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10.

Erkältung und Aufregung hatten naturgemäß zusammengewirkt, um Bürklins für gewöhnlich eisenfester Gesundheit einen heftigen Stoß zu versetzen. Was die jüngsten Wochen langsam vorbereitet, das hatte der gestrige Tag vollbracht, vor allem der nächtliche Gang zur Post. Der Doktor schalt und murrte über solch eine haarsträubende Unvernunft mit vierzig Jahren, verschrieb Chinin und kalte Kompressen im Verein mit Bett- und Stubenarrest bis auf weiteres. »Ungestraft läuft man nicht von früh bis abend nüchtern zwischen unsern Bergen herum und setzt in der Nachtkälte noch eine Promenade als Drucker auf all den Unsinn,« sagte er, »namentlich wenn einem das Fieber schon in den Knochen steckt!«

Während der ersten drei Tage war der Leidende nicht im stande, seine Gedanken irgendwie zu sammeln; unruhig warf er sich in den Kissen hin und her und preßte die geballten Fäuste in die Augenhöhlen, weil ihn die springenden Fratzen der Laterna magika seines Gehirns folterten bis zur Unerträglichkeit. Wenn auch seine Krankheit als solche gefahrlos und das Fieber nur die Teilerscheinung einer Grippe war, so trat sie doch sehr heftig auf, wie meistens bei kraftvollen Naturen, und Zia Nonnas übertrieben peinliche Pflege, ihr stetes bei der Handsein während der Nachtstunden dünkten dem unbehilflichen und ungeduldigen Kranken eine wahre Wohlthat.

Die Ereignisse im Fex- und Fedozthale, der Brief an den Landrichter und die Spannung auf den Erfolg dieses Brieses stahlen sich ihm erst in die Erinnerung zurück, als er am vierten Tage fieberfrei auf seinem Sofa lag und in die verschneiten Gebirge hinausblickte, über denen ein ebenmäßig perlgrauer Himmel lag. Der Fexgletscher war in Nebel gehüllt, die Berglehnen des Marmorè- und Laretzuges zeichneten sich kohlschwarz dagegen ab; der Schnee haftete an den glatten Wänden nicht. Von Sils-Maria tönte das Geläut der Kirchenglocke klar herüber, und da fuhr es Steffen Bürklin jählings durch den Sinn: »Heute muß mein Brief in Danzig angekommen sein!« Und von dieser Stunde an begannen Ungeduld und Erwartung ihn zu plagen.

Von Katharine hörte er so gar nichts, als sei sie gestorben und verschollen! Wäre nur heute der Gottesdienst in Baselgia gewesen, wahrhaftig, er hätte Lorenz bestochen, daß er in der Kirchthür auf Frau Teresina Rizzi warten und sie ihm für ein paar Augenblicke zuführen solle. Aber die Baselgier Straße lag sehr still und unbelebt da, außer Nonna wanderte nur noch Jon Ruggi, der lange Postbeamte, im Vereine mit Hans Badrutt und zwei alten Weibchen zur Kirche über die Wiesen nach Sils-Maria, soviel Bürklin vom Fenster aus sehen konnte.

Er selbst fühlte sich noch matt und denkfaul, das Grübeln und Quälen über sein Ich und sein Los griff ihn an. Einmal aus der Betthaft entlassen, ward ihm das Stubenhocken immer unerträglicher. Er versuchte es mit einem zweiten Revueartikel über das Engadin, aber was er schrieb, kam ihm zu gleicher Zeit ungelenk und zerfahren und grenzenlos oberflächlich vor. Er war eben nicht bei der Sache. Deshalb ließ er sich schließlich vom Doktor Bücher aller Art zutragen und las seine Zeitungen bis auf die letzte fünfmal gespaltene Zeile des letzten Blattes. So uninteressant wie jetzt war ihm die Außenwelt mit ihrem Streite und Frieden, Handel und Wandel, Kunst und Wissenschaft noch niemals erschienen! Von Tag zu Tage wuchs seine Unruhe; zehnmal in einem Atem nannte er den Landrichter rücksichtslos und herzlos zugleich, wenn ihn das Fieber der Erwartung einmal wieder besonders stark packte. Briefe, Postkarten, Depeschen – auf alles dies war er gefaßt, aber nicht im mindesten auf die Art, in der ihm endlich sein Bescheid gebracht wurde!

Am Samstag darauf machte er seinen ersten Gang hinaus nach achttägiger Pause. Nur bis Chiastè. Unten am Ufer der langgestreckten Halbinsel hin und über ihren bewaldeten Rücken wieder heim, aber er begann doch von neuem sich als der alte, lebensfrische Mensch zu fühlen, und am Sonnabend bestellte er sein Mittagessen ab, speiste droben auf Maloja-Kulm und wählte zur Rückkehr den Seepfad über Islas. Menika Caderas hatte richtig wieder eine Nichte bei sich in Kost, Logis und Zucht, diesmal war's ein Schwarzkopf mit finsteren Augen und Korallenstücken in den Läppchen der winzigen Ohrmuscheln. Sie wollte dem Fremden kaum sein Glas Milch aus dem Stalle holen und erklärte ihm auf seine Frage, wie es ihr in Islas gefalle: »die Islaser Burschen seien nicht besser als tote Fische, und sie selbst möchte am liebsten gleich wieder fortlaufen nach Bellaggio, wo sie zu Hause sei.«

»Das Heimweh will ich dir schon austreiben, Ninetta, einen schlanken Schlag hab' ich in der Hand!« keifte die alte Hexe Menika und fing an, die vielgeschmähte Barbetta Tosio von ehedem in alle Himmel zu erheben. Ninetta warf der Tante das Maisbrot vor die Füße und stieß gegen den Tisch, daß die Gläser zusammenklirrten. Bürklin entlief dem häuslichen Kriege so rasch wie möglich ins Freie.

Der Nachmittag war wunderschön, kalt und klar, der Schnee lag bis zur Thalsohle hinab, und längs des Ufers hemmte eine schwache Eiskruste, deren bogige Ränder weithin zu verfolgen waren, das Wellenspiel des Seewassers. Wie sehr hatte es heute früh Bürklin nach Platta gezogen! Das Fexthal mußte seiner Schätzung nach tief verschneit liegen, und die weiße, tote Hülle erhöhte, trotz Sonnenlicht und blauem Himmel, der armen Frau sicherlich die Schrecken der Einsamkeit! Warum ließ der Landrichter noch immer nichts von sich hören? Bürklin verstand ihn nicht! Er ertappte sich abermals auf dem Gedanken:

»Wenn er sie nun nicht zurückrufen würde, und du könntest sie dir dennoch gewinnen! – Ein Leben in Liebe und Seligkeit mit ihr!«

Allein wie ein häßlicher Schatten lag es auf diesem Gedanken, und derselbe flüchtete rasch von dannen. Merkwürdig! Bürklin verspürte kein Bedürfnis mehr, ihm nachzujagen und ihn in seiner Herzenstiefe zu fesseln: mit der Krankheit hatte er zugleich die größte Versuchung seines Lebens überwunden, und er dankte dem Himmel demütig dafür. »Ruhig abwarten!« hieß jetzt die Losung. Katharinens zurückgelassener Koffer, Wand an Wand mit seinem eigenen im Jostihause stehend, gewährte ihm die Sicherheit eines letzten Wiedersehens und die Hoffnung aus leidenschaftsloses Aussprechen und Verständigen mit ihr. Zudem hatte der uralte Briefträger zwischen Sils, Platta und Curtins ihm während dieser letzten Woche einmal einen versiegelten Zettel an Frau Teresina Rizzi mitgenommen und von dieser leidlich befriedigende Antwort über das Befinden der deutschen Hausgenossin zurückgebracht.

»Die Signora klagt nicht mehr,« schrieb die Witwe, »sie hält sich meistens allein, und ihr Aussehen redet zwar von heimlichem Leide, aber sie trägt ihren Ehering am Finger und geht jeden Tag ins Freie hinaus. Wenn alle Fremden so wenig Mühe verursachen, so deucht es mir kein übler Erwerb zu sein, ihnen das Zimmer zu vermieten, das mir ohne Nutzen dasteht.«

Erst vorgestern, am Donnerstag, war diese Nachricht aus Platta gekommen, und Bürklin nahm sich fest vor, falls heute noch immer nichts aus Danzig eingetroffen sei, morgen nach der Kirche selbst auf Signora Rizzi zu warten und mit ihr zu reden; denn zum nächsten Gottesdienste war wieder an Sils-Baselgia die Reihe.

Im Jostihause angelangt, stampfte er sich unten im Flur den Schnee von den Füßen, der sich ihm während des Ganges vom See her über die Wiesen unter den Sohlen zusammengeballt hatte. Dabei rief er laut nach Lorenz: ob die Postsachen schon abgeholt seien, er wolle sie gleich ins Speisezimmer gebracht haben, und oben, bei ihm, müsse geheizt werden.

Er hörte, wie sich beim Tone seiner Stimme droben im ersten Stock eine Zimmerthür öffnete – sie knarrte wie Frau Katharinens Thür – im nächsten Moment sprang eine leichte, kleine Gestalt mit langen, fliegenden Blondhaaren treppab auf ihn zu; Frau Katharinens große, graue Augen blickten neugierig zu ihm empor, und die Kinderstimme fragte mit unverfälschter westpreußischer Aussprache:

»O, sind Sie der Herr Doktor? Kommen Sie von meiner Mama? Wann werd' ich denn zu ihr gehen dürfen? Darf ich gleich? Sie werden's doch schon erlauben! Bitte, ja?«

Bürklin vermochte sich in der ersten Überraschung kaum zu besinnen; er strich dem Kinde, das seiner Mutter wie aus dem Gesichte geschnitten war, die Haare aus der Stirn, faßte es unter das weiche, runde Kinn und sah ihm in die Augen.

»Du bist Ketty Eschrodt, nicht wahr? – Sieh, das ist schön von dir, daß du dir deine Mutter selbst heimholen kommst!« sagte er, aber die lebhafte Kleine schob seine Hand unter ihrem Kinne fort, warf ihr Haar über die Schultern zurück und unterbrach sein Sprechen eifrig:

»Aber ich bin doch nicht allein gekommen! Wie werde ich? Papa ist oben, und wir haben schon so lange aus Sie gewartet: eine Stunde und noch eine Stunde! Papa sagte zuerst: er wird doch nicht schon abgereist sein? und da kam die komische alte Frau mit dem Zipfeltuche aus der Küche, die erzählte Papa von meiner traut'sten Mama und von Ihnen auch, und dann hat sie uns Mittag gekocht. Ich hab' ihr helfen dürfen!«

Währenddessen waren sie im ersten Stockwerk angelangt, die Kleine öffnete ihrer Mutter Zimmerthür, und drinnen stand der Landrichter Eschrodt vom Sofa auf und streckte Bürklin die Rechte entgegen.

Die beiden Männer maßen einander, mit langen, prüfenden Blicken, mehrere Sekunden schweigend. Dann sagte der Landrichter:

»Tausend Dank für Ihren Brief – Sie haben wie ein wahrer Freund an mir gehandelt, und natürlich kennen wir uns von Bonn her. Ihr Gesicht vergißt man so leicht nicht wieder, wenn man es einmal in sich aufgenommen hat. Wie wenig haben Sie sich verändert!«

»Sie desto mehr, Herr Landrichter,« entgegnete Bürklin, dem die Erinnerung einen schmächtigen, etwas stutzerhaften Jüngling mit feinem Schnurrbärtchen und Monokel vorgespiegelt hatte. Aus diesem Jünglinge war im Laufe der verflossenen zwanzig Jahre ein großer, breitschulteriger Mann geworden, der den Kopf hoch trug und ein sehr anziehendes Gesicht mit scharfen Augen und kräftigen, regelmäßigen Zügen besaß. Dazu ein außergewöhnlich sympathisches Organ. Das Ganze harmonisch und wohlthuend in hohem Grade. Nur allzu begreiflich war es, daß die verblendete Frau droben in Platta diesen Mann, trotz aller Handlungen zum Gegenteil, im Herzensgrunde liebte. Noch war kein Wort von Zweck und Ziel der Reise nach Baselgia über Eschrodts Lippen gekommen, und auch Bürklin wäre es unmöglich gewesen, die Schuld der Mutter in des schuldlosen Kindes Gegenwart zu besprechen. Es bewegte ihm die Seele und nahm ihn sofort für den Landrichter ein, als er hörte, wie dieser das Märchen von »Mamas Erkrankung« seinem Kinde gegenüber konsequent aufrecht erhielt und augenscheinlich Bürklins Doktortitel zur Vervollständigung der frommen Täuschung benutzte. Bürklin half ihm gern und nach Kräften dabei.

»Ketty, mein liebes Schätzchen, du mußt Geduld haben,« ermahnte Eschrodt die Kleine, die auf ihrem Stuhle hin- und herrückte, zum Fenster lief, zur Thür hinauslauschte und immer ungestümer nach der Mutter verlangte. Verschiedene Male fragte sie Bürklin mit kläglicher Stimme: »Doktor! wann werd' ich doch zu meiner einzigsten Mama dürfen?«

»Höre,« schlug Bürklin ihr vor, »gehe du noch ein wenig in den Hof hinunter und spiele mit dem guten Barry, dem Hunde, der thut Kindern nichts zuleide, die ihn freundlich streicheln, und er gibt dir auch eine Pfote, wenn du ihm, ›Barry! bun di!‹ sagst; bun di heißt nämlich ›guten Tag.‹ Oder laß dir von der komischen alten Frau die großen Bilderbücher aus dem Wandschrank im Eßzimmer holen, du mußt sie nur hübsch darum bitten und sie Zia Nonna nennen. Wirst du das behalten? Ich will unterdes mit dem Papa überlegen, wann es möglich sein wird, daß du deine liebe Mutter sehen kannst.«

»Aber du mußt Geduld haben,« wiederholte ihr der Vater, und sie hüpfte ganz befriedigt hinunter zu Nonna, die ihr mit allen möglichen Herrlichkeiten prächtig die Langeweile vertrieb.

Die zwei Jugendgenossen sprachen ernst und eingehend miteinander und so offen, als seien sie langjährige, nahe Freunde. Nur an Steffen Bürklins Herzensgeständnisse rührten sie mit keiner Andeutung, in schweigender Übereinkunft. Immer greifbarer erkannte es Bürklins Rechtsgefühl, daß Frau Katharine bei weitem den größten Schuldanteil an dem jähen Bruche trug. So wenig der Landrichter daran dachte, seine eigenen Fehlgriffe zu bemänteln, diese Thatsache hob sich dennoch klarer und klarer aus dem trüben Ganzen hervor.

»Alles will ich ihr verzeihen und vergessen,« sagte der Landrichter, »all den Kummer, den ich insgeheim um sie getragen und den Leuten nie gezeigt habe. Sie wissen vielleicht auch, was für ein Stück Arbeit es ist, ein ruhiges Gesicht bei unruhigem Herzen zu machen, scharf zu studieren, wo man am liebsten Tag und Nacht thatenlos über gallenbitteren Wahrheiten und Möglichkeiten nachgrübeln möchte, den Mitmenschen, dem eigenen Kinde Komödie vorgaukeln, Mut heucheln, der einem selbst entsinkt! Und trotzdem! Ich habe immer noch gehofft! Als Ihr Brief kam, wußte ich nach den ersten drei Zeilen, daß er mich zu meiner Frau rufen würde! Sie haben recht gemutmaßt: die Liebe kämpft sich doch wieder durch, wenn sie von der rechten Art ist – und – weiß es Gott, wie sehr ich meine Ketty mitsamt ihrem unbequemen Temperamente noch heute liebe! Wie gesagt – alles will ich ihr verzeihen, nur das Eine muß sie mir zuvor reuig abbitten: daß sie auf diese Weise von mir und von dem Kinde gehen konnte! Das vermag ich nicht zu verwinden, und diese Demütigung kann ich ihr nicht ersparen. Wir müssen uns darüber unter vier Augen klar werden, sie und ich. Über die Schwelle dieses Zimmers hinaus thue ich ihr keinen Schritt mehr entgegen; sie hat uns aus eigenem Willen verlassen, und sie muß aus eigenem Willen zu uns zurückkehren.«

»Das ist Selbstverstand,« entgegnete Bürklin, »allein ich zähle fest darauf, daß Sie Sils-Baselgia nicht unverrichteter Sache den Rücken zu kehren brauchen!«

»Vier Wochen hab' ich Urlaub,« sagte der Landrichter. »Wie aber gedenken Sie nun zu handeln? Vorläufig sehe ich mich natürlich zu passivem Warten gezwungen, und für meine Kleine müssen wir auf irgend welche ableitende Unterhaltung denken.«

»Nein – so geht es nicht –« meinte Bürklin und saß eine Weile sinnend, gesenkten Hauptes, ehe er sprach: »Lassen Sie mich noch heute in Platta nach ihr sehen – wer weiß, was die mehr als achttägige Einsamkeit in ihr geändert und weich gemacht hat? Mein Ehrenwort darauf, daß ich Ihr Hiersein mit keiner Silbe erwähnen und sehr zurückhaltend in der Wahl meiner Hilfsmittel zum Zwecke sein werde. – Ich will streng in Ihrem Sinne handeln, Sie dürfen mir bedingungslos vertrauen,« fügte er hinzu, und statt der Antwort ergriff der Landrichter seine Hand, schüttelte sie mit festem Drucke und sagte nur:

»Wir sind Freunde!«


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