Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel.

So war der Mittwoch gekommen, und die Scharlachquarantäne endlich aufgehoben. Draußen schneite und stürmte es wie um die liebe Weihnachtszeit, drinnen im Kinderzimmer lachten und spielten die wiedergenesenen Kleinen, und abermals hing eine Empfangsguirlande über der Eingangsthür. Weniger um die Rückkehr des Hausherrn als die Neuvereinigung der Familie zu feiern.

Die Schwestern fanden alle Hände voll zu thun, und nach der langen Trennung hatte Mina ihre helle Freude an Gerdas lieblichem Gesichte und mädchenhaftem Wesen. »Sie wird nun doch, was sie als Kind zu werden versprach,« dachte die hübsche Frau befriedigt. Das schöne Siebengestirn des Ringhardschen Hauses erlitt keine Einbuße. Ihr selbst war mit dem Märchenerzählen und Liedersingen an den Kinderbetten im dämmerigen Gemache ein neuer Strahl von der Poesie des Mutterberufes aufgegangen; die Sorge, die langen, wachen Nächte mit ihrer Mahnung zur Einkehr nach innen hatten ihren Charakter vertieft und gereift. – Unbeschreiblich freute sie sich auf das Wiedereinleben mit dem Gatten und der Freundin, nur Tino warf einen Schatten in all ihre dankbaren Glücksgefühle: sie ängstigte sich um ihn. Zum erstenmale nach acht Monaten trat er in den Kreis ihrer Interessen, zum erstenmal hatte sie heute früh an seinem Bette gestanden, hatte ihn nach der Ursache seiner matten Augen und fieberheißen Hände gefragt und ihm abermals vom Schulbesuch abgeraten. Ihm war's recht so; wie Blei lag's ihm in den Gliedern und Gedanken. Eine halbe Stunde später, als er mit geschlossenen Augen in seinem Lehnsessel vor dem warmen Ofen saß, brachte ihm Gerda den Frühstücksthee und sagte, nachdem sie ihm das runde Tischchen herangerückt und ihn zum Trinken ermutigt hatte:

»Mina schickt mich; sie ist jetzt zum Pfarrhof gegangen. Ehe sie Franz von der Bahn holt, will sie dort einiges für heute abend zu Tantchens Rückkehr vorbereiten. Soll ich Ihnen nicht helfen hier ein bißchen Ordnung zu machen? Es sieht ganz grausig ungemütlich bei Ihnen aus.«

Er ließ seine Augen mit dem alten trüben Blicke durchs Zimmer schweifen. Alle seine Habseligkeiten lagen und standen noch umher, so wie er sie vor drei Tagen, am Sonntagabend, vom Pfarrhof mit hereingebracht und aus dem Koffer genommen hatte. Die Magd befolgte sein Verbot, etwas davon anzurühren, pünktlich. Das Ganze machte an dem grauen Tage einen höchst unwirtlichen Eindruck.

»Weshalb ordnen?« erwiderte Tino, ohne seine Stellung zu verändern. »Es ist unnütze Mühe. Meines Bleibens hier wird nicht mehr lange sein, so oder so. – Heute kehrt Ihr Schwager heim – das Ende der Dinge ist nahe herangekommen!«

War er wahnsinnig geworden? Dies klang anders als seine gewöhnliche, blumreiche Sprache. Gerda war im Nu an seiner Seite und nahm ihm gewaltsam die verschränkten Finger von den Augen. »Tino! was soll dies heißen?« rief sie erschrocken, und er hielt ihre warmen Hände fest in seinen glühenden und drückte dann seine pochende Stirn hinein.

»Heute haben wir den ersten April – so kalt, so traurig – es ist mein Geburtstag,« sagte er in abgebrochenen Sätzen. »Zwanzig Jahre bin ich nun – ein Mann – nicht mehr ein Knabe. Wie ein Gespenst steht meine Zukunft vor mir, und ich finde keine Seele außer der Ihrigen, Gertrud, der ich sagen dürfte: Erbarme dich meiner Gedanken! Bleiben Sie bei mir – schenken Sie mir's, daß Sie nicht fliehen. So schmerzlich hab' ich Sie gesucht – dies ist das zweite Mal! O Gott, seien Sie barmherzig, nehmen Sie das Grauen von mir!«

Gerda beugte sich über ihn, von tiefem Mitleid bezwungen, mit der Sehnsucht in ihrem jungen Herzen, ihm, den sie innig liebte, wohlzuthun. So sagte sie ihm mit zitternder Stimme ihre Glückwünsche, hastige, überschwengliche Worte, die ihre Gefühle verrieten. Immer fester drückte er seine Stirn in ihre Hände, und als er endlich aufschaute, wünschte sie, daß er sie nicht so alt und ernst angeblickt, sondern kindisch geweint und geschluchzt hätte wie einstmals.

»Gertrud,« sagte er mit bedeckter Stimme, »hören Sie mich an. Ich war ein Knabe, und Sie waren ein Kind, aber die Zeit eilt und zieht uns mit sich fort und hebt uns über das kindische Spiel in anderes Glück und anderes Streben hinweg. Verstehen Sie mich, Gertrud? Den einen reißt die Zeit früh empor, den anderen spät, und keiner kann dagegen kämpfen; denn sie hat die besseren Waffen. Ach – lassen Sie mich alles sagen,« flehte er, als das Mädchen die Lippen öffnete und reden wollte. »Lassen Sie mir Ihre liebe Hand und hören Sie noch! Ich will mich über alle Schranken erheben und der Zeit vorausfliegen, damit ich mein Ziel erreiche – dies Ziel!« – Er neigte sich über ihre Hände und küßte sie heiß. »Ja, ich will! Und doch lähmt mich eine schreckliche Furcht! Wenn mein Flug den Sturz bedeutete? – wenn ich ein zweiter Ikaros wäre?« – Er stockte und schloß schaudernd die Augen: »Da gähnt der Abgrund vor mir – muß ich hinab? Dem Lernen, den Lehrern habe ich getrotzt, ich wollte es erzwingen, daß sie mich aus dem Hause ihrer Quälerei fortwiesen, und statt dessen habe ich mir das Fangnetz selbst über dem Kopfe zusammengezogen. Sie werden mich nicht nach meinem eignen Willen entlassen als einen freien Mann, nein – sie werden mich demütigen und züchtigen wie einen Buben! Ihr Schwager wird am härtesten züchtigen –«

»O, nicht doch, nicht doch!« rief Gerda und drückte, alles vergessend, ihre Wange in sein dunkles Haar. »O, mir zuliebe thun Sie den Lehrern Abbitte und versuchen Sie offen gegen Franz zu sein. Er ist doch ein Mensch – ein Vater – er muß doch ein Herz haben! Wenn er Ihre wunderschöne Arbeit sieht –«

»Er soll sie nicht sehen! Ich will keine Schulmeisterkritik!« warf Tino erbittert dazwischen. »Und abbitten? Wem? Der Mathematik, der Geometrie und all dem andern Staub und Moder will ich abbitten, denn ich habe sie schlecht behandelt; den Lehrern nicht, die mich für meine Leiden noch gestraft haben. Ich leide allein, und allein will ich mich erlösen.«

»Sie sind ungerecht und krank – ach, sehr krank, Tino,« unterbrach Gerda und blickte, zwischen Thränen hervor, in seine unruhig leuchtenden Augen. »Wie weh ist mir's ums Herz – fühlen Sie es denn nicht, Tino? Zeigt uns Gott denn keinen Ausweg? O Tino – sagen Sie nicht, daß Sie allein leiden – es gibt andere, die für Sie – mit Ihnen gelitten haben und jetzt leiden –« Sie vermochte nicht zu vollenden: ihr frisches Gesicht war erblaßt; noch ein Moment, und sie hätte ihm die Arme um den Hals schlingen müssen, um so, ihm ganz nahe, ihren Schmerz um seinetwillen auszuschluchzen. Wie angstvoll klopfte ihr Herz, über dessen unberührte Jugend der erste Sturm dahinfuhr, wie heiß wünschte sie Kurt herbei – nicht für sich, nur für Tino!

Er wendete sich von ihr ab und trat ans Fenster, und sie raffte sich zusammen und begab sich schweigend an die kleine Arbeit, um derentwillen sie zu ihm eingetreten war. Auch er blieb stumm. Unverwandt blickte er in den Schulhof hinunter, wo gerade Pause war. Die Knaben der verschiedenen Klassen strömten zusammen; sie schwatzten und lärmten noch in den Ecken, und ein ganzer Trupp schneeballte, bis ein plötzliches Machtgebot der lauten Lust Einhalt that, weil ein besonders großer Ball dem cholerischen Fermann gegen den Hut geflogen war. Ein paar der Schüler bemerkten Tino am Fenster, aber keiner nickte ihm kameradschaftlich zu. Tino kehrte sich zur Seite; wie fern fühlte er sich jenen! Er richtete sich in die Höhe und stemmte die geballten Fäuste aufs Fensterbrett, und Gerda beobachtete ihn verstohlen, während sie die zierlichen Kleinigkeiten, die er nicht im Atelier gelassen hatte, an ihren Platz legte und stellte.

Sehr groß war er doch geworden. Brust und Schultern hatten sich kräftig entwickelt, wie eine Säule trug der Hals den edelgeformten Kopf, dessen hintere Wölbung steil emporstrebte, sich gegen den Scheitel hin mächtig verbreiternd. Das scharfe, adlernasige Profil hatte nichts Knabenhaftes mehr; aus der weiten Stirn waren jetzt die Locken zurückgestrichen, die Brauen wuchsen dicht, und über der Oberlippe lag schon der dunkle Schatten des Schnurrbarts. Und dazu blickte eine Leidenschaft, die aller Kindlichkeit Hohn sprach, aus den vollgeöffneten, einst so matt verschleierten Augen.

Mit dieser Leidenschaft im Auge sah er sie an, als sie, den Griff in Händen, noch auf der Thürschwelle zögerte; denn ihre Arbeit war beendet, und sie sehnte sich nach dem Alleinsein in ihrem Stübchen. Wieder schaute sie so traurig und unschuldig zu ihm auf wie damals, als er seine erste große Thorheit begangen hatte, aber diesmal gelang es ihm, sich zu beherrschen. Die Hände hinter sich ums Fenstersims gelegt, so ließ er sie hinausgehen. Dann erst seufzte er aus tiefster Brust und stieß die Stirn mit solcher Heftigkeit gegen die tropfenden Scheiben, als wollte er sie eindrücken.

Drunten im Hofe war es wieder leer und still geworden; drüben in der Aula hatte der Chor seine Übungsstunde. Frisch und kräftig sangen alle die jugendlichen, metallreichen Stimmen das schöne alte » Integer vitae.« Lerchengleich die hellen Soprane der Sexta und Quinta, wuchtig und vielmeinend die Bässe der Prima, und die drei wundervollen Tenorstimmen aus der Obersekunda sonderten sich glockenrein aus dem Ganzen. Das Gymnasium war mit Recht sehr stolz auf seinen Chor.

» Integer vitae, scelerisque purus!« Wie ergreifend klang von all diesen jungen Lippen der Ruhm des Mannes, der »reinen Wandels und frei von Schuld ist« – an das Ohr des Einsamen am Fenster, dessen fiebernde Hände sich umsonst damit abmühten, den lösenden Faden im verwirrten Knäuel seines Daseins aufzufinden!

Immer elender ward ihm zu Mute. Schwer atmend warf er sich wieder in seinen Lehnsessel und barg den schmerzenden Kopf in das kalte Lederpolster. Er hatte während der letzten Wochen auf seine Weise zu angestrengt in aller Heimlichkeit gearbeitet, und jede Arbeit, die sich mit heftigem Ringen gegen eine bestehende Ordnung paart, reibt zehnfach auf. Dazu hatte er das »Ich kann!« stets von dem »Ich will!« beiseite drängen lassen, von seinem Denken gebieterisch verlangt, sich jedes »Warum?« logisch zu beantworten, sein Auge mit gewaltiger Kraftanstrengung gezwungen. Form und Wesen zu ergründen und zu sondern. Es war einfach der Kampf ums Leben, denn die Kunst bedeutete ihm das Leben. Den ersten Triumph, die Schöpfung aus bloßer Intuition durfte er errungen nennen; nun galt es den Entscheidungsschlag, das Losreißen von der Kette, und angesichts dieses Schwersten brach er zusammen. Kalter Schweiß feuchtete ihm die Stirn, unablässig mußte er sich einzelne herausgerissene Worte und Sätze aus Nicolos Gesprächen vorsagen. Zuletzt sanken ihm die Lider über die Augen; er schlief in dumpfer Ermattung. Wie lange? Das hätte er nicht zu sagen gewußt.

Frau Mina kehrte ohne den Gatten vom Bahnhofe zurück. Er war sehr verstimmt heimgekommen; es hatte zum Schluß eine große Meinungsverschiedenheit mit dem Oberschulrat gegeben. Kaum eine Frage nach den Kindern, von Tino und Gerda überhaupt keine Rede. Zu allem Unglück war ihm dann noch der kleine Fermann begegnet mit Tinos endlosem Sündenregister auf den Lippen. Schließlich hatte er sich nun mit ganz entzückenden Blumen zum Pfarrhof begeben, um all den Ärger zu verwinden und der guten Alice einen Willkommengruß aufzuschreiben.

Dann ging Frau Mina hinaus, um nochmals nach Tino zu sehen, und sie fand ihn regungslos im Lehnstuhle liegend.

»Es hat keine Not, er schläft in Frieden,« sagte sie zu Gerda, »und nun der Himmel mir meine Herzenskinder gelassen hat, gelobe ich mir, ein bißchen mehr für Tino zu thun, obwohl – du kennst meine Natur.«


 << zurück weiter >>