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Siebentes Kapitel.

Schon früh am Sonntagmorgen, als das Tychsensche Ehepaar sich zur Kirche begeben hatte, winkte Tino Gerda auf ein Augenblickchen von den Kindern fort in den geheimnisvollen Garderoberaum. Sie sollte ihm helfen, unter den Zeichnungen eine Auswahl für die Pastorin und ihre Kritik zu treffen. Da saßen sie nun mitsammen hinter der verriegelten Tapetenthür, das Lämpchen qualmte, der Sitz auf dem Koffer war eng und unbequem, aber sie sichteten und flüsterten so eifrig, als gälte es das Wohl eines ganzen Staates.

Leider fand sich zu Tinos großem Kummer wenig Genügendes für den besonderen Zweck unter all den Karikaturen und französischen Straßenbildern. Gerda war auch der Meinung, daß Tante Alice, die so selten zum Lachen aufgelegt sei, sich schwerlich an diesen Kunstprodukten entzücken werde. Sie hatte das ganze Paket der lustigen und bitterscharfen Blätter im Schoße und legte zögernd eins nach dem andern beiseite, während Tino die Brauen zusammenschob, an den Lippen nagte und in seiner Muttersprache monologisierte. Da pochte urplötzlich ein rascher Finger von außen an die Tapetenthür, und Kurts Stimme fragte im Tone heftiger Ungeduld:

»Fräulein Gerda, sind Sie hier? – Ich suche im ganzen Hause nach Ihnen – seit einer Viertelstunde! (Die Wahrheit mit drei multipliziert!)«

Gerdas Hände wurden eiskalt. »O Tino! sagen Sie etwas –,« flüsterte sie, und ehe der Satz beendet war, hatte Tino den Riegel schon zurückgeschoben.

»Tritt ein,« sagte er mit großartiger Handbewegung, »aber verschließe diese Thür wieder; wir werden Platz für dich finden. Es ist mein Geheimnis, das ich mit Mademoiselle Gertrud teile – du mußt mir bei deiner Seligkeit geloben – hörst du?« – Und er breitete dem Eintretenden die Arme entgegen, so daß dieser ein Gefühl hatte, als solle er gegen die Wand genagelt werden.

Er machte eine ungeduldige Kopfbewegung und bog Tinos ausgestreckte Arme nieder. »Laß – laß! Hernach die Eidesleistung,« erwiderte er und legte dabei die Hand leise klopfend auf des Freundes Schulter, damit die Abweisung nicht allzuschroff empfunden werde. »Wo ist Ihre Frau Schwester, Gerda? Meine Tante ist über Nacht sehr krank geworden.«

Gerda sprang auf und ließ die Zeichnungen von ihren Knien achtlos zu Boden flattern. »O mein Gott, Kurt! – und Mina ist in der Kirche! Ich lasse ihr Botschaft zurück und laufe gleich selbst hinaus. – Sie können doch nichts nützen – Herren sind immer überflüssig bei Kranken, wenn's keine Doktoren sind – bleiben Sie hier bei Tino – sprechen Sie über alles mit ihm, Tino!«

Der saß geisterbleich auf dem Lederkoffer, den Kopf, nach seiner Gewohnheit, seitwärts in die Wandecke gedrückt und Kurt mit beiden Händen abwehrend.

»Na, Alterchen, nimm dich ein bißchen zusammen!« ermahnte Kurt väterlich und rückte eng an des Betrübten Seite. »Überlassen Sie ihn mir, Gerda, wir werden schon miteinander fertig. Der armen Tante Alice können wir ja doch nicht helfen, leider Gottes! Also, Antinoos Photinos, ich schwöre dir beim Barte des Propheten – –«

Mehr vernahm Gerda nicht; denn sie machte sich spornstreichs auf den Weg, innerlich entrüstet über Kurts herzlose Ruhe, bis ihr nachträglich einfiel, daß er doch sehr blaß ausgesehen und dunkle Ringe unter den Augen gehabt habe. Der arme Verkannte! Sicherlich hatte er die Nachtwache bei der Kranken gehalten. Und da sie vom Freudenquell in der Wattstraße nichts wußte, bereute sie alsbald ihr Splitterrichten recht ernstlich und erwies sich bis zum Eintreffen ihrer Schwester auf dem Pfarrhofe als sehr hilfreich und umsichtig.

Zwei Stunden später sah Kurt das junge Mädchen von der Apotheke aus abermals in den Heckenweg einbiegen, und er turnte kühnlich über die verwitterte Eingangspforte zu diesem engen und verschwiegenen Pfade hinweg, um schneller zu seiner »kleinen Liebe« zu gelangen.

Ihr heiteres Gesicht schaute in seiner ernsten Besorgnis ganz unkindlich drein, und mit gedämpfter Stimme berichtete sie, daß Doktor Scherzer eine bedenkliche Miene zeige und eine Diakonissin aus Kiel verlange. Sogar von Professor Esmarch und seiner Klinik sei geredet worden, und Kurt müsse nun fürs erste ins Gymnasium übersiedeln als Tinos Stubenkamerad. – Sie wolle ihm gleich ein wenig zusammenpacken helfen.

»Sie haben keine blasse Ahnung, wie riesenmäßig leid mir Tante Alice thut,« sagte Kurt gefühlvoll, »aber wir wollen uns damit trösten, daß Esmarch solch ein eminentes Licht mit dem Messer ist! Ja, lachen Sie nur über den hinkenden Vergleich, Sie spöttisches Ding; wir zwei brauchen doch nicht immer die auserlesensten Redeblüten zu pflücken, wenn wir einander nur verstehen, wie? – Aber Tino! Nein, auf Ehre, Gerda, über Tino und sein Genie bin ich förmlich entzwei!«

Gerda errötete und ihre Augen strahlten auf. »O, wie mich das von Ihnen freut, Kurt! Hernach lassen Sie uns darüber sprechen, dort am Fenster winkt Mina schon,« und eilends lief sie voran, dem Pfarrhofe zu.

Sie durfte nur einen Moment zu der Kranken eintreten, und der that es wohl, als die duftige Wange des Mädchens sich behutsam gegen die ihrige schmiegte und der frische Mund sie zu trösten suchte: »Behalte du Mina ruhig bei dir, geliebtes Tantchen, ich sorge für alles daheim so gut ich's kann. Deinem Kurt soll es an nichts fehlen, und Tino darf ich doch ganz besonders von dir grüßen?«

Gerdas kühle Hand ward von der fieberheißen schwach gedrückt, und das glühende Gesicht in den Kissen wendete sich unruhig hin und her.

»Ach – er wollte ja kommen – er wollte mir etwas anvertrauen –« flüsterte sie. »Sag ihm von mir –«

»Laß es jetzt sein,« bat Gerda. »Ich weiß was es ist, meine Liebste. Es hat Zeit, bis du wieder wohl bist; er muß noch viel arbeiten, ehe er sich aussprechen kann, glaube mir das auf mein Wort! – Kurt und ich, wir sind seine besten Freunde; beruhige dich und denke nur daran, daß du bald gesund werden mußt!« – Damit schlüpfte sie leise hinaus.

Unten im Garten wanderte Kurt schon wartend auf und ab. Sein Gepäck war so federleicht, daß Gerda ihn verwundert anschaute und die winzige Ledertasche auf der flachen Hand wog. – Kurt lachte.

»Machen Sie doch nicht so entsetzlich runde Augen! Ich soll wohl meinen Reisekoffer wie ein Räderschaf am Bande nachziehen? Denken Sie, ich bin so gefühllos, daß ich nicht mindestens zweimal täglich herauskomme, um nach meiner Pflegemama und meinem molligen Stübchen zu sehen? So eins haben Sie in Ihrem ganzen Schulkasten nicht! Was ich heute vergessen habe, muß mir bis morgen der Kyrios Tino leihen.«

»Der Kyrios Tino! – Der ist ja einen Kopf kürzer und einen halben Meter schmäler als Sie,« sagte Gerda mit vielmeinendem Achselzucken, und nun lachte Kurt erst recht, breitete stehenbleibend beide Arme aus, und das blühende Rot seiner Wangen vertiefte sich:

»Ei, ei, ei! – Sind Sie gründlich! Nehmen Sie mir doch einmal das genaue Maß!«

Sie wich vor ihm zurück und warf verächtlich die Lippen auf. Eine Weile ging sie schweigend allein ihres Weges, während er über eine bedeutsame kleine Versöhnungsfeier an der nächsten Biegung des Heckenpfades nachdachte. Kurz vorher jedoch besann sie sich eines anderen, wendete sich um und sagte herb und kühl:

»Ich bin keine Spielkatze, der Sie solch alberne Bemerkungen zum Auffangen hinwerfen dürfen. Sie glauben von sich das, was Julius Cäsar einmal sprach: wie der Satz heißt, weiß ich nicht mehr genau; Sie werden es wohl desto besser im Kopfe haben.«

» Veni, vidi, vici!« ergänzte er und machte ihr ein Tanzstundenkompliment. »Sie haben sich eben ungewöhnlich schneidig benommen, und ich bedanke mich für gnädige Strafe. Nun seien Sie aber hübsch wieder gut, damit ich mich an Ihre grüne Seite zurückverfügen kann. Ich möchte nämlich mit Ihnen gemeinsam einen kolossalen Plan für Kyrie Tinos Wohl aushecken, Sie superkluges Fräulein!«

Im Nu hatte sie ihren Groll vergessen und war wieder neben ihm. »O, was ist es, Kurt? Ja, ja! ich bin natürlich dabei. Was sagen Sie zu den Zeichnungen? Wie finden Sie das Bild vom Marseiller Hafen und das mit dem blauen Meere und der Insel Paros? und das, wo Jens Petersen als Seeräuber in der Feluke steht? Und dann all die Modedamen?«

»Einfach kolossal! Und dann den Direx – (Pardon! Ihren Herrn Schwager) – als Löwen in der Tretmühle! Aha, das hat er Ihnen nicht gezeigt – er wird sich hüten!« rief Kurt, stolz darauf, das größere Vertrauen des Genies genossen zu haben. »Mit welcher Diebesschlauheit betreibt und verbirgt er seine Sache, freilich – er stammt ja auch vom Eiland der ›klugen Diebe.‹ Unter uns gesagt, Gerda, in dem Menschen steckt etwas, das wahrscheinlich über unsern Horizont hinausragen wird, verstehen Sie mich? Der Onkel Mavro, der ihn an den Kontorbock schrauben will, ist selbst ein alter Bock! Ich wäre nun der Meinung, daß wir beide, da auf Tante Alice vorderhand nicht zu rechnen ist, das Unternehmen in ein ordentliches Fahrwasser lotsen. Neben dem Verdienste verspreche ich mir auch ungeheuren Spaß davon. Jetzt also passen Sie auf, was ich im Sinne habe. Kennen Sie Mutter Petersens sogenannte Kofferkammer? – hinten beim Hühnerwiemen über der Küche? Vom Hofe aus führt die verrückte Treppenleiter hinauf, die man abends auf allen vieren, mit dem brennenden Schwefelholze zwischen den Zähnen, entlang kriechen muß. Sehen Sie, besagte Kammer hab' ich der Petersen schon halb und halb abgeschwindelt; ich wollte dort für mich und Tino so eine Art Rauchkabinett zurechtmachen. Die Kammer hat einen Ofen und ein recht anständiges Fenster nach der Wattseite. – Ich werde nun meine Rauchgelüste zum Opfer bringen, und Sie müssen mir helfen, dort oben ein Atelier für Tino einzurichten. Mögen Sie?«

»Ob ich mag! – Vorausgesetzt, daß er's nicht lieber selbst einrichtet. Künstler haben Launen, sagt man. Aber ich weiß ein ausgezeichnetes Modell für ihn – einen Italiener,« sagte Gerda, begeistert von diesen Plänen. »O, Kurt, Sie sind wirklich ein edler Mensch, und wir wollen nie mehr streiten! – Ja, Tino soll unser Schützling sein, und wenn er einmal ein berühmter Maler ist –«

»Dann kommen wir als seine ersten Wohlthäter vornan in die dreibändige Biographie,« vollendete Kurt lustig, und ganz außer Atem vor Eile und Vergnügen langten die Verbündeten im Gymnasium an.

Sie stürmten, ohne anzupochen, zu dem ahnungslosen und trübseligen Tino ins Zimmer, beide aus einem Munde rufend:

»Aufgepaßt, Tino! Wir haben uns etwas Wundervolles ausgedacht!«

*

Er war ganz benommen von seinem unerhörten Glücke, und wie es insichgekehrten und doch sehr leidenschaftlichen Naturen oft eigen ist, vertiefte sich, im Gegensatze zu seinen Gefühlen, der melancholische Ausdruck seines Gesichtes. Er ward dem Direktor gegenüber immer scheuer und wortkarger.

In jenen Tagen, da die Hausfrau meist auf dem Pfarrhofe beschäftigt war, widmete sich der Hausherr notgedrungen mehr als sonst den Seinen, und er folgte seiner eignen Liebhaberei, indem er ihnen manchen genußreichen Leseabend bereitete. Er hörte sich selbst so gern! Kurt, der Gast, durfte gewöhnlich seine Wünsche äußern, und immer aufs neue bat er um die griechischen Volkslieder, speziell um den »Melanos.« Sein feuriges Interesse gewann ihm wirklich ein Herzenswinkelchen bei dem Direktor.

»Verstehen Sie eigentlich, was ich vortrage, Antinoos?« fragte Tychsen bei der dritten Lesung von Kurts Lieblingsliede sehr laut über den Tisch hinweg; denn Tino saß tief im Sessel zurückgelehnt, die Mundwinkel herabgezogen, die Lippen halb geöffnet und die Augen geschlossen, als schliefe er. Mit einem förmlichen Schrei fuhr er auf, so weit fort hatten ihn seine Träume getragen. Über sein bleiches Gesicht jagte dunkles Rot, und seine Augen glänzten seltsam: Gerda hätte darauf schwören mögen, daß sie in Thränen schwammen. Sie schämte sich für den Unachtsamen mit, als ihr Schwager sagte:

»Nun, nun! Was ist dabei so nervös zu werden! Ich liebe es nicht, vor tauben Ohren zu lesen, und Sie handhaben unsere Sprache jetzt recht leidlich. Es zeugt von geringer Vaterlandsliebe, daß die Lieder Ihrer Heimat Sie einschläfern!«

»Werden sie denn nicht zum Einschläfern an den Wiegen unserer Kinder gesungen?« antwortete Tino, und zwei verräterische Tropfen fielen auf seine Hand nieder. »Ich wache, aber wenn ich aufachten soll, so muß man die Fensterläden schließen! Der kalte, kalte Mond! O heiliger Gott! wozu muß ich hier unter diesen traurigen Sternen sein!«

»Zum Arbeiten!« erwiderte der Direktor. »Um müßig in den Mond hineinzuträumen, mein Sohn, dazu sind Ihre Verhältnisse nicht großartig genug. Sie sollen nicht mehr, wie in Athen und Marseille, die Zeit vergeuden, sondern Ihr Gold aus all dem Tand scheiden und damit wuchern lernen.«

»Mein Gold ist vergraben – ich wuchere mit Blei!« wollte Tino entgegnen, aber die Zunge klebte ihm am Gaumen, die Brust war ihm vor Erregung zusammengeschnürt. Er brachte kein Wort über die Lippen.

– Jetzt – jetzt das leere, weiße Blatt hinten aus des Direktors Buch reißen dürfen und ihm die Neraïde zeichnen, wie sie zum schwarzlockigen Melanos im Kahne emporsteigt, und dann Karmin und Indischgelb aus Gerdas Malkasten zu jener heißen Feuerfarbe mischen, die daheim über den westlichen Inseln bis ins tiefblaue Meer hinabbrannte, abends, wenn die Sonne unterging. – Zum Greifen deutlich sah er's vor sich, und plötzlich hatte die Neraïde, die dreimal Haupt und Brust und weiße Arme aus den sonnenroten Wellen hob, die Züge des schönen Kindes, dem die schlichten, dunklen Haare zu beiden Seiten des Gesichtes niederfielen. Zwischen den langen Wimpern hervor lächelte sie so lieblich zu ihm hinüber, als erriete sie seine geheimsten Gedanken. Siehe – da trug sie auch kein deutsches, blaues Gewand mehr, sondern die blauen Wogen des Ägäischen Meeres umgaben ihre Arme und ihren schlanken Wuchs mit schleierklarer Hülle.

Tino atmete tief auf. Mit scharfem Ruck setzte er sich kerzengerade und beugte sich weit vor, wie um dem reizenden Bilde mit den Augen zu folgen, solange sein Wille und seine Phantasie es ihm noch vorgaukelten. Halben Ohres nur lauschte er ein Weilchen länger der Vorlesung; dann sagte er ein leises, allgemeines Gutenacht und entfernte sich zwischen zwei Versen des nächsten Gedichtes, kaum von den übrigen bemerkt.

Eine Stunde später betrat auch Kurt zum Schlafengehen das gemeinsame Zimmer. Er fand, wider Gewohnheit, die Thür nur lose angelehnt, die Hängelampe qualmend und das offene Fensterscheibchen im Winde klappernd.

Tino selbst hatte sich, aller sonstigen Vorsicht vergessend, halb ausgekleidet in seinen violettseidenen Hauspelz geworfen, dem ein starkes Duftgemisch von Moschus und Rosenöl entströmte, und er saß so eifrig zeichnend, so tief über sein Papier gebeugt, daß er von Kurts Eintritt nichts sah noch hörte. Er regte sich erst, als der Freund hinter seinem Stuhle stand, das unerläßliche Anhängsel des eleganten Primaners, den Kneifer, auf die Nase klemmte und die Zeichnung in den Bereich seiner kurzsichtigen Augen brachte.

»Donnerwetter, Kerlchen! Ist das brillant!« rief er in der ersten Bewunderung und faßte rittlings auf Tinos Tischkante Posto. »Wo in aller Welt nimmst du die Ideen her? Ich glaube, wenn du dies hier dem Direx zeigtest, gäbe er dir sofort einen Kuß! Da – laß noch einmal sehen. Hoho! den Melanos hat er sich aus dem Spiegel gestohlen, der Kunde! – Ja, so leicht solltest du dich immer tragen, mein Junge, das steht dir, sag' ich. – Aber die Neraïde! – Mensch, das geht nun und nimmermehr. Getroffen ist unsere Kleine – sprechend – nur, erlaube mir – so kleiderlos –!«

»Die Neraïde und eine Pariser Toilette – pschütt!« fiel Tino ein und kräuselte spöttisch die Oberlippe. Seine Augen funkelten, sein ganzes Gesicht war voll leuchtenden Lebens, und Kurt dachte insgeheim: »Ist er denn wirklich hübsch, oder macht es nur der Atlaspelz und das rote Fez?« – Er schüttelte den Kopf und kam mit der Frage nicht ins reine; seine Kritik jedoch konnte er nicht zurückhalten. Er schloß die Thür, verstopfte sorgfältig das Schlüsselloch und steckte eine Cigarre in Brand.

»Wenn du dir die Pariser Toiletten schenken willst,« predigte er aus den Dampfwolken heraus, »so darfst du auch keine Pariser Puppe als Nixe in die Wellen setzen. Was ist das für ein unmögliches Körperchen – ich danke bestens! Bildest du dir ein, daß irgend eine Neraïde, oder gar Fräulein Gerda in Wirklichkeit –«

»Still!« gebot Tino und deckte die Hand auf Kurts plaudernden Mund. »Malen und dichten kann man sehr vieles, was man nicht in nackten Worten aussprechen darf. Das Gesicht kennen wir, die Gestalt der Neraïde haben wir nie geschaut, weder du noch ich. Scheint sie dir zu zerbrechlich, so gib nicht Paris, sondern der Sage die Schuld, daß die Neraïden aus flüchtigem Schaum geboren sind.«

»Gut gebrüllt, Löwe!« sagte der unbarmherzige Krittler Kurt. » Werde du nur erst ein Künstler!«

Da schlug Tino mit der geballten Faust auf den Tisch, daß die Tintenflasche tanzte, und rief laut:

»Nein, nein, nein! So geht es nicht länger fort! Habe ich nur erst ein Atelier, so suche ich mir ein richtiges Modell. Du sollst, du mußt mir dein Versprechen halten, eher ruh' ich nicht! Dann werden wir sehen, ob du je wieder Gelegenheit findest, mich mit Pariser Puppen zu verhöhnen!«

»Allerhand Achtung!« entgegnete Kurt kaltblütig und behütete Tinos Zeichnung vor den zerstörungssüchtigen Fingern ihres Schöpfers.

»Die Neraïde bewahre du lieber, und wenn du je als Tintoretto der Zweite denselben Stoff auf die Leinwand bringst, so verschreibe mir diese historische Skizze und sage dir – (ah bah! wie sentimental das klingt, es hat aber einen gewissen sittlichen Wert – ) also sage dir, daß du sie einem anständigen Menschen und ehrlichen Freunde durch dick und dünn verschreibst. Sieh hier – sieh mich an, Tino! Ich will dich gewiß nicht zur Meuterei gegen unsern Machthaber anstiften, aber – wenn ich du wäre – erzwingen thät' ich mir den Maler doch

Tino lachte kurz und hell auf und blickte dann erschrocken um sich her, ob auch ein unberufenes Ohr den Jubelschrei gehört haben könne. Dann durchmaß er, die Arme über der Brust gekreuzt, fliegenden Schrittes das Gemach, während Kurt weiter dozierte:

»Ein brauchbarer Alltagsmensch wird nie und nimmer aus dir. Du fährst mit deinen Plänen hin und her, die Nase in der blauen Luft, und quälst dich damit, deine Kunstideale zuerst an den Flügeln zu packen, und hast du sie glücklich im Griff, so sperrst du sie dort in deinen stockfinsteren Garderobenwinkel. Höherer Blödsinn das! Als ob die bunte, lustige Kunst ein blinder Nachtvogel wäre! Heraus damit! Heraus ans Tageslicht! Was soll das Zetern und Grämen und das Beben vor Onkel Mavros Wut? Was soll der Umweg über den Pfarrhof und das Anklammern an das harmlose kleine Ding, die Gerda? Mach einen Geniestreich, du Genie! Zum Kuckuck, Tino – lieber würfe ich doch den Paukern die Schmöker an den Kopf und liefe zum zweitenmal davon, als daß ich all das teure Schulgeld für mich zahlen ließe, ohne den geringsten Willen, einen Nutzen daraus zu ziehen. Laß dein Ehrgefühl einmal zu Wort kommen, Menschenkind!«

»Kennst du meine Vergangenheit? Weißt du etwas von meinem Vater und meiner Mutter?« fragte Tino, blieb stehen und blickte finster in Kurts lebhafte Augen. Kurt verneinte; er blies die letzten Wolken seiner Cigarre vor sich hin und entkleidete sich gemächlich, während Tino stumm am Tische saß, das Gesicht in die feinen Hände vergraben, grübelnd, rückwärts schauend.

Erst als Kurt ihm vom Bette aus »Gute Nacht!« zurief, erhob er sich, schraubte die Lampe niedrig, zog den Pelz enger um sich und setzte sich zu Kurt auf den Bettrand. Da erzählte er ihm, fast ohne Pause, sein neunzehnjähriges Leben von Jugend an: es war wie eine endlose Finsternis, aus deren Tiefen einzelne Sternfunken hervorglitzerten. Auf den Ellbogen gestützt, mit schläfrigen Augen, die ihm von Zeit zu Zeit zufielen, lag Kurt in den Kissen. Traumgleich zogen die grauen und farbigen Bilder an ihm vorüber. Keine einzige Betrachtung knüpfte der Redende an seine Worte; er gab nur die Thatsachen, ungeschminkt und wahrheitsgetreu. Die Heimat und die alte Märchenfreundin, die Herrlichkeit des Piräus und die traurige Schulöde in Marseille schilderte er wie die Erlebnisse eines dritten.

Als am anderen Morgen des Direktors Haus- und Schuldiener den jungen Herren ihre gewichsten Stiefel ins Zimmer setzte, fand er die Lampe noch brennend und die beiden Kameraden fest schlafend bei einander. Junker Kurt ordnungsmäßig im Bett ausgestreckt, aber der andere – der »Schlowake« lag seitwärts darüberher auf der Decke, in Seide gekleidet wie eine »Komödiantendirn« und an den nackten Füßen rote Schnabelschuhe. Der biedere Hansen wunderte sich gewaltig darob.

»Du armes, verkanntes Genie; dein Onkel und der Direx werden schon dafür sorgen, daß du ad infinitum die pulverisierte Schulweisheit schlucken mußt, wenn du ihnen nicht mutvoll den Löffel aus der Hand schlägst,« meinte eine halbe Stunde später Kurt, während er seine weichen Haare mittels zweier Riesenbürsten bergauf strich, und er begann den »Taygetischen Ikaros« zu deklamieren, dem er, seit der Vorlesung von gestern abend, Geschmack abgewonnen hatte.

Tino hielt gerade den Kopf unter Wasser, aber das hinderte ihn nicht, gleich darauf einzufallen und, zu Kurts Erstaunen, die letzten Verse allein und mit richtiger Betonung zu sprechen.

»Ich werde der Ikaros sein,« sagte er, aber Kurt fuchtelte mit seinen Bürsten abwehrend in der Luft herum.

»Um Gottes willen! Wir sind hier oben im Norden keine Freunde von Schauerdramen,« entgegnete er. »Laß uns den Ikarossturz nicht erleben, alldieweil die marmorne Verewigung schwerlich noch in unsere Generation fallen würde. Im Gegenteil, mach' es anders; thu' die wächsernen Flügel rechtzeitig beiseite; denn – fühlst du die lebendigen nicht schon sprossen, hier drinnen?« Und mit seinen kräftigen Händen packte er schüttelnd Tinos bloße Schultern und sprach:

»Denn Flügel gab zum Lohn ihm Göttergunst. –
Das ist die Mär vom Knaben Ikaros!
– – – – – – – – – – – – – – – –
– Das sei die Mär von dir und deiner Kunst!«

improvisierte er dazu und wiederholte: »Fühlst du's sprossen, Tintoretto?« Und Tino lächelte und nickte mit feierlicher Miene.


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