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Neuntes Kapitel.

Am folgenden Tage, gleich nach Schulschluß, erschöpfte Tino seine Taschengeldkasse für den laufenden Monat, um sich Papier, Kohle und Kreide einzuhandeln. Er hatte bis zum Mittagessen noch eine Spanne Zeit vor sich; Petersen hobelte ihm einen festen Kistendeckel glatt, und auf diesen spannte der jugendliche Autodidakt seinen ersten Bogen Papier. Was nun damit beginnen? Fremd wie er jeder Technik gegenüberstand, leitete ihn nur sein Instinkt und das Gefühl, daß man Rundes rund und Flaches flach darstellen müsse. Dazu gesellte sich ein feiner Sinn für harmonische Schönheit, der von früh auf sein Auge geschärft hatte.

Ein Weilchen verharrte er unschlüssig vor seiner Staffelei und blickte rings um sich her nach einem passenden Vorbilde. Die Leinentruhe mit den Eisenbeschlägen und dem türkischen Gebetsteppich über ihren Deckel geworfen, reizte ihn am meisten. Die rosenfarbenen Samtarabesken auf limonengelbem Grunde wirkten wunderschön; Licht und Schatten lagen, zart abgetönt, in den seidenen Falten. Aber wie in aller Welt dies Schimmern und Erlöschen durch tote Kreidestriche wiedergeben? Er dachte nach, legte zögernd mit Kohle an und maß, den Stift vor Augen, die Entfernungen.

Da gewahrte er, daß die Arabesken in ein Muster zusammenliefen, das einer grinsenden Teufelsfratze mit kolbiger Nase und Wulstlippen ähnlich sah. Und plötzlich kamen ihm jene zahllosen Stunden zurück, da Gram, Mutlosigkeit und Ingrimm ihn überwältigt hatten. Er sah die Teufelsfratzen an den Rändern seiner Zeichnungen vor sich, nach denen er mit der Stahlfeder zu stoßen pflegte, bis sie augenlos waren und die Feder sich spaltete. Ach, wie hatte er getobt während solcher Verzweiflungsstunden! Er sprang auf und warf den Gebetsteppich rasch in andere Falten. Nun war die Fratze, aber auch sein Stillleben zerstört, und kleinlaut stäubte er die ersten, zwecklosen Kohlenstriche vom Papier.

Nein, es war besser zum Anfang etwas zu versuchen, das wirklich grau in grau stand, und um das zu haben, brauchte man nur zu zeichnen, was sich in den bescheidenen Rahmen des Mansardenfensters fügte. Er rückte seine ungeschlachte Staffelei seitwärts, setzte sich von neuem vor das weiße Blatt und studierte durch die Fensterscheibe sein Bild.

Er bebte fröstelnd zusammen. Schwarz und schlammig dehnte sich hinter dem Deiche das ebbende Watt ins Unendliche hinaus, am Horizonte, nach der Hallig zu, von einem tiefgrauen Wasserstreifen gesäumt. Das strahlige Windgewölk streckte und ballte sich und jagte vorüber. Jenseits des schneegesprenkelten Deiches die Mastspitzen unsichtbarer Schiffe, und gerade der Hallig gegenüber lag eine gleichgültige weibliche Gestalt im Deichgrase. Jetzt hob sie die Hand zum Munde, netzte sie mit den Lippen und hielt sie aufwärts, um, nach Art der Seeleute, den Wind zu prüfen; dann nahm sie das Kinn in beide Hände, richtete den Blick gegen die Hallig und vergaß die Kälte über dem, was sie zu erspähen hoffte. Drüben aber ward der graue Wasserstreif langsam breiter.

Die Landschaft verschwamm vor Tinos Augen, nur das Weib, das harrend auf dem Deiche lag, ward immer größer und deutlicher in seiner Phantasie. Mit rohen Umrissen warf er den Körper und seine ärmliche flatternde Gewandung aufs Papier, er erfand ein Gesicht mit großen Augen und starren Zügen und zeichnete Furchen der Angst um die Mundwinkel. Wen suchte sie dort in der schlammigen Meeresöde? Er wollte eine aufgeregte See vor ihr wogen lassen und ihr einen Christus im langen Gewande auf den Wellen entgegensenden, aber er fand die Bewegung der schreitenden Gestalt nicht.

Da wandelte er den Deich in Felsgrund, die wilde See in ein regnungsloses, spiegelndes Meer, und dem liegenden Weibe gab er einen Löwenleib mit mächtigen Pranken statt der Hände. Darunter schrieb er mit griechischen Lettern » Enigma« – »Rätsel!« –

Kaum hatte er seine Skizze entworfen, als Kurt zu ihm hereinkam, frisch aus dem Garten, wo er nach Krähen geschossen und nichts getroffen hatte.

»Welcher Krösus hat denn dieses Wandgemälde bei dir bestellt?« fragte er lustig, und nun lachte Tino auch, wie von finsterem Banne erlöst.

»Meines Vaters einziger Sohn,« antwortete er und drückte seinen dunklen Kopf leidenschaftlich gegen den Kopf des Freundes.

»Menschenkind, was fällt dir ein? Bin ich eine Gummipuppe?« rief Kurt und rieb sich die Stirn. »Du hast den härtesten Schädel, der mir je vorgekommen ist.«

Vierzehn Tage lang suchte und schwankte Tino vor seiner Staffelei, ohne etwas anderes als bloße Entwürfe fertigzubringen. Seine Papierrolle verkleinerte sich, sein Mut unterlag starken Schwankungen. Zu einem lebenden Modell, wie er sich's so heiß wünschte, konnte er nicht gelangen. Kurt eignete sich nicht zum Sitzen; er war das verkörperte Quecksilber, Jens Petersen ließ sich die Sache überhaupt nicht klar machen, und Gerda kam nur ein einziges Mal mit ihrem Schwager, um im Fluge nach den Blumen zu sehen. Tino ward ins Wohnzimmer hinabcitiert, den Schlüssel zu seinem Heiligtum in der Tasche, und er erfuhr, daß es den kleinen Scharlachkranken leidlich gehe und daß aus Kiel befriedigende Nachrichten gekommen seien. Nur einen flüchtigen Händedruck durfte er mit Gerda tauschen. Einige Tage später jedoch – (er saß gerade vor einer kühnen Phantasieschöpfung aus der Ikarossage, und Kurt hatte sein Tanzkränzchen) vernahm er mit Freudenschrecken fünf wuchtige Schläge von Frau Petersens Besenstiel. Endlich kam die Ersehnte ungeleitet, und nun sollte sie auch heimisch bei ihm werden.

Er lief zur Treppe, und sie war es richtig, um ihm selbst ein Briefchen der Pastorin zu bringen. Mütterliche Worte vom Krankenbett, ein kurzer Gruß, der keine Erwiderung forderte. Vielleicht hatte die schwere Krankheit jenen letzten traurig-innigen Abend mit dem Sohne aus ihrer Erinnerung verwischt, oder sie wollte die Besprechung und Lösung aller Konflikte auf die nahe Zeit des Wiedersehens verschieben.

Vorläufig durchflog er den Brief in Hast und legte ihn beiseite. Mit ihr, die ihn gebracht, war eine zu große Veränderung geschehen. Sie stand vor ihm, nicht mehr das Kind, sondern das Mädchen, in Befangenheit purpurn errötend, als er ihre Hände ergriff und sie stumm betrachtete. Alles neu und fremd, vom dunklen hochgesteckten Haarknoten bis hinab zum Saume des langen Kleides, der nur noch die zierlichen Fußspitzen sehen ließ. Zuerst durchzuckte ein ungestümes Weh Tinos Brust, daß seine holde kleine Gefährtin ihm entrissen war; dann schlug sie die alten leuchtenden Kinderaugen zu ihm auf, und eine nie gekannte Wonne überflutete sein Herz, das weit heißer schlug als nordische Herzen im gleichen Alter. Seine Muse, seine Zukunft hielt er an der Hand! Wie er in diesen sieben Monden körperlich über sie emporgewachsen war, so schlug auch aus seinem Innern die Flamme hoch über ihr kindliches Fühlen hinaus.

Kaum vermochte er sein Entzücken zu verbergen. In Licht getaucht war ihm plötzlich der kleine Raum, den doch nur frühmorgens eine halbe Stunde lang die Sonne streifte. Mit aller Macht hielt er an sich und fragte verwundert nach dem Grunde des langen Kleides und der veränderten Haartracht.

»Meine Mutter hat es so bestimmt,« erklärte sie. »Gestern bin ich sechzehn Jahre geworden. Franz hat es nicht zugegeben, daß Sie und Kurt mir Glück wünschen durften; – weshalb nur nicht? Der Tag war trübe genug ohne Mina und die Kinder! Wollen Sie glauben, daß ich geweint habe, als Betty meine lieben alten Blusenkittel forttrug und mir mein Haar in die Höhe kämmte? Drei neue lange Kleider hat Mutter mir geschickt – nun sollen die gemütlichen Kinderschuhe ausgetreten sein. Ach, Tino! es ist ganz unbegreiflich.«

Er tröstete und wünschte ihr alles Glück der Welt im neuen Lebensjahre, und als nachträgliches Geburtstagsangebinde zeichnete er ihr mit fliegendem Stifte ein zierliches Bildchen: sie selbst im flatternden Blusenkleide mit hängenden Haaren, in der Hand einen Blumenstrauß.

»Das ist die Vergangenheit mit den Freudenblumen,« sagte er, und sie zeigte ihr Vergnügen an der kleinen Skizze, wie er sich's nicht anmutiger wünschen konnte.

»Ja, nun müssen Sie und Kurt wirklich Respekt vor mir haben,« bemerkte sie. »Denken Sie, Minas Dienstboten nennen mich seit gestern ›Fräulein Gertrud.‹ Ist es nicht eigentlich zu dumm? Aber nicht wahr, wenn Sie wieder bei uns wohnen, zeigen Sie mir Ihre Geheimnisse wie sonst, und › Monsieur‹ brauch' ich wohl noch nicht zu sagen. Es wäre zu viel Neues auf einen Schlag! – Aber jetzt muß ich mich bei Ihnen umsehen. Ach, wie es hier oben reizend ist! Wie wird Tantchen sich freuen! Wir meinen, daß sie in ungefähr drei Wochen heimkehren darf – Schwester Ursula hat es geschrieben.«

»O, warum so rasch – warum nur?« – Er wand die Hände ineinander und blickte traurig um sich her. »Noch nichts hab' ich gethan und wollte so viel schaffen, um ihr mein Können zu beweisen. Ich dachte, es müßte gelingen, wenn ich einfach zeichnete, was ich sähe – aber es glückt nicht: das Beste fehlt – das Leben muß ich vor mir haben, das Menschengesicht, und keine Seele mag mir stillhalten!«

»Eile mit Weile!« beschwichtigte sie; »ich will Ihnen ein Modell verschaffen, morgen gleich,« und sie schlang eifrig einen Knoten in ihr blaugerändertes Taschentüchelchen. Er aber faßte abermals stürmisch ihre Hände und zog sie zu sich heran.

»Gertrud – ich möchte heute ein Modell, gerade jetzt! Seien Sie es selbst – für eine einzige Stunde nur – niemand wird uns stören. Du Liebste – Schönste! – sage ja!«

Sie hatten bis jetzt, wie gewöhnlich, französisch miteinander gesprochen, den letzten Satz jedoch rief er ihr in ihrer eigenen Sprache zu. Das »Du«, die zärtlichen Namen von seinen Lippen verwirrten und überwältigten sie dergestalt, daß sie sprachlos zurückwich und ihm heftig wehrte, als er trachtete ihr das Pelzkäppchen vom Kopfe zu nehmen. Dieser schweigende Widerstand in Blick und Gebärden ließ seine Vernunft vollends stumm werden; er war wie ein Trunkener. Ein paar Worte in seiner Muttersprache stieß er heiß atmend hervor, dann riß er die Erschreckte wild an sich und bedeckte ihre Wange und ihr weiches Haar mit Küssen.

Sie fand kein Wort und keinen Schrei. Stumm, weiß bis in die Lippen starrte sie ihm ins Gesicht aus ihren dunklen unschuldigen Augen, bis die Thränen unaufhaltsam hervorbrachen. Da entwand sie sich ihm und floh hinweg, zur Thüre hinaus, hinunter und durch den Garten ohne Umschauen und Aufhalten. Er wagte nicht ihr nachzustürzen; in verzweiflungsvoller Scham blieb er zurück, und mit der Scham stritt ein böser Begierdenteufel in seiner Brust. Durfte sich auf diese Weise der Mann zum erstenmal in seiner jungen Seele regen? Pfui und abermals pfui! Ein Wunsch, der sich vielleicht nach Jahren einmal mit dem Rechte verschwistern konnte, hatte sich wahnwitzig in den Vordergrund gedrängt, und dort über die braune Heide ging das Kind heim, dem jetzt etwas Ernsteres als sein erstes Mädchengewand Kummer bereitete.

Seine ungestüme Reue suchte sich einen Ausweg. Er kniete am Boden und zerwühlte sein Haar, er zerriß die Sphinx am Meere und die Ikarosphantasie in hundert Fetzen, und dann, als er gewahrte, daß Gerda ihre Skizze nicht einmal mitgenommen hatte, wich die Reue dem Zorne, bis im Betrachten des lieblichen Gesichtes ein neuer Rausch über ihn kam.

Da fiel sein Blick auf die kleine Neraïdenillustration, die, halbversteckt von anderen Zeichnungen, an die Wand geheftet war. Gottlob, Gerda hatte sie nicht gesehen; welch jäher Schreck durchzuckte ihn bei dem bloßen Gedanken! Lange und liebevoll heftete er seine Augen auf das Bildchen und ließ seine Phantasie ihre Flügel schwingen, so kühn sie's begehrte.

»Dreimal schmerzlich wirst du suchen –« fuhr es ihm durch den Sinn, »dies war das erste Suchen – nein, nein – so sucht man nicht!« – Er verbarg traurig das Blättchen in einem Stoß von Papieren, er versuchte zu lesen, zu arbeiten – nichts gelang ihm.

So grämte er sich ganz allein bis zum Abend. Als Kurt spät aus dem Tanzkränzchen heimkehrte, in höchster Lustigkeit, die Brust von Kotillonorden bedeckt, den Kopf voller Melodien, erhielt er auf keine seiner Anreden und Neckereien von seinem Genossen Antwort. Sobald er schlief, wälzte sich Tino aufs neue schlummerlos im Bett hin und her und fühlte sich anderen Morgens kaum fähig zum Schulbesuch. Deshalb dankte er Gott, daß der Direktor schon früh mit dem Oberschulrat auf etwa vierzehn Tage in die Provinz und nach Berlin zu einer Kommission reisen mußte. Professor Scherzer hatte ihn zu vertreten, und er ließ heute die letzte Vormittagsstunde in der Unterprima ausfallen.

Kurt warf, daheim angelangt, die Bücher mit Hallo in den Winkel und war sehr enttäuscht, daß Tino sich zur Bootfahrt bei dem stillen Sonnenwetter nicht verstehen wollte. So ging er allein von dannen, und für den Zurückbleibenden drohte die Einsamkeit abermals zum Fegfeuer zu werden.

Zuvörderst las er den Brief der Pastorin aufmerksam und wiederholt und beruhigte sein Gemüt ein wenig dabei. Dann setzte er sich, mit Gerdas hübscher Skizze auf dem Reißbrett, zum Arbeiten. Er verbesserte und tüftelte daran herum, aber freudlos. Er fühlte sich wie gelähmt, und vor Gegenwart und Zukunft hatte seine eigene Schuld ihm einen schweren Riegel geschoben.

Ach, daß er doch zurückflöge, damit die geliebte kleine Freundin noch einmal in sein Herz und sein Leben eintreten könnte!

War's denn wirklich denkbar, daß sie wiederkam? Er traute seinen eignen Ohren nicht, als ihre Stimme unten am Treppenthürchen seinen Namen rief. Im Nu war er bei ihr: da stand sie, einen zerlumpten Buben hinter sich, und blickte ihm mit ernster Treuherzigkeit entgegen.

Er wollte ihr eine leidenschaftliche Abbitte stammeln, aber soweit ließ sie es nicht kommen. Sie reichte ihm einfach ihre Hand, und er drückte sie feurig zwischen seinen beiden Händen; ihre Lippen bebten verräterisch, und er senkte den Blick. Ein Friedensschluß ohne Worte: das freundschaftliche Gleichgewicht war wieder hergestellt, aber er hatte ein unabweisbares Gefühl, daß, des Friedens ungeachtet, der gestrige Tag eine Schranke zwischen ihm und seinem Ideale aufgerichtet hatte. Selbst Gerdas Stimme klang ihm kühler und nüchterner, als sie sagte:

»Da haben Sie das versprochene Modell. Der Junge spielt in den Straßen Harmonika, er ist Italiener und heißt Nicolo. Sind Sie zufrieden?«

Er bejahte mit beflissener Hast, und als sie ihn um ihr vergessenes Geburtstagsgeschenk bat, eilte er treppauf, um es zu holen. Er rollte die kleine Zeichnung lose um ein Fläschchen türkischen Rosenöls und band das Ganze mit einem Goldfaden zusammen, den er aus dem alten maigrünen Kaftan riß. Gerda hatte Tinos köstliche Rosenölfläschchen schon oft in der Hand gehalten mit dem heimlichen Wunsche, ein solches zu besitzen, – im Herzen freute sie sich auch kindisch über die Gabe, aber sie stand noch zu sehr unter dem Eindrucke des jüngst Geschehenen, und so dankte und nickte sie nur schüchtern zum Abschied.

In gedrückter und doch erwartungsvoller Stimmung erklomm Tino sein Leitertreppchen mit dem Knaben, der, unter rund in die Stirn verschnittenen Haaren, aus großen Augen blickte.

Nun hatte er sein erstes, wirkliches Modell! Es war ein auffallend schöner Bursche, feingegliedert und geschmeidig, aber mager und verhungert aussehend. Seine Augen funkelten voll wölfischer Gier, als sie, im Atelier unstät hierhin und dorthin schweifend, Tinos unberührtes Zweitfrühstück auf dem Fensterbrette entdeckten. Er trug einen schäbigen Schlapphut mit verblaßtem rotem Bande und ein zerschlissenes Tuchmäntelchen, über der halbnackten Brust geschlossen. Allein trotz aller Zerlumptheit zeigte er ein sehr sicheres Auftreten, und als Tino ihm einen Platz auf dem improvisierten Podium anwies, bemerkte er mit heiserer Stimme:

»Ich habe schon sehr berühmten Malern gesessen, padrone, drunten in München und vor drei Monaten in Berlin. Die pittori nehmen mich stets im Profil und ohne Hut.«

»Ich werde dich nehmen, wie es mir beliebt,« sagte Tino hochmütigen Tones, weil ihn Nicolos fertiges Betragen verlegen machte. Nachdem er indessen des Knaben schönes Profil sattsam betrachtet hatte, schloß er sich der Meinung seiner größeren Herren Kollegen an, nur daß er den Italiener seinen Hut aufsetzen hieß, der Konsequenz halber.

Nun konnte die Arbeit beginnen. Sofort versteinerte Nicolo buchstäblich in der befohlenen Stellung, kaum daß er mit den Wimpern zuckte oder einen Finger der herabhängenden Hand krümmte. Der malerische Kopf stand so klar und scharf gegen das stumpfe Grau der Wand, daß seine Wiedergabe Tino ein bloßes Kinderspiel zu sein dünkte.

Der erste Umriß gelang auch wider Hoffen und Erwarten. Die Verhältnisse stimmten, und nur der Ansatz des oberen Augenlides machte Schwierigkeiten. In der gespannten Aufmerksamkeit und dem Interesse an seinem ersten ernsthaften Schaffen wagte Tino kaum zu atmen, und sein Herz pochte ungestüm. Wie schwer war es, ein richtiges, lebendes Auge zu zeichnen, und doch wollte er seine Unbeholfenheit um keinen Preis den Knaben merken lassen, dessen Nasenflügel so spöttisch bebten, als mache er sich längst allerlei Gedanken über Tintoretto junior!

Hinter der Staffelei fuhr Tino verstohlen mit dem Finger über sein eigenes Augenlid, damit der Stift die Form besser übersetzen könne, aber dies Verfahren nützte wenig. Seine Lider waren groß, voll ausdruckgebender Linien, und sie deckten tiefliegende, mandelförmige Augen; Nicolos wölbten sich glatt und rund über vorliegenden Augäpfeln heraus. Tino nahm den Kopf in die Hohlhand und dachte angestrengt nach, dann maß er wieder, und dann geriet die Skizze. Eine unbeschreibliche Freude schwellte sein Herz, in stummem Glücke verglich er Wirklichkeit und Abbild, umarmen mögen hätte er den lumpigen Burschen!

Ehe er jedoch Nicolo seine Arbeitspause ankündigen konnte, sank dieser auf dem Podium zusammen, murmelte Unverständliches und streckte die Hände flehend nach dem Fensterbrette und Tinos Frühstück aus. Als er's darauf glücklich in seinen zitternden Fingern hielt, konnte er im Übermaße des Hungers lange nicht essen und dann weinte er zum Herzbrechen, während er an Brot und Fleisch zerrte wie ein junges Raubtier.

Tino setzte sich neben ihm aufs Podium, das bedenklich schwankte, und sprach ihm fast brüderlich zu. Sein Herz zog ihn zu diesem Armen hin, der hier an unwirtlicher Küste ein Fremdling wie er war. Für heute wurde nicht mehr gezeichnet; wie ein Beichtvater forschte Tino den Knaben aus – das hatte er von den Patres der Erziehungshäuser gelernt. Anscheinend ganz offen stand der Knabe ihm Rede, und Tino war viel zu tief in Mitgefühl befangen, um die Verschmitztheit einzelner Wendungen zu bemerken.

»Weshalb bist du nicht in den Malerstädten geblieben?« fragte er. »Als Modell sollt' ich meinen, hat man einen sicheren und guten Verdienst.«

»Die pittori schickten mich fort – so fand ich kein Brot mehr.«

»Was war der Grund des Fortschickens?«

»Nun, sie sagten, daß ihnen dies und jenes fehle, und schoben mir die Schuld zu. Ehe die Polizei mir nachstellte, lief ich davon.«

»So hast du gestohlen?«

» Non so! – was weiß ich? Sie sagten es immer, aber konnte ich dafür, wenn ihnen etwas verloren ging und sie fanden doch nichts in meinen Taschen? Der Dieb hing mir an, und ich hatte doch kaum, was ich gebrauchte, um tags nicht zu verhungern und nachts unter einem Dache zu schlafen.«

»Und was treibst du hier, wo es in allen Gassen keinen einzigen Maler gibt?«

»Ich spiele die Harmonika, seit sie mir in der Herberge den Affen stahlen – totgequält haben sie ihn dann, padrone! – Aber ich friere hier und die Brust thut mir weh,« fuhr er mit seiner rauhen Stimme fort, indem er mit den Fingerspitzen die letzten Krümchen von Tinos Frühstücksteller pickte, »ich will wieder nach drunten in ein Land, wo es wärmer ist – wo man mich versteht. Hier oben geben sie zu wenig für mein Spiel; ich kann nicht fort. Und meine Schuhe! schaut her, padrone! Habt Ihr nicht ein Paar alte für mich von den Euern?«

»Ich werde bis morgen sehen,« antwortete Tino. »Aber ehrlich mußt du werden, wenn ich dir helfen soll.«

»Wer unglücklich ist, dem rechnet sein Heiliger jede Woche zwei Sünden zu gut, eine große und eine kleine,« gab Nicolo zurück. »Daran halt ich mich. Mit dem Frommsein ist es nichts in diesem Lande; sie haben keinen richtigen Priester und keine Beichte, und in ihren verdammten Kirchen gibt's weder Weihrauch noch Wasser. Unter uns Armen ist der Erwerb gut, der den Hunger stillt; warum soll ich nicht thun, was mir gefällt, und stehlen, was mir beliebt, hier, wo mich der Teufel hat, weil die Heiligen keine Stätte finden?«

»Rede nicht so lästerlich,« sagte Tino streng, aber der bittere Sinn von des Knaben Worten ging ihm wie ein Stich durch die Seele. »Was nützt es,« dachte er, »wenn man den Wurm aus dem Apfel schneidet und den Apfel am grünenden Baume läßt? Seinen Wurm hat er verloren, aber er selbst muß verfaulen, denn man hat ihm ins Leben geschnitten. Besser gleich fort mit ihm in den Kehricht – ins Fegfeuer!« Er strich über die Stirn und bezwang den Gedanken. »Höre – suche dir lieber eine feste Stellung,« sagte er laut, »gehe als Piccolo in ein Hotel, die Livree würde dir zu Gesicht stehen und du hättest dein ruhiges Auskommen.«

Nicolo bewegte verneinend den Zeigefinger auf und ab und fuhr sich dann mit allen zehn Fingern rasch durch sein strähniges Haar: »Ich bin schwach auf der Brust, und ich habe schon zu viel Schläge bekommen im Leben. È vero, padrone! Dienen mag ich nicht, frei sein ist besser. Was würdet Ihr dazu sagen, wenn man Euch statt des pittore Priester werden hieße? Lieber würdet Ihr wohl auf Eurer Staffelei von dannen reiten, als Euch ins Kloster zwingen lassen, eh padrone

»Geh – geh für heute –« sagte Tino, dem ein qualvolles Gefühl die Brust beklemmte. »Morgen wirst du um halb zwölf Uhr wiederkommen, und dann darfst du nicht so viel reden, damit ich mehr fertig bringe.«

Er wendete sich zum Fenster, um aus seiner Börse Geld für Nicolo zu nehmen, und dieser, indem er den Blick scharf und lauernd auf seinen neuesten Brotherrn heftete, bückte sich geräuschlos, hob zwei ungespitzte Kreidestifte und ein Stückchen Gummi vom Boden auf und ließ alles in die tiefe Tasche seines Mantels gleiten. Fünf Pfennig gab ihm wohl jedermann dafür, und um fünf Pfennig konnte man drei Schoten Johannisbrot oder eine ganze Handvoll Süßholz kaufen.

Tino bemerkte die Entwendung nicht. Er sah dem Knaben nach, der behende wie ein Wiesel durch den Garten ins freie Feld huschte. An der Hecke drückte er sich mit gekrümmtem Rücken entlang und hielt den Mantel eng um sich zusammengerafft, gerade als fürchte er, daß der verhaßte Landjäger ihm schon auf den Fersen sei und die sehnige Hand nach ihm ausstrecke.

»Er scheut den Tag, und ich scheue das Licht; es ist eins wie das andere!« sprach Tino vor sich hin und lehnte die Stirn gegen das Fensterkreuz. »Ihm rat' ich, vom Stehlen und Lügen abzulassen, und ich lüge tagaus, tagein! Ich stehle Gott die kostbare Zeit auf der Schulbank und dem Oheim das Geld, das er für Weintrestern hinwirft. Ich kann keinen Wein aus den leeren Trestern keltern, die sie hier vor mich hinschütten – sechs Stunden lang jeden Tag!«

Er trat an seine Staffelei zurück und korrigierte aus dem Gedächtnis an der Skizze herum, bis er sie schließlich, da seinem ungeübten Auge das Vorbild fehlte, verdorben und fast zur Unkenntlichkeit verändert hatte. Wohl versuchte er, die erste Kontur wiederzufinden, aber es gelang ihm nicht. Heftig stieß er gegen die Staffelei, daß seine Zeichnung ins Schwanken kam, und dann kehrte er sie mutlos gegen die Wand. Mit Zorn und Ungeduld kämpfend schritt er unermüdlich in dem engen Stübchen auf und ab, bis Kurt erschien und das Mittagsbrot meldete.

»Höre du! stop! – Renne nicht hin und her wie der Königstiger im ›Zoologischen‹,« rief er und brachte Tino mit lachender Gewalt zum Stehen. »Hast du schon einmal einen enttäuschten Romeo gesehen? – Noch nicht? – Na, dann sieh mich an! Eben hab' ich am Deich eine weibliche Begegnung gehabt – ich bin starr! – Was sagst du denn zu Fräulein Gerda in der Damenhülle mit dem Storchnest auf dem Kopfe? Alles Originelle und Pikante zum Kuckuck! Der Normalbackfisch besucht das Institut und spielt in seinen Freistunden gnädiges Fräulein!

Hin ist der Zauber und mein Herz ward frei,
Ich sterbe unbeweibt, es bleibt dabei!
Der Rausch war kurz, – nun hat die Seele Ruh,
Komm, Ahnenschild, deck meine Wunden zu!

Abgemacht, Sela! Elle est à toi, Tintoretto!«

Er schlug beteuernd mit der Rechten an die Herzgegend, allwo in verborgener Westentasche die Kotillonschleife einer zwanzigjährigen Huldin, vom nahen gräflichen Gute, knisterte, und Tino errötete heiß, weil er an die weiche Mädchenwange und das weiche Haar dachte, die seine Lippen gestern geküßt hatten. Seine liebliche, jungfräuliche Muse ein Normalbackfisch!

Und plötzlich erinnerte er sich daran, daß er seine Aufgaben seit vorgestern nicht mehr des flüchtigsten Blickes gewürdigt hatte.


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