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Viertes Kapitel.

Am nächsten Vormittage, während Frau Mina den Inhalt von Tinos Koffern und Kisten ordnete und eine Treppe tiefer Kurt Hallersleben, vor seinem gestrengen Examinator stehend, Angstschweiß vergoß, saß Gerda im Schatten der Schulhofsmauer auf der grüngestrichenen Bank. Über ihr nickten die jungen Ulmen, die eine kurze Allee bis zum Portale der Aula bildeten.

Dieser bösartige Wandelweg! Er ward während der Pausen von den Lehrern benutzt, und diese pflegten sich kaltlächelnd die Klassensünder heranzuwinken, um ihnen, innerhalb der Bannlinie, allerhand ungemütliche Eröffnungen zu machen und heikle Fragen nach etwaigen heimlichen Bierschwelgereien zu stellen. Die grüngestrichene Bank war des Herrn Direktors Thron, wenn er zuweilen hinauskam, und sie ward deshalb ›der Olymp‹ zubenannt.

Heute glänzte Hebe, die Rosige, im Sonntagsstaate auf dem Göttersitze und schrieb Tagebuch. So ein echtes Backfisch-Tagebuch! Viel unverstandene Gefühle und unverständliche Fragen an das düstere Schicksal, ein wenig, aber sehr strenge Religion und dazwischen verstreut eine Fülle jenes köstlichen, halb altklugen, halb knabenhaften Humors, der nur aus Aphorismen und Schlagwörtern zu bestehen scheint und der normalen Mädchenknospe zwischen vierzehn und sechzehn Jahren durchaus eigentümlich ist. Gerade verbreitete sich Gerda über Tino Photinos und seine mutmaßliche Zukunft als König der modernen Maler, da plötzlich stand er selbst hinter ihr. Sie schlug, einer ertappten Diebin gleich, das Buch zu und wurde vor Schrecken rot, bis ihr einfiel, daß der Unschuldige auch durch die schärfste Brille ihre Herzensangelegenheiten nicht lesen könne. So verschloß sie ihr Heiligtum mit dem winzigen Schlüsselchen an ihrer Uhrkette, rückte zur Seite, und Antinoos durfte sich gemütlich neben Hebe im Rosakleide niederlassen.

»Oben in meinem Zimmer kann Madame mich nicht gebrauchen,« erklärte er, »und Monsieur hält das Examen mit Monsieur › Cour‹. Deshalb bin ich hierher gekommen, um Mademoiselle das zu zeigen, was ich gestern versprach.«

»Bitte, nennen Sie mich nicht Mademoiselle! Mina hält sich darüber auf,« fiel sie ein; er verbeugte sich ernsthaft im Sitzen und sagte:

» Eh bien – disons alors Gertrude! – nun setzen Sie sich mir ganz nahe, damit ich Ihnen unter dem Tische meine Geheimnisse zeigen kann. – Zuerst aber schwören Sie mir Schweigen.«

»Wie schwört denn ein Mädchen?« fragte die unwissende Gerda, und Tino bedachte sich einen Moment.

»Wir schlagen das heilige Kreuz, aber das gilt nicht für Sie –« meinte er, da schnitt Gerda ihm das Wort ab:

»Lassen Sie – ich glaube, daß ich es schon selbst weiß. Ich kenne nämlich ein Bild, wo Elsa von Brabant dem Lohengrin gelobt, daß sie niemals nach seiner Herkunft fragen wolle, und als sie das gelobte, legte sie ihre Hand aufs Herz.«

»So thun Sie dasselbe und sprechen Sie ein heiliges Wort dazu,« erwiderte Tino, und Gerda preßte die rechte Hand fest gegen ihr Herz, dabei mit tiefer Stimme beteuernd: »Wahrhaftig!«

Darauf zog Tino ein Mäppchen hervor, das er bis jetzt hinter der Bank verborgen gehalten hatte, legte es auf seine Kniee und reichte Gerda unter dem Tische ein Blatt nach dem anderen zum Betrachten hin.

Es waren zum größten Teil Scenen und Figürchen aus dem modernen französischen Straßenleben, der Wirklichkeit treu abgelauscht und dann mehr oder minder stark karikiert. Die Kontur überall auffallend kühn, die Schatten in breiten, ebenmäßigen Strichlagen, da und dort mit überraschender Zartheit ins Halblicht hinübergetönt. – Die Linien überschnitten sich richtig, wenn auch die Perspektive noch sehr naiv gehandhabt war, und hin und wieder unterbrachen sogar geschickte Andeutungen freier Modellierung den schneidigen Umriß. Dazu hatte jedes der Gesichter und Gesichtchen Physiognomie, es steckte zweifellos weit mehr als bloße Spielerei hinter diesen Blättchen. Eine kleine Welt gaben sie wieder. Elegante Pflastertreter, Straßenkehrer, die den geputzten Schönen der Halbwelt und der oberen Zehntausend höhnisch und neidisch nachschauten, breitbeinige Matrosen, die Hände in den Taschen, die Stummelpfeife zwischen den Zähnen, Herrchen und Dämchen von zwei bis vier Jahren, am Seestrande spielend, den Badenden zuschauend. Nun Porträtskizzen: Lehrer, Mitschüler, der Concierge des collège und so fort in bunter Abwechselung. Auch die kleinste Zeichnung trug ihr Datum und »ΑΝΤΙΝΟΟΣ« in der linken Ecke. Verschiedene der Blätter zeigten am Rande eine abscheuliche Teufelsfratze mit langer Kolbennase und grinsenden Wulstlippen.

»Das waren alle meine bösen Stunden,« sagte Tino.

Von dem Backfischchen Gerda war kein Verständnis für diese ebenso ungewöhnlichen wie unkindlichen Leistungen zu verlangen. Zuerst schien sie sogar geneigt, es unmännlich zu finden, daß ein angehender Rafael Modefiguren zeichne. Als aber Tino ihr das Marseiller Argot unter einzelnen der Bildchen in gutes Französisch übersetzte, ging ihr ein helleres Licht auf, und sie begann mit voller Wärme sich zu belustigen und zu bewundern. Kein einziger ihrer Freunde hatte das je fertig gebracht. »Wo haben Sie das alles nur gezeichnet?« rief sie.

»In der Klasse unter dem Pult,« antwortete er, »und im Refektorium, und im Schlafsaal bei Mondschein. Vom Schlafsaale sahen wir über die Mauer hinweg in eine lange, lange Straße. Da konnten sie uns nicht ganz vom Leben absperren. Alle Tage erblickte ich andere Menschen, Engel und Teufel, Bettler und Reiche, und wenn ich heimlich das Fenster öffnete, so vernahm ich auch mitunter, was sie redeten. Mein Kopf ward immer voller von Gestalten – die versperrten den Lektionen den Platz.«

Sie staunte ihn mit ihren großen Augen an. »Wie es lustig in Ihrem Kopfe aussehen muß, lustiger als in Ihrem Gesichte,« meinte sie und nickte ihm zu. »Sagen Sie – warum werden Sie nicht Maler, anstatt daß Sie hier noch einmal in die Schule gehen!«

»Ach! weil ich nicht darf – weil ich nicht soll!« rief er mit scharfer Stimme und warf die Zeichnungen, bunt durcheinander, in die Mappe zurück. »Es ist alles Hoffen und Wünschen umsonst! Mein Oheim will mich zwingen, Wein zu bauen und zu verschachern – deshalb, Mademoiselle, muß ich Sprachen lernen und Rechnen und Chemie; zum Mischen und Fälschen – verstehen Sie? Mit Haß denk' ich daran, wie ich später an den Wurzeln der Weinstöcke nach der Reblaus grabe und die Fässer pichen lasse und mich tagaus tagein in des Oheims Bureau besinnen werde, wieviel Prozente man von den Käufern nehmen kann! Das wird mein Leben sein: Lepta zu Lepta legen, bis es Drachmen sind und die Drachmen hartes Gold und fettiges Papier. Ah! ah! wie mich's ekelt! Fühlen Sie mit mir, Gertrud! Denken Sie, wie es im Bureau ist und wie anders da draußen in der schönen Welt! Da sitzen die Weinhüter unter den Ranken, die Mädchen lachen mit ihnen, am Strande liegen die Fischer in der Sonne, schauen aus nach der See und der Insel, wo man den schneeweißen Marmor bricht, und vor der Hüttenthür wandelt die Alte mit dem Rocken hin und her und sinnt sich Märchen aus. – Ach, Bilder! Bilder! Ich darf sie nicht sehen, nicht festhalten, sie verwirren meine Gedanken! Immer und ewig soll ich in Ketten bleiben!«

Er legte den Kopf vor sich auf die kalte Steinplatte des Tisches, und abermals saß Gerda scheu und ratlos seinem Schmerze gegenüber.

»Armer, armer Tino,« sagte sie endlich, »wenn ich Ihnen heraushelfen kann, so thue ich's. Glauben Sie etwa, ich hätte keinen Mut?« fragte sie, da er den Kopf hob und sie traurig-zweifelnd anschaute: »O, Mut für zehn!«

Und in diesem Augenblicke kam Kurt Hallersleben auf die grüne Bank zu.

Er machte zwar ein höchst unbefangenes Gesicht, aber seine rote Stirn, auf der die blonden Haare in feuchten Ringeln lagen, verriet ihn. Sein Examen, das er nur mit genauer Not bestanden hatte, lag ihm noch in allen Gliedern. Er setzte sich mit einem tiefen Seufzer neben Tino, gerade auf dessen Bildermappe, und auf des jungen Mädchens Frage nach der Prüfung antwortete er ganz ehrlich:

»Na, wissen Sie, Kleine – es war steeple-chase mit Hindernissen, aber ich habe es schließlich durchgeholt. Gänzlich aus dem Sattel bin ich nur einmal gewesen: natürlich bei den alten Griechen, als der Direx wissen wollte, wann Pindar geboren sei. Was soll einem zukünftigen Diplomaten Pindar nützen, frage ich? Item: – ein scharfes Rennen um meine Prima hab' ich faktisch gehabt!«

»Es ist nett von Ihnen, daß Sie sich nicht besser machen wollen, als Sie sind, Kurt. Ich gratuliere zum Schlußerfolg,« sagte Gerda und schüttelte ihm kräftig die Hand. »Sie hospitieren wohl auch demnächst in Unterprima, nicht wahr, Tino? Dann seht ihr beide euch alle Tage, also schließt ihr nur feste Freundschaft, und wenn ihr etwas recht Lustiges erlebt, so erzählt es mir hübsch, hört ihr, Jungens?«

Da rief die Direktorin, die Suppe stehe auf dem Tische, und das Kleeblatt trennte sich.

Der Mittagsschwüle folgte ein herrlicher, linder Abend, und das Ehepaar rüstete sich, die Pastorin trotz Kurts Schutz heimzugeleiten, obgleich in dieser friedlichen Ebene mit ihren nordisch hellen Nächten jedermann unbelästigt sich in Stadt- und Landbezirk ergehen konnte. Selbst die Vagabunden waren meist von der harmlosen Art.

Tino, an dem Kurt etwas absonderlich Interessantes entdeckt zu haben schien, bat, sich anschließen zu dürfen, und Gerda wollte nicht allein zurückbleiben. Der Mond machte die Nacht licht und duftig; die Nebel ließen ihre Elfenschleier über die Wiesen dem Watt entgegen fliegen, und wie versilbert standen die drei Holmswyker Kirchtürme im schwarzblauen Sternenhimmel. Die ganze Natur lebte geheimnisvoll in der sommerlichen Wärme, es schrillte und zirpte in Gras und Heidekraut, und die Rohrdommel rief dumpf aus der Ferne mit den Unken und Fröschen des übergrünten Fischteiches um die Wette. Im Gebüsch klagte und lockte es aus einer unsichtbaren Vogelkehle. »Ob das wohl ein Männchen sein mag, dem sein Weibchen davongeflogen ist?« fragte Gerda, und sie ward ganz wehmütig bei dem Gedanken.

Die beiden Knaben schritten weit voraus, nahe aneinander gedrückt. David und Jonathan hätte man nicht vertrauter darstellen können. Dennoch war's ein irdischeres Gefühl als Liebe, was sie nach so kurzer Zeit des Kennens verband, und dies Gefühl verkörperte sich in einer Dose mit schwarzen Oliven aus Tinos Tasche: ein höchst männlicher, salzig-bitterer Genuß, ja nicht mit weibischer Zuckernäscherei zu verwechseln! Selbstverständlich durfte der gestrenge Schul-Zeus nicht dahinter kommen; gottlob blieb er mit seiner Gattin weit zurück; denn die beiden fanden nach der sechswöchentlichen Trennung noch immer des Austauschens kein Ende. So schmausten die neuen Freunde ungestört, fanden aus, daß ihre Geburtstage in einem Monate lagen, und gelobten sich gegen alle Holmswyker Spießbürgerssöhne zusammenzustehen als ein Herz und eine Seele. Kurt, für den, wie für gar manchen guten Deutschen, das Ausländische einen unwiderstehlichen Zauber besaß, war der Gebende bei dieser jungen Freundschaft, und Tino nahm mit seiner melancholischen Zurückhaltung. Aber er nahm doch sehr dankbar; denn bis jetzt hatte ihn sein Schulleben arm an kameradschaftlicher Liebe gelassen.

Zwischen den beiden Paaren wandelte die Pastorin, von Gerda umfaßt, und das junge Mädchen flüsterte so angelegentlich, als gelte es die wichtigsten Geheimnisse mitzuteilen.

»Tantchen,« sagte sie, »wie freut es mich doch, daß Kurt nicht sitzen geblieben ist! Es ist für mich das Allerschrecklichste und Lächerlichste, wenn jemand sich blamiert. Weißt du, Kurt hatte mit mir um zwei große Tafeln Schokolade gewettet, daß er mit Glanz durchkäme.«

»Nun, der Glanz läßt sich ertragen,« entgegnete die Pastorin, »aber ich hoffe, er wird sich trotzdem ritterlich zur Schokolade verpflichtet fühlen. Das Gegenteil wäre wahrscheinlich recht kummervoll für ein gewisses Süßmäulchen.«

»O Tantchen – ich bin das längst nicht so sehr, wie du denkst! Sieh, ich werde Kurt sogar vorschlagen, ob wir die Schokolade nicht gemeinsam dem armen Tino schenken wollen. Er schwärmt für Schokolade und Bonbons, und ich möchte ihn so gern trösten.« – Sie machte eine lange Pause und faltete ihre Hände fest um den Arm der Pastorin zusammen. »Liebes Tantchen,« flüsterte sie dann zögernd und zog den Kopf ihrer Vertrauten zu sich nieder, »darf ich dich etwas fragen? – Glaubst du, daß Tino sich je bei Franz und Mina glücklich fühlen kann?«

»Weshalb nicht, Herzlieb, wenn er guten Willen zeigt, heimisch zu werden und tüchtig zu lernen?«

»Aber heimisch werden kann er ja niemals,« gab Gerda eifrig zurück, »wenn ich alles so gewiß wüßte, wie das

»Warum stellst du denn solche Fragen?« sagte die Pastorin »da du dir die Antwort darauf schon selbst und dermaßen bestimmt gibst?«

»Ach – ich wollte, ich dürfte einen Schwur brechen – darf man das in keinem Falle?« erwiderte sie ausweichend und blieb nachdenklich mitten im Wege stehen, um dann sehr langsam weiterzuschreiten. »Wenn jemand nun fühlt – weißt du – deutlich fühlt, daß ein anderer nie auf die Weise glücklich werden kann, wie dritte Menschen es verlangen – und der Jemand möchte gern – er möchte gern, daß der andere – nein, so ist es nicht richtig –« Sie verwirrte sich, schüttelte den Kopf und schwieg.

Die Pastorin wartete ein Weilchen auf die Fortsetzung, und als diese nicht erfolgte, nahm sie Gerdas Hand in die ihre: »Mein Schatz, zerbrich dir mit deinen fünfzehn Jahren den Kopf noch nicht über Lebensrätsel und sei mit Versprechen und Schwüren weniger leichtfertig,« sagte sie. »Ich begreife sehr gut, daß deine Interessen augenblicklich im Neuesten vom Tage, das heißt in Tino Photinos und seinem Glück und Unglück, gipfeln.«

»Nur im Unglück – aber den wahren Grund davon, den darf ich keinem verraten,« fiel Gerda der Sprechenden in die Rede. Das ist eben die dumme Geschichte mit dem Schwur, Tantchen! – Und wenn Franz etwa meint, daß Tino –« sie stockte wieder und machte eine rasche, abwehrende Handbewegung, – »er ist ganz mißverstanden – ganz und gar!« beendete sie ihren abgerissenen Satz.

Die Pastorin spann das Thema mit keinem fernernen Worte aus, und Gerda blickte eine Weile verstohlen zu dem mondbeschienenen Gesichte an ihrer Seite auf, legte dann ihren Kopf gegen den Arm, der sie umfaßte, und bat:

»Verzeih mir – Tino ist noch so neu, du sagtest es ja vorhin selbst, und ich finde auch, daß man die Unglücklichen lieber haben muß als die Glücklichen. Bist du nicht auch unglücklich? Du hast deinen Mann verloren und hast kein Kind, gerade du nicht, die so reizend mit Kindern umgehen kann! – Nicht wahr – du weißt doch, wie lieb ich dich habe?«

Die Pastorin küßte den Mund, der ihr dies rührende Bekenntnis machte, und dann hatten sie den Pfarrhof erreicht, wo die Knaben schon warteten und Kurt die Gartenpforte offen hielt; denn er behauptete, todmüde vom Examen zu sein. »Gute Nacht!« »Gute Ruh'!« gings von Mund zu Mund, und fünf Minuten später sah die Pastorin ihr vierfaches Schutzgeleit in einer Reihe über die mondbeschienenen Wiesen zur Stadt zurückpilgern.

»Der Photinos ist ein stilles Wasser – auf den Grund bin ich ihm heute noch nicht gekommen, – na, morgen ist auch noch ein Tag,« meinte Kurt zu seiner Tante, als er ihr das Licht zum Schlafengehen anzündete.

Andern Tages begann der Unterricht von neuem, und ein frischer Hauch des Ferienübermutes zog in die verödeten Klassen mit den Schülern ein. Kurt erschien, eine cerevisartige Primanermütze keck aufgestülpt in der Schule, schwatzte nach allen Seiten während der Pausen und ließ Tino unbevormundet, weil er's so als das Ersprießlichste für seinen Freund erachtete. Zur deutschen Sprache hatte Tino in Marseille bereits Vorstudien gemacht; das bittere Muß des täglichen Verkehrs brachte ihn merkwürdig rasch weiter, viel rascher als alle die lässig gelösten Schulaufgaben und verabscheuten Privatstunden, zu denen der Direktor selbst sich bequemt hatte.

Die Pastorin erzählte ihm gelegentlich von ihrem Abendgespräche über Tino mit Gerda. Er aber nannte es, unbeschadet aller Verehrung für seine schöne Freundin, töricht von ihr, solchen Kindergeschichten auch nur den geringsten Wert beizumessen.

»Er ist seines Vaters Sohn,« sagte er, »und Erbschäden lassen sich nur mit Feuer und Schwert ausrotten. Der Tagedieb bringt meistens den Taugenichts zur Welt, der Taugenichts den Verbrecher. Laster und Wahnsinn verstärken sich in aufsteigender Linie, und nur die folgerichtigste Erziehung vermag das Gift jeweilen zu neutralisieren. Über die sogenannten Ausnahmen denke ich sehr skeptisch und pessimistisch.«

»Und weshalb in aller Welt belasten Sie dann Ihr Haus und Ihre kostbare Zeit mit einem so durchaus hoffnungslosen Menschenkinde, wenn Barmherzigkeit und Nächstenliebe keinerlei Rolle dabei spielen?« fragte sie, und er antwortete, sich behaglich im Schaukelstuhle wiegend und die Theetasse auf der flachen Hand balancierend:

»Ganz einfach, weil dieser Fall meine Erfahrungen bereichern wird wie wenig andere, oder ich müßte meine Studien in der Pädagogik umsonst gemacht haben!«

Da sie sein Argument ungewöhnlich ernst und zurückhaltend aufnahm, zog er die Sache ins Komische und suchte seinen Beweis mit dem griechischen Schelmenliede aus Tinos Heimat weiterzuführen, mit dem »Diebe von Naxos«:

»Nicht mehr stehlen wollte Petro,
Und zu meiden die Versuchung,
Schloß er sich ins leere Häuschen.
Sprach zu ihm sein Diebsgewissen:

›Hast gefangen du gesessen
Sieben lange Jahre, Petro,
Bist nun frei, und deinen Hausrat
Hast verkauft du für die Freiheit,
Zur Bestechung deiner Richter.
Wackre Seelen sind die Richter,
Lauter gute Spießgesellen,
Die da stehlen, wie du stahlest!
Gehe in dich, Petro, ehrlich
Führe du fortan dein Leben!

Er entschlief, doch als erschreckend
Er vom ersten Schlummer auffuhr,
Regten sich die Diebesfinger,
Ihres alten Amts zu warten.
Ach, sie fanden nichts zu stehlen,
Wohl im ganzen, leeren Häuschen,
Nichts als schlechter Schuh' ein Pärchen.

Wetzte Petro scharf sein Messer,
Halb im Wachen, halb im Traume,
Trennte von den Schuhen leise
Von den Schuhen beide Sohlen,
Barg sie in der Fustanelle,
Schlief beruhigt bis zum Morgen.

Doch, da mit dem Wasserkruge
Früh er wandelte zum Brunnen,
Trat er unsanft auf die Kiesel,
Schnitten ihn des Grases Halmen.
Sohlen fehlten seinen Schuhen,
Selbst bestohlen hat sich Petro!

Warf sein Fez er in die Lüfte
Rief mit frohgerührter Stimme:
›Dank, o Himmel, für dies Zeichen;
Denn ein Thor nur mag sich trennen
Von der Väter altem Erbe! –
Lustig will ich weiterstehlen
Mit des guten Gottes Hilfe!‹ –
– – – – – – – – – – – –
Also treibt's der Naxiote.«

»Sehen Sie, liebe Freundin, das ist die Geschichte vom Erbschaden,« scherzte er. Frau Alice dankte ihm freundlich für seinen Vortrag, und so war der Friede neu geschlossen. Innerlich zwar nannte Tychsen die Pastorin unlogisch wie alle Frauen, und sie behielt ihre Zweifel über die Unanfechtbarkeit seiner Methode.


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