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7.

Nachdem Zia Nonna gegangen und Bürklin in der Ruhe seines eigenen Zimmers angelangt war, überlegte er, was unter den bewandten Umständen wohl das Richtigste zu thun sei. Seine heftige Unterredung mit Frau Katharine berührte ihn, je länger er darüber nachdachte, desto peinlicher. Er, dessen ganzes Studium der Ehe mit ihren vielfachen Höhen und Tiefen sich ja genau genommen auf die Ehe seiner Eltern bis zu des Vaters Tode beschränkte und auf das Idealbild, das seine lautere Seele sich aus, den Reden der verwitweten Mutter hingebend geschaffen hatte, er setzte sich hier zum strengen Sittenrichter über eine unbekannte Frau! Er wagte es, ein Etwas zu verwerfen, dessen Kehrseite er nicht gesehen, noch geprüft hatte.

» Audiatur et altera pars!« sprach es in ihm, und er mühte sich umsonst damit ab, sich Katharinens Worte genau zurückzurufen und von ihnen einigermaßen sichere Schüsse auf das Verhältnis der beiden Gatten zu einander zu ziehen. Je mehr er grübelte, um so klarer ward ihm wenigstens das eine: daß es sich hier um keinen der sogenannten »modernen Konflikte« handelte. Keine Rede von Untreue, Konvenienzheirat, Brutalität auf der einen, schweigendem Dulden auf der anderen Seite. Der Fall lag ganz klar und einfach am Tage.

Ein alltägliches und darum doch nicht minder tragisches Drama. Handelnde Personen: ein tüchtiger, männlicher Mann, der nicht mit sich spielen lassen wollte, ihm gegenüber: ein gefühlswarmes, sehr weibliches Weib, unerfahren und unvorsichtig, von einem Stolze beseelt, den ein rasches Temperament auf abschüssige Bahn gehetzt hatte. Alles in allem eine Frau, die ganz undenkbar erschien ohne stützende Hand und schirmende Liebe, und die sich deshalb in ihrem Hangen und Bangen danach verzehrte, während der verirrte Stolz ihr jeden Rückweg abzuschneiden trachtete. Hier saß sie nun in der Fremde, von widerstreitenden Empfindungen in die Enge getrieben, vertrotzt, die stachlichten Seiten ihres Wesens zu Tage kehrend, ihr Heiratsgut als Heiratsmotiv in den Vordergrund stellend, und dabei brach immer wieder das wirkliche Motiv: »Er liebt mich!« – »Ich liebe ihn!« durch den kalten Trotz mit heißen Thränen.

Das Drama war auf dem Höhepunkte angelangt. Bürklin meinte alle seine leitenden Fäden zu sehen und ergreifen zu können. Sollte er seine Hand nach diesen Fäden ausstrecken, sie spannen und verweben, den letzten Akt als Deus ex machina zu Ende führen helfen? Wie würde das Ende sein? Er stand auf, machte ein paar Schritte gegen die Thür hin und streckte die Hand nach dem Drücker aus, aber er besann sich eines anderen, ließ die Hand wieder sinken und ging zögernd zu seinem kaum verlassenen Platze im Lehnstuhle zurück. Wozu sollte es nützen, wenn er jetzt bei ihr anpochte, um diese späte Stunde das leidenschaftliche Gespräch nochmals wieder aufnahm, ins Endlose hinein mit ihr hin und her stritt und schließlich vielleicht gar die alleinstehende Frau dem müßigen Gerede aussetzte, angesichts der Nachtzeit? Außerdem: seit heute nachmittag konnte sie schwerlich schon anderen Sinnes geworden sein.

Er saß eine Weile, den Kopf in die Hand gebeugt, dermaßen in seine Gedanken vertieft, daß er sich nicht dazu aufraffen mochte, seine arg qualmende Lampe niedriger zu schrauben.

»Was für ein Thor bin ich! Wie darf ich mir die Angelegenheit so nahe gehen lassen, ich, ein Wildfremder!« sagte er plötzlich ganz laut vor sich hin. »Gerade als wäre ich nicht Steffen Bürklin, sondern der Landrichter Eschrodt, und mein eigenes Lebensglück stände auf dem Spiele! Ja, ich bin wahrhaftig ein großer Thor!«

Er rieb sich mit dem Handrücken einigemal stark über die Stirn, strich sein buschiges Haar weit zurück und holte sich ein Glas Wasser. Er lechzte förmlich danach und leerte es in hastigen Zügen, denn er fühlte sich so erhitzt, als habe er einen anstrengenden Marsch in der Sonnenglut hinter sich. Nun, auf irgend eine Weise mußte sich doch dies Feuer eindämmen lassen. Was sagte denn die Zeitung heute abend?

Er öffnete das noch unberührte Paket auf seinem Pulte, steckte sich eine Cigarre an und las, mit festem Willen seine volle Aufmerksamkeit an die enggedruckten Spalten fesselnd. Eine Viertelstunde lang glückte es ihm; dann aber wurde es im Nebenzimmer bei Frau Katharine laut. Sie rückte, allerdings mit Vorsicht, einen schweren Gegenstand hin und her, schloß auf und zu, schob mit Kommodenfächern und kramte im Wandschranke. Nachdem das einige Zeit gewährt hatte, öffnete sie das Klavier und begann, so kurz vor Mitternacht, noch zu spielen.

Bürklin warf die Zeitung hin und horchte. Eine Künstlerin war sie entscheiden nicht, aber das wenige, was sie gelernt hatte, gab sie mit feinem Geschmacke und lebendigem Gefühle wieder, und sie verstand es, in einfacher und eindringlicher Weise über ein Volkslied oder eine Melodie ohne Worte zu phantasieren. In dieser Nacht mußte auch der unbefangenste Lauscher empfinden, daß da drinnen neben ihm zwei Hände bemüht waren, den toten Tasten Schlummerlieder für ein fieberhaft erregtes und gequältes Herz zu entreißen. Was spielte sie alles! Choralmelodien, die in ein Notturno von Chopin übergingen, dasselbe, welches Bürklin schon am allerersten Abende im Halbschlafe vernommen hatte; dann eine Pause, und nun begannen Volkslieder, die ältesten und bekanntesten, eines quoll in das andere hinein; dann das Radeckesche »Aus der Jugendzeit!« und wie eine schmerzliche Klage klang zum Schlusse das Wiegenliedchen von Taubert: »Schlaf in guter Ruh'.« Allein schon nach dem ersten Verse endete die Spielerin und drückte leise den Klavierdeckel zu. Lange blieb es totenstill nebenan – Bürklin horchte immer gespannter, aber er vernahm nichts mehr als ein vorsichtiges Hin- und Herschreiten über den dämpfenden Teppich; zuletzt verstummte auch das.

Er ängstigte sich und wußte selbst nicht um was. Wachend, mit klopfenden Pulsen, verharrte er in seinem Lehnsessel, bis draußen der Morgen rot wurde; dann erst legte er sich nieder und schlief wie ein Toter, bis spät in den Tag hinein.

Sein erster Gedanke, als er sich mit dumpfem Kopfschmerze erhob, war wieder Katharine. Nichts regte sich drinnen bei ihr. Gewiß war sie schon spazieren gegangen; der frische, sonnengoldene Morgen lockte zu unwiderstehlich ins Freie hinaus. Bürklin öffnete sein Fenster weit, ließ den kalten Ostwind um die glühende Stirn streichen und beschloß, einen längeren Gang zu machen, um in aller Gelassenheit zu überlegen, wie er der Zürnenden entgegentreten und welche Vernunftgründe er anwenden wolle, um ihr die bittere Notwendigkeit der Buße und Umkehr endlich einleuchtend zu machen.

Als er hinunter ins Eßzimmer kam, um sein verspätetes Frühstück einzunehmen, wirtschaftete Zia Nonna mit irdenen Schüsseln und Holzgerät: Brettern, Quirlen und Löffeln, und schliff ein gewaltiges Messer, das wahrhaft mörderisch anzuschauen war.

»Denn, Signor Dottore,« sagte sie erklärend, indem sie Bürklins Theeservice auf dem Tische ordnete und die Honigschale frisch füllte, »wir metzgen heute unser Winterschwein, und will's Gott, kommt in vier Wochen der Ochse zum Dörrfleisch an die Reihe. Angelo Dorrer in Silvaplana hat uns das Schwein mit dem seinigen zusammen fett gemacht, und Lorenz ist von Sils-Maria aus hingefahren, um es uns zu holen, Dorrer, den Metzger, bringt er gleich mit, weil der sich feiner auf seine Wissenschaft versteht als der unsrige. Vor Mittag wird Lorenz kaum zurück sein; denn zuerst mußt' er unsere Dame fortfahren. Die ist nun wieder ins Blaue hinausgereist. Gütiger Heiland! Wen so die Unruhe plagt! Schrecklich muß es doch sein, eh, Signor? Den Monat Oktober hat sie mir voll bezahlt, und der große Koffer bleibt einstweilen droben in ihrem Zimmer – ah, Signor Dottore, wenn das Ei nicht frisch von der Henne ist, will ich nicht selig werden!«

Bürklin schob Tasse und Eierbecher mit einem Rucke von sich. Im ersten Augenblicke vermochte er seiner unliebsamen Überraschung gar keine Worte zu leihen. Er faßte sich jedoch gleich, zog sein Ei wieder zu sich heran, prüfte es sorgsam auf seine tadellose Frische und Temperatur, trank eine Tasse Thee und aß ein Stück Toast dazu, obwohl er an jedem Bissen zu ersticken meinte.

»Also Frau Eschrodt ist abgereist? Wohin denn und auf wie lange?«

» Chi lo sa?« entgegnete Nonna und hob die Achseln. »Sie wolle die ganze Gegend hier einmal ordentlich kennen lernen, sagte sie mir. Der Lorenz solle sie ein paar Stündchen fahren, und da werde sie schon sehen, wo es ihr am besten gefalle. Wenn der Lorenz heimkommt, werden wir beide klüger sein als jetzt, Signor! Die Reisetasche und den Schirm hat sie mitgenommen, und um halb acht Uhr ist's schon fortgegangen, weil der Lorenz wegen des Schweines nur bis elf Uhr frei war. Einen Gruß hab' ich nicht zu vermelden, Signor. Soll ich droben im Zimmer ein Feuer anschüren?«

»Für jetzt nicht, Nonna. Ich habe recht jämmerlich geschlafen heute nacht, Sie sehen's mir gewiß an, nicht wahr? Ich will mich warm laufen, und ich glaube kaum, daß ich zu Tisch wieder da bin. Richten Sie ja nichts Apartes für mich, hören Sie? Außerdem kann ich das Schweinegeschrei gar nicht ausstehen. Wann, sagten Sie, daß der Lorenz zurück sein und das Schlachtfest beginnen wird?«

»Um zwei herum, denk' ich; da sollt' ich wenigstens das Feuer unter dem Siedekessel richten. Nun denn, angenehmen Weg, und essen Sie eine warme Kornsuppe, Signor, nicht nur Salami und Handkäs, das ist mein guter Rat nach der schlechten Nacht.«

Er ging treppauf, um seinen Hut zu holen. Scheu blickte er sich um, ob Nonna ihm nicht nachkomme, und trat darauf in Frau Katharinens unverschlossenes Zimmer.

Nichts erblickte er, an das seine geschäftige Phantasie ihr Netz anspinnen konnte. Das Bett sauber zugedeckt, die Möbel unverschoben, der wohlverwahrte Koffer in der Ofenecke. Kein Papierfetzen, kein Bindfadenrestchen auf dem Teppiche. Nur der schwache Kampfergeruch, der Katharinens Wintergarderobe anhing, war in der Luft des Zimmers geblieben, dessen Fenster noch von der Nacht her verriegelt waren. Weder die ominöse, zufällig verlorene Busenschleife fand sich vor, noch der übliche Brief auf dem Schreibtische, selbstverständlich gerade an des Finders Adresse gerichtet und voll seltsamer Enthüllungen in thränenbefleckten Zeilen. Keine verdorrte Blume im Glase, kein unberührtes Frühstück erzählte einen kleinen Roman. Lieblich lächelte die Morgensonne von draußen herein und machte das leere Zimmer traulich und melancholisch zugleich.

Bürklin ging hinaus und drückte die Thür leise hinter sich ins Schloß. Eine sonderbare Stille war in seine Seele gekommen, aber mit dem besten Willen vermochte er keinen geordneten Gedanken zu fassen. Er nahm seinen Hut und Stock, hängte zerstreut und mechanisch Rucksack und Feldstecher um, ging hinunter und verließ das Haus, ohne Nonna gewohntermaßen noch einmal freundlich zuzunicken.

Sie blickte ihm, mit untergeschlagenen Armen am Fenster stehend, nach, wie er in der Richtung auf Silvaplana zu dahin schritt.

»Wenn der nicht krank nach unserer Dame, seiner Nachbarin, ist, so bin ich krank!« sagte sie kopfschüttelnd. »Ein jeder nach seinem Geschmacke: nun ais dispitta cunter 'l gust! Gott wolle ihm davon helfen; denn sie ist eines anderen Mannes Ehefrau!«

Damit kehrte sie in die Küche zurück und schrie der kleinen Magd zu: »Daß du dich nicht erdreistest, Deta Caflisch, das Gerät mit Sand zu scheuern! Wasser, lauteres Brunnenwasser, höchstens eine Wenigkeit Laugenbrühe darein. Denkst du, ich will Kieselsteine in der Wurst finden und mir die Zähne daran stumpf beißen, du gedankenlose ragazz?!«

»Zähne? Zähne? Wo sind die Euren, Zia Nonna?« entgegnete das mutwillige Persönchen, das sehr hoch geschürzt und in voller Arbeit am Brunnentroge stand. Zia Nonna hielt ihr natürlich eine lange Strafpredigt für ihr »ungewaschenes Maulwerk,« aber ihr schmaler, zahnloser Mund schmunzelte ein wenig dazu, und deswegen nahm sich's die unhöfliche » ragazz« nicht weiter zu Herzen!


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