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Sechzehntes Kapitel.

Erst nach Tische am folgenden Tage erschien der Direktor auf dem Pfarrhofe. Er war, ehe er bei der Pastorin eintrat, schon oben in der Kofferkammer gewesen und brachte Tinos verborgen gehaltene Studienmappe mit ins Wohnzimmer.

»Ich nehme ihn ganz auf mich, er soll Künstler werden, ich will als seine Mutter für ihn einstehen!« rief die Pastorin dem Eintretenden entgegen, ehe er noch ein Wort gesprochen hatte. Thränen der Wehr und Abwehr standen in ihren Augen, und sie vermochte kaum das Unverhoffte zu fassen, als Tychsen ihr mit bewegter Stimme zur Antwort gab:

»Wir wollen gemeinsam für ihn einstehen, Alice! – Sie haben doch recht gehabt, als Sie den pädagogischen Nutzen der Strenge durch Distel und Dorn für einen solchen Charakter anzweifelten!« – Die Pastorin war von Herzen stolz auf dieses Zugeständnis ihres Freundes.

Darauf las er ihr den Brief an Mavro Photinos vor, den er noch heute abzusenden gedachte. Ein langes Schriftstück, an dem man jedoch – und das gereichte dem Schreiber in diesem Falle zur besonderen Ehre – nur wenig von der wohlstudierten klassischen Ruhe des Gymnasialdirektors Professor Franz Tychsen entdecken konnte.

Kurt erhielt den Brief zur Besorgung eingehändigt, da er ohnehin, in eignen Angelegenheiten, einen Gang zur Post machen mußte. Neugierig war er nur innerhalb der Grenzen des streng Erlaubten; deshalb begnügte er sich damit, den Brief hin und her zu wenden und sich den Kopf über die Frage zu zerbrechen: ob der Direx wohl soviel gesunden Menschenverstand in seinen Zeilen entwickelt habe, als dazu genüge, um den widerborstigen Onkel Mavro einfach zur Nordlandreise in Tinos Interesse zu bestimmen?

»Sicher ist sicher, und Schlimmeres als Geköpftwerden kann mir nicht für den Frevel passieren!« dachte er, ließ sich am Schalter eine Weltpostkarte geben und malte mit schöngeschwungenen griechischen Lettern einige Sätze darauf, die, ins Deutsche übertragen, etwa so gelautet haben würden:

»O Photinos, du Verehrter, dem Neffen eile zu Hilfe.
Heil bringt gesprochenes Wort nur – die Briefe sind eitel!
Solches empfiehlt dir Antinoos Freund

in hochachtender Freundschaft.«

Da ihm das Neugriechische ein Buch mit sieben Siegeln war, hielt er sich an die schwungvolle Redeweise des unsterblichen Homer und dachte dabei: »Wenn der alte Bock bei seinen Weinschläuchen meine Karte nicht versteht, so mag er sich getrost sein Schulgeld wieder herauszahlen lassen!« Und nach dieser geheimen Staatsaktion fühlte sich der angehende Diplomat bis auf weiteres als schwarzer Verschwörer.

In Übereinstimmung mit dem Direktor hatte sich Scherzer dazu erboten, Tino vorläufig außerhalb der Schule zu unterrichten, um ihm das Peinliche des Wiedereintritts zu ersparen, und zwei Tage nach den aufregenden Vorgängen schickte Tychsen den Schuldiener mit einem Briefe an Tino auf den Pfarrhof. Der Brief enthielt Scherzers Vorschlag und zugleich die Nachricht, daß die Leiche des verunglückten Italienerknaben ein ehrliches Grab im Seegarten gefunden habe.

Tino sandte in kurzen Worten seinen Dank zurück, und als das Abendrot über den ärmlichen Kreuzen der heimatlosen Gräber flammte, ging er ganz allein hinaus zum Seegarten.

Lange stand er mit gesenktem Haupte vor dem frischen Hügel mit dem rothen Namensbrettchen zu Häupten und kämpfte in der Strandöde einen schweren Kampf mit seinem stolzen Selbst.

Weder die Mutter noch der Freund erfuhren diesmal, was in ihm stritt und widerstritt, aber als Kurt schon längst schlief, hörte die Pastorin noch über eine Stunde lang auf- und abgehende Tritte in Tinos Zimmerchen.

*

Am nächsten Morgen, als Tychsen um acht Uhr zu seiner Stunde in die Unterprima trat, erhob sich mit den übrigen Schülern auch Tino von seinem gewohnten Platze zum Gruß.

»Sie haben mir eine sehr große Freude gemacht, Photinos,« sagte ihm Tychsen in der Pause, und Tino verbeugte sich so ernst, daß die Mitschüler anstatt auf ein Lob auf einen neuen Tadel von höchster Stelle gewettet hätten. Nach dem Schulschlusse kam Tinos zweiter Martergang: er stieg treppauf in den ersten Stock und ließ sich bei Frau Mina melden.

Anfangs war's der lebhaften Frau so unbehaglich und verlegen dabei, daß sie kaum sprechen konnte, schließlich jedoch stand sie ihrem Besucher an Takt nicht nach.

»Wir wollen einander jetzt besser verstehen als vorher,« entgegnete sie freundlich auf Tinos Handkuß, und als er tapfer fragte, ob und wann sie seine Rückkehr ins Gymnasium wünsche? errötete sie und antwortete ebenso tapfer:

»Es wird Ihnen gewiß lieb und recht sein, fürs erste bei Ihrem Freunde im Pfarrhof zu bleiben. Wir beabsichtigen Änderungen im Hause, und Ihr bisheriges Zimmer wird zu den Wirtschaftsräumen gezogen. Später, wenn Gerda uns verläßt, ist das blaue Stübchen für Sie bereit.«

So blieb er im Pfarrhofe und saß während jeder Freistunde arbeitend vor der Staffelei im kleinen Mansardenatelier. Die Wände schmückten sich mit neuen Skizzen, und Nicolos schönes Bild hing, von Tannengrün umgeben, dem Fenster gegenüber, da, wo die kargen Sonnenstrahlen es allmorgens streifen konnten. Vollkommen glücklich wäre Tino gewesen, hätte es ihn nicht heimlich gewurmt, daß Oheim Mavros Antwort auf des Direktors Brief mehr als vierzehn Tage ausblieb.

Weshalb schrieb er nicht?! Der diplomatische Schweiger Kurt litt, je länger, desto heftiger, an einer gewissen Leibes- und Seelenunruhe. Das Tanzkränzchen ging seines Reizes verlustig, die große Photographie seines lieben Ichs für den väterlichen Geburtstagstisch erklärte er für vollständig mißraten.

»'n Rahme mit 'ner recht tiefen Kehlung und Gold in Gold, Herr Baron, das gibt einen Relief und einen noblen Anstrich – nicht zu sagen,« beschwichtigte Brodersen, als Junker Kurt wetterte, wie ein Lieutenant beim Rekrutendrillen. Zum Glück ließ sich der gute Humor nicht ganz totdrücken, und bei Brodersens gehaltvollem Troste lachte er in alter Lustigkeit aus dem kecken Hallerslebener Gesichte in den wetterwendischen Apriltag hinein.

Hoho! da gab's etwas zu sehen! Umsonst schwärmten die Sextaner und Quintaner, die eben aus der Turnhalle entlassen wurden, nicht wie summende Bienen um den Weisel! Vereint mit holzschuhklappernder Straßenjugend, verfolgten sie einen Fremdling vom Bahnhof in die Süderstraße, wo Kurt eben Harms Brodersens Atelierthür hinter sich schloß.

Der Fremdling trug einen großen Reisepelz von altmodischem Schnitte, ein rotes Fez mit baumelnder Troddel und redete mit glänzenden Augen und theatralischen Gesten auf die Rotte Korah ein.

»Hurra!« rief Kurt und sprang in großen Sätzen über den Straßendamm, »hurra, mein naxischer Onkel!« Wie ein Wirbelwind fuhr er zwischen die bösen Buben und zerstreute sie, und dann stand er strahlenden Gesichtes vor dem Naxioten, der grüßend seine flache Rechte aufs Herz legte und die Linke mit einer anmutigen Beugung des prächtigen Kopfes herabsinken ließ. Kurt streckte ihm auf gut deutsch die Hand entgegen, rief in wahrster Herzlichkeit: » Khére, Kyrie Photinos!« und da fiel der ratlose Hellene dem blonden Teutonen auf öffentlicher Straße um den Hals, küßte ihn, daß es schallte, und sprudelte sein Neugriechisch hervor, bis Kurt lachend um Gnade und um Französisch bat.

Im Nu waren sie die besten Freunde, und Kurt geriet außer sich vor Entzücken, als es im Gymnasium hieß, die Herrschaften seien ausgegangen. Nun konnte ohne Gewissensskrupel die schönste Überraschung für Tino ins Werk gesetzt werden, und Kurts Hochgefühl erreichte seinen Gipfel, als Kyrios Photinos die zerknitterte Weltpostkarte mit den homerischen Strophen aus der Brieftasche nahm, nachdrücklich auf die Zeilen tupfte und sagte:

» Diesem Rufe bin ich gefolgt!«

Freilich ward der alte Herr recht ungläubig und abweisend, als Kurt ihm die Seifenblasen von Tinos »eminenter Zukunft« schillernd vor die schwarzen Augen zauberte, aber er ließ sich doch im Eifer des Gesprächs bis zum Pfarrhofe locken und bemerkte es nicht einmal, daß sein Führer ihn, aus Überraschungsrücksichten, fortwährend gegen Hecken und Mauern drängte.

Dann mußte auch noch das Hühnertreppchen überwunden werden, und dann riß Kurt die Thür zum »Studio« auf. Da saß der junge Künstler vor seiner Staffelei, das schwarze Kraushaar über einem so frischen, frohen Gesichte, wie Mavro Photinos es noch niemals an seinem Schmerzenskinde Tino gesehen hatte, und er pfiff ein fröhliches heimatliches Liedchen zur Arbeit. Nun schaute er um; nun sprang er mit hellem Freudenschrei vom Sessel auf und warf sich in seines Oheims geöffnete Arme.

Es war eine Scene unbeschreiblicher Verwirrung, die jetzt folgte, Lachen und Weinen in einem Atem; und als sich dann endlich die hochgehenden Wogen ein wenig geglättet hatten, stand Mavro Photinos in wehmütiger Bewunderung vor seines Neffen aufgeschlagener Studienmappe, wendete mit den braunen Fingern behutsam Blatt um Blatt, und seine Augen und Lippen sprachen:

»Also doch! also doch deines Vaters Sohn, Tinomou! – Was hilft es? – Der, dem Flügel gewachsen sind, muß fliegen!«

*

So sollte Tino Photinos wirklich seinen Fuß erheben dürfen, um ihn auf die erste Staffel der hohen Ruhmesleiter zu setzen!

*

Im sonnenhellen Wonnemond war es, daß sein letzter Tag in Holmswyk zur Rüste ging. Nachts mußte er abreisen, um die erwählte Kunstakademie rechtzeitig erreichen zu können. Er hatte seinen Lehrern und Mitschülern Lebewohl gesagt, und dieser letzte Abend vor dem Scheiden gehörte dem Pfarrhofe: der Mutter und Gerda und dem Freunde.

Wie heiß und treu hatte sein Herz gelernt, an der friedlichen Heimstätte zu hängen, an den Fischern und Schiffern des armen Strandes, an der ernsten Hallig mit dem mahnenden Kirchturme am Horizont und an dem Grabhügel im melancholischen Seegarten, der so eng an sein schwererkämpftes Glück grenzte!

Wohl ließ er dahinten, was er liebte, und zog in die Fremde, aber er fühlte festen Boden unter seinem Wanderstecken, er erblickte vor sich ein glänzendes, prangendes Gefilde, und an ihm selber lag es, das Gefilde zu erreichen ohne Furcht vor Staub und Stein, Nessel und Dorn auf seinem Wege. Und mit der gläubigen Kraft der Jugend hoffte er, daß er die Heiligtümer seines Herzens dereinst so gewiß wiederfinden würde, wie das ewige Meer, das jahraus, jahrein mit den gleichen mächtigen Wogen an die gleiche Küste brandet.

Zum letztenmal für lange Zeit schritt er an Gerdas Seite durch die mondhelle Frühlingsnacht der Stadt zu. Alles ringsumher so lind und schön; feierlich verkündeten die Glocken »zehn Uhr!« von den Türmen. Die Hecken des verschwiegenen Pastorenganges lagen im Mondlicht da wie zwei endlose duftige Kränze aus Weißdornblüten und Mairosen, und von fernher schlugen die Nachtigallen des Pfarrhofgartens herüber.

»Gertrud –« sagte Tino, als sie an der Ausgangspforte ihres stillen Pfades standen, »und wenn es Jahre währt, vertraue mir fest, ich kehre dir wieder.«

»Ich warte!« entgegnete sie einfach, und er nahm ihr Gesicht in beide Hände, blickte ihr tief und feurig in die braunen Augen und fragte weiter:

»Und was wirst du mir sagen, wenn ich wiederkehre?«

Da umschlang sie seinen Nacken, hob ihr klares Antlitz zu ihm empor und küßte ihn lächelnd:

» Khére, Tinomou! – Willkommen, mein Glück!«


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