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Tino Photinos.

Erstes Kapitel.

Der alte Pfarrhof liegt ganz außerhalb der kleinen schleswigschen Küstenstadt, ein langes, niedriges Gebäude, von verwitterten und bemoosten Ziegeln gedeckt. Seine Westseite, die vom Watt abgekehrt ist, überzieht die hundertjährige Rankrose mit ihren klammernden Ästen. Sommers wird das Blättergrün fast verdrängt von unzähligen blauroten Flatterröschen, die so süß duften wie frischer Honig und große Hagebutten ansetzen. Da und dort in den Fensterecken klebt ein Schwalbennest, und den ganzen Sommer lang begrüßt lieblich-einfaches Gezwitscher das Erwachen der Sonne und beklagt ihren Niedergang. Und wenn es allerorten still und dunkel ist, rascheln von Zeit zu Zeit die Flügelspitzen der Schwalbenmutter, die ihre Jungen deckt, gegen den Epheu, der mit den Rosen um die Wette wuchert. Über die Regenrinne hinweg wirft er sich zum First des gebrochenen Daches empor, und vor der Hausfront, nach Osten, stehen drei scharfgekappte Linden. Geäst und Blattwerk zeigen große Lücken, weil vom nahen Watt her der rauhe Seewind sein Spiel mit den Wipfeln treibt, und an Sturmtagen prallen wildkreischende Möwen im Fluge gegen die starken Fensterscheiben.

Von ihrem Söllerplatze im Wohnzimmer konnte die Pastorin weit, weit in die Ferne schauen, über Wiese, Werffte und Deich hinweg auf die endlose Wasserfläche. Zur Ebbezeit lag die große Hallig gerade vor ihr wie ein schwarzer Sargdeckel; wenn aber die Flut hochging, ragte nur das Türmchen der kleinen grauen Kirche über die Wellen empor, gleich dem erstarrten Finger eines Versunkenen, der mahnend gen Himmel weist.

So wenigstens deutete sich's die Pastorin gern und dachte dabei an ihren verstorbenen Mann, der einst dort drüben in der grauen Halligkirche an jedem zweiten Sonntage gepredigt und treu für die Seelen derer gesorgt hatte, die auf der armen, meerumbrandeten Erdscholle ihr ernstes, unsicheres Dasein fristeten. Auf einer nächtlichen Berufsfahrt hinüber hatte er auch damals, um die Zeit der bösen Vorfrühlingsstürme, seinen Tod gefunden, er und Peter Petersen, der Fährschiffer mit seinem Jüngsten. Jens Petersen, der älteste Sohn, war schon seit langem Knecht auf dem Pfarrhofe gewesen und blieb es auch; denn seine Merret besorgte der Pastorin die Haushaltung, und die beiden kinderlosen Frauen hatten sich aneinander gewöhnt.

Als der erste tiefe Eindruck vom jähen Tode des Pastors sich ausgeglättet hatte und das Gnadenjahr der Witwe zu Ende ging, wollte der Magistrat den alten Pfarrhof auf Abbruch verkaufen lassen. Das neue Pastorat neben der Kirche, ein stilloser Backsteinbau mit grünglasierten Simsen und Fensterbögen, paßte sich den Ansprüchen der Neuzeit jedenfalls besser an, als die entlegene Baracke aus dem siebzehnten Jahrhundert, die eine reichliche Viertelstunde vom Gotteshause entfernt lag, ein Betteleldorado alles fahrenden Volkes, das die Provinz durchstreifte. Vorzeiten hatte das uralte Borromäuskirchlein zum Pfarrhof gehört, bis Blitzschlag und Feuersbrunst es in Asche legten, und dann waren die geschwärzten Steine vollends abgetragen und zum Hafenbau verwendet worden. Allein der einsamen Lage zum Trotz wollte die Pastorin sich durchaus nicht vom Heim ihres zehnjährigen Eheglückes trennen. Sie erwarb es um bescheidenen Preis: der Begriff »mein Eigentum in der Stille« hatte einen seltsamen Reiz für sie, obwohl keine Seele ihr dies Eigentum neidete. Sie indessen ließ sich nicht irre machen.

In jenen sonnigen Lenzeswochen, die dem Hauskaufe folgten, konnten die Spaziergänger auf ihrem Wege zum Watt tagtäglich die schlanke, schwarze Frauengestalt mit eigner Hand im Pfarrgarten ordnen und schaffen sehen. Über ihrem gesenkten Haupte verflochten sich die krummen Äste der Obstbäume mit dem Blütensegen im junggrünen Laube, und die knospenden Gesträuche drängten sich gegen ihr Trauerkleid. Jens Petersen gärtnerte schweigsam ihr zur Seite, und seine Frau, eine große, beleibte Person, um fünf Jahre älter als ihr Eheherr, goß auf dem Rasen die Bleichwäsche, so recht kräftig von oben herab. Die Fenster des Hauses standen dem goldenen Sonnenscheine weit offen, und die nestbauenden Schwalben schossen zwitschernd ein und aus. Eine Heimstatt des Friedens: und das reine, sinnende Gesicht der Witwe zwischen ihren Blumen paßte in den Rahmen des Zweigwerks und zu dem Hintergrunde von blaßblauem Frühlingshimmel und silberfarbener See.

»Und sie hat doch recht gethan mit dem Hauskauf, man möchte sie um ihr Idyll beneiden,« sagte Franz Tychsen, der Gymnasialdirektor, der mit seiner Gattin auch am Pfarrhofsgarten vorüber lustwandelte. Die kleine bewegliche Dame im hellen Kleide warf der Freundin über den Zaun hinweg eine Kußhand zu und rief im Vorbeigehen:

»Wir kommen nachher zu einer Tasse Thee herein, liebste Alice!«

Die Pastorin sah von ihrem Tazettenbeete auf, winkte und nickte, und die Direktorin sagte in begeistertem Tone zu ihrem Manne:

»Sie sieht geradezu himmlisch in ihrem neuen Kleide aus, findest du nicht, Fränzchen? Man könnte sie ewig bewundern und findet niemanden schöner als sie. Woran liegt das nur?«

»Ja, ja, ihr Gesicht ist eins von denen, die Botticelli malte, und die sind zum Anbeten in dieser Welt,« entgegnete der Direktor und drückte dabei den runden Arm seiner hübschen Begleiterin fest an seine Seite. »Mach' mir keine eifersüchtigen Augen, liebstes Minchen; bei dir hat Meister Rubens Gevatter gestanden, und so dürft ihr beide über und über zufrieden sein.«

Sie lachte vergnügt und plauderte lebhaft weiter von all ihren kleinen Freuden und Leiden, die ihr gewaltig groß erschienen, während er immer wortkarger wurde. Er dachte an seine jüngst vollendete Feiertagsarbeit, an die große Sammlung neugriechischer Volkslieder, die er vor wenigen Monaten in Übersetzungen herausgegeben hatte. Ein Gedichtchen verfolgte ihn förmlich, es war das von Evanthia, der Gärtnerin:

Es sprach zu mir die süßeste der Rosen
Und meines Herzens Blume, Evanthia:
»Laß, o Chryssos, dein Äugeln und dein Kosen!

Dich, Kecker, täuscht des Abendgolds Geflimmer,
Das mir die die weiße Wange rötlich malet –
Die Blume bin ich, doch die Rose nimmer!

Ich bin, Chryssos, von heiliger Familie,
Gen Himmel strebt mein Wuchs und strebt mein Sehnen –
Die Rose glüht, doch niemals glüht die Lilie!«

Das Lied ließ ihn während des langen Spazierganges, zum Holmsend nordwärts, nicht los, ja, es zerstreute ihn selbst noch beim Thee in der Pastorin traulichem Eßzimmer, wo die Veilchen und Jonquillen im bunten Fayencekruge dufteten und die alten englischen Theetassen – flach mit starker Vergoldung – so gut zu dem alten, wappengeschmückten Silber paßten. Über dem Sitze der Hausfrau hing das Jugendbild des Pastors: der vorgebeugte Kopf mit der rundgewölbten Stirn über tiefliegenden Augen und dem großen, feingeschlossenen Munde schien sich lebend aus dem dunklen Hintergrunde zu lösen. Er war, wenn auch dem Erdendasein entrückt, dennoch ganz untrennbar vom Pfarrhofe und seiner Herrin. – Frau Mina Tychsen verglich unter raschem Wimperschlage das getreue Bildnis des Toten mit dem männlich schönen Gesichte ihres eignen Gatten, und auf dem Heimwege wiederholte sie die unzählig oft gestellte Frage:

»Wie hat nur Alice diesen häßlichen, schweigsamen Mann heiraten können, gerade sie, so vornehm und reizend!«

Keine Seele im Städtchen, obwohl der Pastor allgemein verehrt worden war, wußte dies Rätsel zu lösen, nur Frau Alice selbst hätte das »Warum« sehr genau zu beantworten vermocht, aber es lag ihr nichts daran, ob die Welt ahnte, wie glücklich sie mit ihrem Gatten, dem einstmaligen Hauslehrer ihrer Brüder, gewesen war. Ja, um seinetwillen hatte sie den Zusammenhang mit ihrer Familie gelöst und die siebenperlige Krone hinter sich geworfen ohne Reue.

Während der ersten Jahre ihres Ehelebens war Franz Tychsen noch Oberlehrer und vielbegehrter Junggesell gewesen, und, um den Nachstellungen der Heiratsstifterinnen zu entgehen, pflegte er sich fast allabends in die Stille des Pfarrhofes zum ehemaligen Corpsbruder aus Heidelberger Tagen zu flüchten. Frau Alice saß dann gern als dritte im Bunde am Sofatisch, und so oft der Hausfreund seine Sonde in ihre Liebes- und Brautzeit senken wollte, versicherte sie halb scherzend, halb wehmütig, daß Theodor Storm der eigentliche Urheber ihres Glückes und der Träger ihres friedlichen Geschickes sei. Durch seine Dichtungen hatte sich in ihr, der Großstadttochter, eine verzehrende Sehnsucht nach der Seeküste und der nordischen Heide festgesetzt und so, als der Kandidat Breitschwerdt endlich die schleswigsche Pfarre zu Holmswyk an der Küste bekam, folgte sie ihm glückselig nach dreijährigem heimlichen Brautstande. Mit dem Herzen ward sie in der neuen Heimat warm und – fast noch ein Kind an Jahren – spann sie sich in ihr häusliches Idyll ein, emsig weiterlernend und allgemach in den Beruf der Gattin hineinwachsend. »Für das Glück ist man niemals zu jung,« behauptete sie gern, wenn irgend ein braver Mitchrist die Hände ob der Thatsache zusammenschlug, daß »unsere Pastorin« bereits vor ihrem siebzehnten Geburtstage eine Braut gewesen war.

Wie hatte sie es schon als ganz junge Frau geliebt, in der Hainbuchenlaube des Gartens oder am Wohnstubenfenster hinter ihren Geranien und Myrten zu sitzen, in Abendrot und jagende Wolken zu schauen und ein Stündchen vor Lampenlicht zu träumen. Jahrelang träumte sie immer nur das eine: daß sie ein liebes, winziges Kinderköpfchen – (natürlich ein Knabenköpfchen würde es sein!) – an ihre Brust drücke und es küsse und sich am Abbilde der tiefen Augen ihres Mannes und seines ausdrucksvollen Mundes entzücke. Ja, sie ertappte sich einmal dabei, daß sie ihre eigne weiche Hand inbrünstig gegen die Lippen preßte, unter der Übermacht dieser holden Einbildung, aber die Jahre vergingen und das Knabenköpfchen brachten sie nicht, keine Wiege ward im Pfarrhause geschaukelt, kein helles Stimmchen jauchzte, kein unbeholfenes Füßchen trippelte durch die sonnenhellen, warmen Räume. Und so allmählich verloren sich Wunsch und Hoffnung, daß niemals Bitterkeit in dieses kinderliebe Herz einzog. Im Gegenteil: am Wünschen und Hoffen keimte und erstarkte jene schöne Spielart echter Mütterlichkeit, die auch in der Brust kinderloser Frauen das reinste und selbstloseste Lieben auf Erden, das Lieben einer Mutter, zur Reife bringen kann.

Nun war alles vorbei, sie stand allein in ihrer kleinen, leichtumfriedigten Welt zwischen Wattensee und Heide. Da lebten ihre Erinnerungen und die beiden treuen Seelen mit ihr fort, die ihr unter dem Sonnenschein des Glückes und im Schatten des Leides gedient hatten. Jens Petersen grub und säete und zahlte pünktlich seine Pacht für den Streifen Landes, den ein Zaun aus verwitterten Walfischrippen, von bunten Wicken überrankt, gegen den »Lustgarten« hin abgrenzte. Der kleine Streifen war von wundersamer Ergiebigkeit, er versorgte die halbe Stadt mit Gemüse und Wurzkraut aller Art: sogar blutrote Monatserdbeeren verstand Jens zu zeitigen, und die würzigen Früchte, in ihre eignen, taufeuchten Blätter gebettet, waren sein freiwilliger Sommerzehnt an die Pastorin, deren Dank er mit schmunzelndem Gleichmute entgegennahm.

Das Ehepaar wohnte im Erdgeschoß des Pfarrhofes, links von der Hausdiele, da, wo einst die lange, schmale Totenkammer gewesen war. Denn vorzeiten hatte man nicht umsonst Pfarrhof und Kirche so nahe an die Seeküste gerückt, nicht grundlos ging die Sage im Volke: daß Altar und Kanzel sechs Monate vom Jahr schwarz ausgeschlagen gewesen seien und die anderen sechs Monate mit einem traurigen Düsterviolett. Die Tücken des Wattenmeeres: Nebel und Nordoststürme zur Zeit der Äquinoktien, hatten manch gutes Schiff mit Mann und Maus vernichtet, manchen Boten und Schlickgänger in die bösen Tiefs zwischen den Bänken hinabgerissen, damals, ehe die Hafenwerke diesseits der Barre ausgebaut waren und ehe man die Rettungsstation am Holmsend, eine Viertelstunde höher nordwärts, errichtet hatte. Es war ein schlimmes Fahrwasser und ein trügerischer Weg um die Ebbe zwischen Festland und Hallig! Schon vor mehr als zweihundert Jahren pflegten die Pfarrherren zu Sankt Borromäi alle die Strandleichen in der schmucklosen Totenkammer ihres Pfarrhofes aufbahren zu lassen und einzusegnen, bevor sie zu Staub vergingen im Heideboden des Seegartens. So hieß die Gräberkolonie für die ertrunkenen Fremdlinge, im Gegensatze zum warmeingehegten Kirchhofe jener Gestorbenen, denen Thränen und Gedächtnis in die Gruft folgen, um als Goldbuchstaben und lobpreisende Sprüche wiederzuerstehen. Vom Pfarrhofe sah man abends die hohen Holzkreuze des Seegartens gegen den flammenden Himmel aufragen, und von dort aus dehnten sich Wiesen und umzäunte Kämpe, Heidestrecken und schwarze Fuhrenholzungen bis in den bläulichen Duft des Horizontes hinaus. Welch ein Sternenzelt darüberher zur heimlichen Nachtstunde und diese phantastischen Wolkengebilde von werdenden Lämmerherden bis zu kämpfenden Drachen auf azurnem Grunde bei Tage, und das Schluchzen der See, das Summen des Windes ohne Unterlaß! Man gewöhnte sich so sehr daran, daß man wahrlich gemeint hätte, ersticken zu müssen, wenn es je einmal ganz still gewesen wäre.

Die Stadt lag tiefer inland als der Pfarrhof, sie hatte hübsche, ehrwürdige Giebelhäuser mit bunten Dächern und einen Kranz prächtiger Rüstern rings um ihr Gassengewinkel. Zahllose Krähen horsteten in den Wipfeln und klagten in den Lüften, wenn der Wind die morschen Äste zauste. Hinter der Stadtkirche lief, zwischen Heide und blumigen Kuhweiden hin, der Pastorengang, ein Heckenweg bis zur Gartenpforte des alten Pfarrhofes. Seine drei Öllaternen wurden niemals mehr angezündet, seit der neue Pastor da draußen nichts mehr zu suchen hatte, und der verwitweten Pastorin galt es gleich. Sie vermochte sich in des jungen Kanzelredners Auffassungweise nicht zu finden. Ihr war das Bibelbuch kein bloßer Märchenschatz des hebräischen Volkes, sondern eine Perlenschnur des Trostes, wie der Rosenkranz den gläubigen Katholiken.

In Holmswyk verkehrte sie, genau genommen, nur mit der Familie des Gymnasialdirektors, obwohl die verwöhnte und etwas »fahrige« Direktorin ihr gerades Gegenstück zu sein schien. Indessen – wer konnte der zierlichen, anmutigen Frau mit dem Rosengesichte Gegenliebe verweigern, da wo sie so schwärmerisch verehrte, wie bei Alice Breitschwerdt? Sie neidete auch der Angebeteten die Freundschaft ihres Gatten nicht im mindesten. »Fränzchen« bedurfte der Anregung; sie selbst fand viel zu viel in Haushalt und Kinderstube zu thun, während Alice den lieben langen Tag Zeit hatte, allen möglichen schönen Künsten zu frönen. Sie malte und zeichnete »rafaelisch«, obgleich sich über diese Ansicht der impulsiven Direktorin streiten ließ. Kenner belächelten die kleinstädtischen Laien, aber die Kritik verirrte sich höchstens in Gestalt des Photographen Harms Brodersen aus der Süderstraße ins Pfarrhaus.

Sei dem wie es sei – Frau Mina schwärmte und ließ den Gatten schwärmen; den vornehmsten Platz in seinem Herzen behielt sie trotz alledem, denn hatte sie ihm nicht jedes Jahr ein neues kleines Ebenbild ihres reizenden Selbst geschenkt, bis das Glückskleeblatt im Schutze des großen, finsteren Gymnasialgebäudes hinter der Stadtkirche lustig wuchs und gedieh: vier kleine Mädchen, rot und weiß gleich Tausendschön im Grase, mit goldenen Ringellocken und Augen so blau wie die Blumen auf den Meißener Kaffeetassen.

»Knaben bekommen wir keine,« sagte Frau Mina mit dem heitersten Gesichte von der Welt. »Unsere vier arten alle in meiner Mutter Familie und bei uns zu Hause waren wir sieben Töchter – keine davon zu verachten! Aber Gerda ist die Schönste und dazu die einzig Brünette unter uns. Zu den Sommerferien bekommen wir sie in Pension, Fränzchen und ich; und dann wirst du ja selber sehen, Alice.«

So hieß es im Frühling, und der Sommer brachte nicht nur Gerda, ein entzückendes, dunkeläugiges Backfischchen mit ungebührlich langen, losen Haaren und ungebührlich kurzen Kleidern nach einer Mode, die eigens für ihre Trägerin erfunden zu sein schien, sondern er brachte auch noch andere Veränderungen in die beiden Häuser; den Pfarrhof und das Gymnasium.

Im Pfarrhofe erwartete die Pastorin einen Pflegling. Ihres Bruders Ältester that in Berlin auf dem französischen Gymnasium nicht gut und sollte nun, nach viel Kopfzerbrechen elterlicherseits, zur verschollenen Tante Alice in die Verbannung geschickt werden, um unter Direktor Tychsens anerkannt spartanischem Regimente seine Prima zu absolvieren. Der Pastorin, so fern ihr auch im Grunde alle Rührseligkeit lag, traten doch jedesmal Thränen in die Augen, wenn sie auf Kurt Hallersleben zu sprechen kam. Nach mehr als zehn Jahren war's wieder ein Anknüpfen mit den wenigen ihrer Sippe, die ihr noch geblieben! Sie richtete im epheuumgrünten Hausgiebel ein kleines Paradies für den hübschen, leichten Schlingel ein, der sich unterdes in der eleganten Berliner Dienstwohnung seines Vaters vor der Kleinstadt, den Spießbürgern und der unbekannten Tante graute und sich den Direktor abwechselnd als einen dicken Bierphilister mit der Schnupftabakstose oder als ein drolliges vergilbtes Männchen mit unsinnigen Zornesausbrüchen vorstellte. Gottlob nur, daß ihm diese Furchtgespenster den guten Humor nicht verscheuchen konnten, und daß seine schlanken Schultern so federleicht an der Zukunft trugen! Anfang August erwartete man ihn im Pfarrhause, und Anfang Juli schon beabsichtigte der Direktor seine diesjährige Ferienreise anzutreten. Frau Mina war ganz benommen von den Plänen ihres Ehegemahls. Er hatte sich Griechenland zum Ziel ersehen, und mit welchem Stolze erzählte die Gattin in jedem Damenthee davon! Im Zeiträume von zehn Monaten erlebten die Neugriechischen Volkslieder schon eine dritte Auflage und nach solchen Erfolgen hatte ihr lieber Mann doch volles Recht, das herrliche Land der Mythologie (wie sie sich etwas unklar ausdrückte) zu besuchen, vor allen Dingen aber seinem unbekannten Freunde, dem eifrigen Sammler der »Insellieder,« Mavro Photinos auf Naxos, persönlich nahe zu treten.

Der Direktor selbst rüstete sich wie weiland Held Odysseus zur Phäakenfahrt, nur wahrscheinlich etwas umständlicher. Seine Schüler behaupteten, er rede nur noch in Hexametern und Pentametern und habe ihnen die Sommercensuren mit anakreontischer Heiterkeit ausgeteilt. Ein noch nie dagewesener Fall in den Annalen der Tychsenschen Herrschaft!

»Das gibt einen famosen Winter und ein glattes Maturum für euch Glückspilze!« meinten die Unterprimaner zu den Oberprimanern.


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