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Zweites Kapitel.

»Mache dir die Sache doch nicht ohne Not schwer, liebste Mina!«

Die Pastorin hielt den Arm um ihre Freundin geschlungen und versuchte, deren weinendes Gesicht am runden Kinn in die Höhe zu heben. Allein Frau Mina, wenn sie sich in ihrem heiteren Dasein einmal zu Thränen bringen ließ, fand schwer ein Ende damit, und heute gebärdete sie sich, dem lachenden Augustnachmittage zum Trotz, wie eine Verzweifelte:

»Weshalb muß mir mein Leben so vergällt werden! – gerade mir!« – Sie drückte ihr Schnupftuch abermals vor die Augen und schob ihres Mannes letzten Brief so heftig von sich, daß er über den Gartentisch hinweg ins Gras flog. Die frische Brise, die vom Watt herüberkam, bemächtigte sich der griechischen Briefmarke, die Kurt Hallersleben – seit drei Tagen der Vicesohn des Pfarrhofes – sich kaum erst mit ausgesuchter Höflichkeit für seine Sammlung erbeten hatte. Die Pastorin hob kopfschüttelnd den Brief vom Boden auf; das winzige bunte Viereck übersah sie, aber Gerdas Falkenauge, das auf jeden Bläuling und jeden Käfer acht gab, erspähte es sofort, und sie stürzte darauf zu, wie ein junger Panther auf seine erste Beute.

Es gewährte ihr große Genugthuung, diesen vorlauten Primaner in spe, der sie schlankweg »Gerda« anrief und von ihr für sich schlankweg »Kurt« beanspruchte, tüchtig zu ärgern. Mit Hallo ward sie infolge dieses bösen Vorhabens von Junker Kurt und ihren kleinen Nichten kreuz und quer durch den Garten gejagt. Ehe aber Kurts lange Beine sie eingeholt hatten, ließ die wilde Hummel ihm seine Briefmarke vor die Füße flattern, warf sich glühend und hochatmend gegen den verkrüppelten Apfelbaum zurück, so daß ihre hängenden Haare sich in der Borke des alten Stammes verfingen, und fragte das übliche: »Was thun wir jetzt?«

»Wir machen Ihr reizendes Haar los, Gerda,« entgegnete Kurt und wollte sofort mit der angenehmen Arbeit beginnen, aber Gerda schüttelte ihre zerzauste Mähne wie ein Shetland-Pony: » Wenn Sie mich anrühren! Einen Friseur brauche ich nicht!«

» Sehr gut!« sagte Kurt und legte die Hände hinter sich auf den Rücken, als wären Gerdas Haare zu glühenden Drähten geworden, aber da sie doch nicht allein fertig werden konnte, half er ihr in so hübscher, feiner Weise, daß sie herablassend anfragte: »Wollen wir uns wieder vertragen?«

»Mit dem größten Vergnügen,« beteuerte er und verbeugte sich ernsthaft. »Aber Sie müssen mich auch Kurt nennen – wir sind ja Schulkinder,« fügte er hinzu, und dabei kniff er den Mund zusammen, um sein Lachen zu verbeißen.

»Nun meinetwegen denn – Kurt –« gab sie zurück, ohne ihm ins Gesicht zu blicken. »Eins aber sage ich gleich: du nenne ich Sie niemals, hören Sie?«

»Hab' ich das etwa verlangt? Unsere Bekanntschaft ist ja noch viel jünger als wir,« beruhigte er sie. Darauf besiegelten sie ihren Pakt mit feierlichem Händedruck.

Die beiden Damen in der Hainbuchenlaube schauten der kleinen Scene, deren Dialog sie nicht vernahmen, mit verschiedenartigen Gedanken aus der Ferne zu. Frau Mina runzelte die Brauen und rief mit ihrer hellen, durchdringenden Stimme:

»Gerda! Gerda! Steh' nicht so ungraziös! Nimm dein Haar in acht!« – und sagte dann: »Dein Neffe ist wirklich zu allerliebst – sehr comme il faut, finde ich. Ja, den nähme ich sofort und mit Kußhand in Pension; von dem weiß ich ›wie‹, ›wo‹ und ›warum.‹ Aber dieser gräuliche Antinoos!« Sie griff wieder nach dem Briefe des Gatten, der ihr für kommenden Freitag seine Heimkehr und zugleich »einen jungen Hausgenossen auf unbestimmte Zeit« ankündigte: Antinoos Photinos, des Naxischen Dichterfreundes Neffen und Mündel. »Solch ein wildfremdes Geschöpf, einen Orientalen! – Ach Gott, Alice, sie liegen mit ihren Inseln dicht genug am Orient!« schaltete sie ein, als die Pastorin ein humoristisches Gesicht machte, »keine Seele hat die blasseste Ahnung davon, wes Geistes Kinder die Griechen von heutzutage sein mögen.«

»Verlasse du dich in dieser Hinsicht getrost auf deinen klugen Mann, den Philhellenen,« fiel die Pastorin ein. »Und bedenke, Kind, wenn der Gymnasialdirektor die Achtzehn- und Neunzehnjährigen nicht zu beurteilen wüßte, wem sonst sollte man's zutrauen? Darüber würde ich mein Herz zur Ruhe bringen.«

»Aber sieh – der Neffe eines bloßen Weinbauern –«

»Ich kenne den Sohn eines bloßen Schiffers – Franz Tychsen heißt er, glaub' ich –, mit dem eine gewisse Mina, geborne Ringhard – nun – drücken wir es bescheiden aus – recht, sehr glücklich geworden ist!« Die Pastorin sagte das mit einem so schönen Ausdrucke neidlosen Mitempfindens, daß ihre lebhafte Freundin die Hand der Sprechenden gegen ihre Brust drücken und sie küssen mußte.

»Immer und immer findest du auch das goldene Wort, du beste Seele! Du hast recht, wir wollen den unbequemen Jungen gelassen abwarten und Fränzchen alles weitere anheimstellen.« Wieder umspielte der Humor den Mund der Pastorin, denn »Fränzchen« war ein Hüne von Gestalt. »Ich bin nur froh,« fuhr Frau Mina fort, »daß ich Gerda hier habe. Mein Französisch hat stark gelitten, ihres aber ist noch nagelneu von der Gouvernante her. Der Jüngling scheint außer seinem Griechisch nur noch Französisch zu sprechen.«

»Wie seltsam! Ich dachte mir gerade, daß Gerda und dein Teil Verantwortlichkeit für sie dein einziges, jedenfalls aber dein größtes Bedenken in dieser Sache sein würde,« gab die Pastorin zur Antwort. »Gerda ist ein holder Liebling; – möchte der junge Hellene mit dem schönheitverkündenden Namen nicht allzutief in den Psyche-Mythus eingedrungen sein!«

»O, Alice! welche Ironie! Dieser langarmige Backfisch und eine Psyche!« lachte Frau Mina. »Ehrlich gestanden hat mich Gerda enttäuscht; vor drei Jahren versprach sie hundertmal mehr, als sie gehalten hat. Nun – das mag ja noch kommen – wer weiß. Du freilich siehst alles mit dem poetischen Glorienschimmer, aber das bringe ich beim besten Willen nicht fertig. Ich kann auch kein Interesse für die Kinder anderer Leute heucheln, und da sind wir wieder auf dem alten, leidigen Fleck, meine Liebste. – Zu der Rolle, die Fränzchen mir aufzwingt, würdest du viel besser passen!«

»Besser als du? – Besser als eine Mutter?« sagte die Pastorin, und in ihre Augen kam ein sehnsüchtiger, schwermütiger Blick. »O Mina, welch' eine Aufgabe für dich! Zum Beneiden schön! Einem ganz verwaisten Knaben, der seit früher Jugend von einem Institut ins andere gewandert ist, wieder eine warme Heimat geben zu dürfen – ich fasse es nicht, wie du darüber so verzagt sein magst.«

»Ach, lieber Himmel, Alice, seit gestern geht mir's wie lauter Mühlräder im Kopfe herum. Weshalb willst du das durchaus nicht in mir verstehen und bemitleiden?« beharrte die Direktorin kläglich.

Die Pastorin nickte vor sich hin. »Verzeih, Mina. Zuweilen entfällt mir's, daß Mütter in solchen Dingen natürlich urteilsfähiger sein müssen als Kinderlose. Nun denn, so sage ich nur noch: halt' den Kopf hoch! Wem Gott ein Amt gibt, dem beschert er auch den Verstand dazu, das ist ein abgebrauchtes, aber tröstliches Wort. Wer weiß, vielleicht schließt sich dein Pflegling an den meinigen an. Kurt ist ein umgänglicher Charakter und, unbeschadet seines patriotischen Vaters, spricht er französisch beinahe besser als deutsch.«

»Gottlob – meine Last wird leichter!« entgegnete Frau Mina mit einem drolligen kleinen Seufzer und nahm ihre Häkelarbeit wieder zur Hand, während die Pastorin schweigend lauter Drei- und Viereckchen, die sich exakt ineinander schoben, auf die Rückseite des griechischen Briefcouverts zeichnete, bis die ungestüme Gerda wieder Leben in die Stille brachte.

»Liebste, beste, einzige Tante Alice, sage nicht nein! Dürfen wir jetzt die Augustäpfel abnehmen, Kurt und ich? Alle Äpfel sind reif, sagt Jens, und Merret heizt morgen den Backofen – wir wollen uns so gern Apfelbröte mitbacken lassen: die hat Kurt nämlich noch nie gegessen. Jedes wird mindestens zwei Faust groß, meint Merret.« – Und sie ballte ihre Hand so energisch zusammen, daß die runden Knöchel schneeweiß hervortraten. »Du spendierst uns den Zucker und ein bißchen Kanel, nicht? Also – dürfen wir's, Herzenstantchen? dürfen wir?«

»Meinetwegen, ihr großen Quälgeister – was soll ich dabei thun? Ich habe euch den Baum doch zum Eigentum verschrieben,« erwiderte die Pastorin scherzend, »Daß mir aber meine zwei kleinen Gäste nicht zu kurz kommen: drei Äpfel für jedes Händchen, das steht im Kontrakt. Wie? du wirst doch nicht auf den Baum klettern wollen, Kind? da könntest du bös zu Schaden kommen.«

»Unter keiner Bedingung, es wäre im höchsten Grade unschicklich,« bekräftigte die Schwester, und Gerda warf ganz verächtlich ihre roten Lippen auf.

»Ach Gott, Mina – wie du nur so etwas denken kannst! Bis in die Gabel steig' ich, keinen Schritt weiter, nicht viel höher als deine Fußbank. Du wirst schon sehen!« Damit war sie fort, ehe Verbot oder Zustimmung erfolgen konnte.

»Ja, sie ist wirklich ein reines Kind,« bemerkte die Pastorin im Selbstgespräche, und sie legte den Ausdruck auf das Wörtchen »rein.« Die Hände im Schoß verschlungen, betrachtete sie mit liebevollem Interesse das anmutige junge Geschöpf. Sie hätte dies Bildchen vor ihren Augen gleich in ihr Skizzenbuch zaubern mögen, so einfach wie es war, und dann einen der Namen darunter schreiben, die eine gefühlvollere Zeit vor hundert Jahren gern unter ihre Kunstprodukte setzte: »Graziella,« »Unschuld,« oder gar allen Ernstes »Psyche.«

Da stand die schmiegsame, noch unfertige Mädchengestalt mit dem kleinen, schönumrissenen Kopfe auf zartgebogenem Halse im wogenden Grase, und es schien fast, als schwanke sie wie ein Schilfrohr unter der Wucht des kräftigen Windes. Noch leichter als gewöhnlich flatterte ihr das bequem gegürtete Sommerkleid von den Hüften und Knien zurück; denn sie hatte die Seidenschärpe gelöst, und während ihre linke Hand die wilden Haare in einen Knoten zu bändigen strebte, wand die rechte den breiten Scharlachstreifen turbangleich darumher. Der Kopf mußte frei sein beim Obstpflücken. Zwei Minuten darauf stand sie schon in der niederen Stammgabel des Apfelbaumes, einen Arm um den dicken Hauptast geschlungen, mit dem anderen den großen Korb aus grünen Weiden gegen die Brust drückend, und Kurt warf ihr, geschickt zielend, die Früchte hinein. Das war ein Lachen und Zwitschern und Schmausen von den großen und kleinen Kindern, als lärmte und pickte ein mutwilliger Vogelschwarm im Grünen.

Als dann das Vergnügen erschöpft war, wurden Frau Minas Trabanten zusammengetrommelt, und die Pastorin rief Gerda herbei, nahm ihr den Turban vom Kopfe, strich ihr die Scheitel glatt und hielt sie im Arm, bis alles marschfertig war: »Gute Nacht, ihr Lieben, gute Nacht, Mina. Und wenn dein Gatte eine Empfangsguirlande haben soll, so laß dir Zweige und Astern holen, soviel du brauchst.«

»Könnte Kurt sie nicht am Donnerstag bringen und uns binden helfen?« schlug Gerda vor und fügte hinzu: »Es wäre so amüsant, Mina – er weiß nämlich wonnige Berliner Anekdoten, zum Totlachen, sag' ich dir! Und dann müssen wir notwendig zwei Guirlanden haben; das arme Griechenkind soll auch einen Kranz über seiner Thür finden. Schilt nur, Mina, aber siehst du, ich denke ihn mir als das gerade Gegenteil vom Antinous, eben weil er so heißt.«

»Bezaubernde Logik!« rief Kurt hinter ihr drein, und sie antwortete, den Kopf herumwerfend, daß die Haare flogen:

»Wenn Sie bis Donnerstag einen besseren Witz erfinden, so dürfen Sie ihn uns mit dem Grün und den Astern im selben Korbe bringen!«

»Ein zu famoses Mädel, Tantchen,« sagte Kurt, als die Gäste außer Hörweite waren. »Sieh nur, wie sie dahintanzt, der reine Kreisel mit Musik – ganz mein Genre! Der Direx wird hoffentlich nichts dagegen haben, wenn man sie ein bißchen poussiert, wie? – Sag' mal, Tantchen, – aber ehrlich: was für eine Art Individuum ist denn eigentlich der hiesige Direx?«

» Wen meinst du?« fragte die Pastorin mit dem harmlosesten Gesichte von der Welt, und es belustigte sie ungemein, daß der lange Junge mit dem kecken Hallerslebener Profil und dem hochgebürsteten Blondhaare genau so purpurrot werden konnte wie vor Jahren sein Vater auch, als er jetzt seine Frage in etwas respektvollerer Form wiederholte.

»Ja, wie soll ich ihn dir schildern, mein gutes Kind,« sagte sie. »Ein Prachtkopf auf einer Prachtgestalt, das ist einmal der auswendige Mensch, und der inwendige? Der ist seinen Lieben und Freunden gegenüber von maßvoller Wärme, und sehr kühl im Verkehr mit seinen klugen und dummen Schülern. Indessen, Kind, deine Schulerfahrungen läßt man dich am besten selbst machen, obgleich ich keinen Augenblick daran zweifle, daß dein etwaiges persönliches Empfinden alsbald vom Corpsgeist der Klasse verschluckt werden wird. Keinesfalls kannst du ihm mit Berliner Witzen Eindruck machen, und wenn ich dir raten darf, so bereite dich auf ein scharfes Examen vor; besonders nimm dein Griechisch noch einmal zur Hand, ehe er heimkommt. Allerdings ist seine Spezialität das Neugriechische –«

»Ach ja – das weiß ich natürlich als gebildeter Mensch. Denn er ist es doch, der die berühmten Insellieder – (zu meiner Schande gesteh' ich's, daß ich sie nur vom Hörensagen kenne) – losgelassen hat?«

»Nicht losgelassen, sondern übertragen, falls du es gestattest. Wir müssen sie zusammen lesen und ich will sehen, was du dazu sagst. Ich liebe sie unendlich; Tychsen hat eine wunderbare Herrschaft über seinen Stoff, und dennoch – ein Poet ist er nicht. Darin liegt für mich das Zwiespältige seiner Natur. Ihm ist die Kunst nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Erwerb, zur Erweiterung seines Horizontes durch Reisen und Geselligkeit. Jene darbende, sehnende Kunst, deren Hand nach den Sternen greift, während ihr Fuß über den Wegstein stolpert, nennt er eine Abart der Narrheit, die ins Irrenhaus gehört. Oft und oft habe ich mit ihm darüber gestritten – ich bin Idealistin, ich glaube noch an Apoll und die neun Musen und ihr heiliges Feuer. Und doch schlägt er sich selbst in einer der Übertragungen – ich glaube, das Gedicht heißt: »Der taygetische Ikaros,« und darin kommen die Strophen vor:

»Auf daß des Mutes Name niemals sterbe,
Des Mutes, der gewagt das Schauriggroße:
Den Wolkenflug, der stolzen Gottheit Erbe,

Der, frei im Äther seine Bahn zu ziehn,
Sich kecklich lösend aus der Erde Haft,
Dem Zweifel wollte und der Furcht entfliehn.«
– – – – – – – – – – –

»Ja, bestes Tantchen, das ist mir zu wunderbar und zu hoch, alldieweil ich das ganze Opus nicht kenne,« erwiderte Kurt. »Wenn der Direx die Kunst nur als Erwerbsmittel pflegt, so wird er beim Übersetzen wahrscheinlich mehr auf textliche Genauigkeit als auf den hehren Sinn geachtet haben.«

Die Pastorin empfand bei Kurts Worten einen starken Gewissensbiß. Hatte sie den Charakter des Lehrers seinem Schüler gegenüber nicht allzu offen beurteilt? »Es wäre der Hallerslebener Art zuwider, Nutzen daraus zu ziehen,« in diesem Gedanken beruhigte sie ihr Gemüt und that recht daran.

»Wir Männer sind ohne Frage anders und gröber organisiert als ihr Frauen,« fuhr der Mann von achtzehn Jahren fort und versenkte beide Hände nebst Siegelring und unerlaubtem Cigarrenetui in die Tiefe seiner Joppentaschen, während die Abendsonne den ersten, weichen Flaum über seiner Lippe vergoldete. »Der Direx – ja doch, Tantchen! Der Direktor! – scheint mir im Grunde ein kolossal vernünftiger Kerl zu sein. Erstens kommt wirklich bei dem Gesäusel ins Blaue blitzwenig Reelles heraus, und zweitens: ›bar Geld lacht!‹ Daß der Mann lebensklug ist, beweist vor allem die nette, elegante Frau, die er sich zugelegt hat, und die famose Schwägerin. Jedenfalls will ich meiner Natur einen Puff geben und gehörig die Bänke drücken, damit ich dort im Hause lieb' Kino werde. Apropos – darf ich mir die griechischen Gedichte vom Schreibtische nehmen und bis zum Abendbrot darin blättern?«

Während die Pastorin den Theetisch in der Laube decken ließ und den messingenen Samowar in Thätigkeit setzte, ging Kurt am anderen Ende des langen Mittelweges hin und her, das stilvoll gebundene Buch in Händen, dessen erstes Blatt eine gedruckte Widmung an »Frau Alice Breitschwerdt« trug. Hinter ihm der westliche Horizont, über den Kreuzen des Seegartens, stand in Flammen, drüben im Osten lag grüngrau das Meer. Die Flut war eingefallen und nur der Halligkirchturm schwamm über den Wassern.

Kurt las und las mit halbgeöffneten Lippen und tief gesenktem Kopfe, immer langsamer wandelnd. Zuletzt ließ er das Buch sinken, schaute wie verzaubert in den purpurwolkigen Westen hinaus und rief nach der Laube zurück:

»Tantchen! Bitte, komm und höre dies Gedicht, aber rasch, ehe die Sonne ganz fort ist!«

Sie folgte dem Rufe, und als sie dann neben ihm auf dem begrasten Hügelchen, ihrem Luginsland, saß, schlang er seinen Arm durch den ihrigen und las so seelenvoll, wie sie es dem naseweisen Schüler gar nicht zugetraut hätte:

Die Neraïde.

Dreimal um die Abendkühle
Fuhr hinaus im schwanken Nachen,
Fuhr hinaus zum Netzefischen
Melanos der Syriote,
Dem an seiner schwarzen Locken
Schöngebognen Liebesangeln
Hundert heiße Herzchen hingen.
Und er warf sein Netz hinunter
In die sonnenroten Wellen,
Sang dazu mit Schmeichelstimme:

»Steig' empor, o Neraïde!
Einsam wogt das goldne Wasser,
Einsam harrt mein Netz des Fanges,
Harrt mein Herz der süßen Liebe!«
Dreimal hob die Neraïde
Haupt und Brust und weiße Arme
Aus den sonnenroten Wellen,
Sang dazu mit Schmeichelstimme:

»Melanos, mein Syriote,
Lebend wogt das goldne Wasser,
Fische füllen bald das Netz dir,
Leer wird lang dein Herz doch bleiben!
Dreimal bin ich dir erschienen,
Dreimal sollst du mein gedenken,
Dreimal schmerzlich wirst du suchen,
Einmal finden unter Schmerzen
Bess'res als den Fisch im Netze,
Schön'res als die rote Sonne!«
– – – – – – – – –
Also sang die Neraïde.

»Nach des Direktors Grundsatz ist dies Gedicht seines Preises vollauf wert,« sagte Kurt begeistert, als er zu Ende war. »Ich begreife nicht, daß du den Ikaros vorziehst und die Kritik damals ein ganz kleines Ding: ›Die Gärtnerin‹ als Perle der Sammlung pries. Um den Ikaros zu verstehen, muß man etwas ganz Kolossales, Niederschmetterndes erlebt haben, aber dies Neraïdenlied ist wie eine Vorahnung wunderbaren Glückes, die einem Herzklopfen macht. So plastisch und so geheimnisvoll! Man könnte die halbe Nacht darüber wachliegen und sich zergrübeln, wenn man nur nicht immer so infam müde wäre!«

»Welch ein Segen das für deine Schulstudien ist, liebes Kind!« warf die Pastorin neckend ein, und Kurt blitzte sie aus seinen fröhlichen blauen Augen an:

»Oho, Tantchen, was weißt du von Jünglingsgefühlen? Die stehen gottlob nicht unter Schulaufsicht! Du kommst mir vor wie Papas neuer Attaché – Papa nennt ihn den ausgebrannten Krater – der das Leben des studierten Mannes in vier Phasen teilt: das Tintenalter (nach deiner Ansicht also meine Phase), das Bieralter, das Liebesalter – die Wüste. – Ist das nicht prachtvoll?«

»Nein, abscheulich!« entgegnete die Pastorin. »Da will ich dir lieber eine bescheidene Konzession fürs Schwärmen erteilen.«

»Meinen ergebensten Dank, teures Tantchen! Das Unangenehme bei der Sache ist nur, daß ich mir diesen naxischen Adonis oder Antinous – (einer ist leider so gefährlich wie der andere!) – nolens volens wie den Melanos mit seinen hundert schwarzen Liebesangeln vorstellen muß. Er hat solch einen unausstehlich poetischen Namen: Antinoos Photinos – das heißt auf gut Deutsch: Antinous der Feurige. Wenn der nur nicht Revolutionsbrände ins Direktorium, weibliche Abteilung, wirft! Tantchen, wäre das nicht schauderhaft langweilig für mich?«

Sie strich ihm lachend über sein blondes Haar und erhob sich. »Es wird hohe Zeit zum Thee, liebster Junge, und sieh, da trägt Merret schon unsere Lampe in die Laube. Beruhige du dich für jetzt wegen Antinoos Photinos, ziehe keine Vorurteile in dir groß, sondern versuche dem, der fremd und verwaist zu uns nach Norden verschlagen wird, freundlichen Willen entgegenzubringen. Damit wollen wir die Poesie und das naxische Wunderkind für heute ruhen lassen und jetzt holst du mir flink noch mein Tuch und meine Fußbank aus der Wohnstube als angehender Ritter!«


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