dachaltans und meldet: Kyrios Antinoos sei soeben heimgekehrt. Gott weiß, wie mein Mavro treppab kam! – glauben Sie mir, Alice, es war nicht Neugier, die mich ihm auf dem Fuße folgen hieß! Der Alte machte ganz gefährliche Augen! Unten im Wohnraume stand denn der Kyrios Antinoos, den Reisesack neben sich, und bekannte mit kaltem Trotze, daß er aus dem collège entlaufen sei und sein seit Jahr und Tag zusammengespartes Taschengeld zur Heimfahrt benutzt habe. Versetzen Sie sich, bitte, in die Lage des armen Mavro gegenüber einer That so unerhörten Undankes! Wer mag ihm, der dem Knaben Opfer auf Opfer gebracht, im Grunde seinen Jähzorn verargen? Fassungslos wie er war, schlug er zuerst blind auf den Ungehorsamen ein, drohte ihm dann mit den fürchterlichsten Strafen und schrie ihm sogar entgegen: ›Auf der Stelle mit eigner Hand werfe ich dich drüben vom Felsen ins Meer hinab, wenn du nicht kniefällig Besserung gelobst!‹ – ›So laß uns gleich gehen; denn bessern will ich mich nicht!‹ antwortet ihm der Junge! – Nie in meinem Leben habe ich als dritter ein solches Aufeinanderplatzen elementarer Leidenschaften beobachtet! Ein wahrhaftiger Menageriekampf, Alice! – Stundenlang ging es so fort, und das Ende vom Liede war Mavros flehentliche Bitte und mein Versprechen, ihm den jungen Hartkopf zu bändigen. So stehen die Sachen also. Anstatt des öden Marseiller collège-Daseins soll er ein gutes, deutsches Familienleben teilen dürfen und meinerseits eine gewissermaßen väterliche Aufsicht genießen, aber lernen muß er und wird er, und wehe ihm, wenn er mir je Seitensprünge auf verbotenes Gebiet macht. Freund Mavro hat mein Wort, und ich halte jeden Buchstaben davon!«

»Also – das ist Tino –« sagte die Pastorin langsam, und alle weiteren Randglossen des Direktors zu seiner Erzählung gingen an ihrem Ohre vorüber. Sie sah nur die schwächliche Knabengestalt mit dem Lockenkopfe vor ihren Bildern stehen und vergegenwärtigte sich nochmals den Ausdruck kritischen Verständnisses in den seltsamen Augen und um den weichen Mund mit all seinen sprechenden Linien.

»Ob ihm Liebe nicht besser als Strenge auf den richtigen Weg hülfe?« fragte sie, tief aus ihren Gedanken heraus, als sie wieder an der Gartenpforte anlangten.

Der Direktor belächelte die Sentimentalität des weiblichen Geschlechtes, schüttelte den Kopf und sagte sein wohlbekanntes eisernes: »Nein!«

»Wohin denken Sie? Harte Steine zersprengt man nicht mit Hasenpfötchen, sondern mit dem Hammer,« entgegnete er. »Ich habe mich im Hause meines Freundes durch seine Erzählungen und aus eigener Beobachtung heraus genügend über Tinos Charakter unterrichtet, bin auf ›Strenge‹ vereidigt worden und denke vorläufig nicht daran, diesem Pakte untreu zu werden. Außerdem hat mich der Junge während der langen Heimreise mit der bodenlosesten Verbissenheit gereizt, und wenn ich augenblicklich noch Nachsicht übe, so geschieht das, weil man zu Anfang dem Heimweh ein gewisses Recht einräumen muß. Verdient und sucht er dereinst meine Güte, so werde ich sie ihm, innerhalb der Grenzen meiner pädagogischen Grundsätze, zu geben wissen.

Die Pastorin gelangte zu keiner Antwort mehr, weil Gerda ihr und dem Schwager in vollem Laufe entgegenkam:

»Tantchen! Franz!« rief sie. »Wir dachten schon, ihr wolltet in der Kuhweide Wurzel schlagen, und ist das wohl gut für deine Nervenschmerzen, Tantchen? Es ist längst acht Uhr; Minchen und Liese schlafen drin auf dem Sofa, Mina wird in tausend Ängsten sein! Und der Monsieur Tino ist so müde, daß er Kurt mit Gähnen angesteckt hat. – Nächstens bin ich auch soweit, wenn ihr's wissen wollt!«

»Ihr seid mir ja eine reizende Gesellschaft beisammen,« sagte der Direktor. »Mache die Kinder munter, kleine Schwägerin, und gönnen Sie mir einen Schluck Wein nach meiner langen Geschichte, Frau Alice. Ehe ich's vergesse: Mina bittet für morgen Abend zum Thee, Ihr Neffe kann morgen mittag definitiven Bescheid bringen. – Nun – da kommen ja die Jünglinge; großer Gott, wie schlecht sich der Tino hält! Gleich Montag muß er mit der größten Energie ans Turnreck! – Guten Abend, Hallersleben; Sie sind mir bereits durch Ihre Frau Tante bekannt,« entgegnete er auf Kurts Gruß, der weit mehr ritterlich als ehrfurchtsvoll ausfiel, und berührte dabei oberflächlich seinen großen Strohhut. »Morgen vormittag Punkt zwölf Uhr haben Sie sich im Konferenzzimmer zur Prüfung einzufinden.«

Kurt verbeugte sich zurücktretend. »Donnerwetter! dieser kalte Halbgott! Der steht ja schon Statue, ehe er das Verdienst dazu hat!« dachte er und belustigte sich innerlich so sehr über seinen feinen Witz, daß er Mühe hatte, ein gefaßtes ›Gute Nacht!‹ zu sagen.

Im hellen Mondschein wandelte der Hausvater mit seiner kleinen Schar über die Wiesen heimwärts. Das jüngste der beiden Blondköpfchen trug er in den Armen: es schlief fest, das ältere ritt Huckepack auf Gerdas Rücken, klopfte das mutwillige Pferd mit beiden Fäustchen und lachte und kicherte lustig in die Nacht hinein. Gerda sprang voraus, als trüge sie nur eine Feder. Ihr Schatten huschte über den Weg, wie der eines flüchtigen Vogels.

Ganz im Nachtrabe folgte Tino. Er ging, einem Nachtwandler gleich, unsicher und stolpernd. Seine Augen hingen weltentrückt an den zuckenden, blitzenden Sternen über seinem Haupte und an der Schar wunderschöner Silberwölkchen, vor denen der Vollmond dahinglitt, so ruhig, so klar, wie eine leidenschaftslose, reine Seele. – Da trug der Nachtwind plötzlich das tiefe, leise Schluchzen der See an des Knaben Ohr; er schlug beide Hände vors Gesicht und begann bitterlich zu weinen, er wußte selbst nicht, um was. – »Mamakamou! – mein Mütterchen!« flüsterte er ins Weite hinaus. Stieg in seiner verlassenen Seele das verdämmernde Bild der eignen kaum gekannten und verlorenen Mutter auf? oder gedachte er ihrer, die ihm heute so innig gesagt hatte: »Gott behüte Ihr ehrliches Herz, mein Kind?« – Er verdiente den Wunsch nicht – sein Leben war eine Lüge und ein Versteckspiel, und das schmerzte ihn nagend!

Eine Stunde später hielt der Schlummer sein unruhiges, zweifelmütiges Herz schon in weichen Armen. Er war jung, und die Nächte pflegen der Jugend barmherzig zu sein.


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