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11.

Wie Bürklin sich's gedacht hatte, so fand er's auch. Als er aus dem Laretwalde ins Freie kam, da wo des Gletschers volle Majestät urplötzlich vor das überraschte Auge tritt, sah er das ganze Fexthal völlig eingeschneit liegen. Die dunklen Häuser, jedes mit seiner quellenden Rauchsäule über steinbeschwertem Dache, hoben sich scharf aus blendendem Weiß, und selbst an den starrsten Felswänden haftete der Rauhfrost, schleierzart dagegen geweht. Silberner Duft hing im feinen Geäst der Lärchen, die ernsten Arven hatten den glitzernden Tand nicht halten mögen, schwarz und breit steckten sie ihre Zweige in die Luft und ließen sie am Boden schleifen, nur hier und da zeigte sich ein schwerer Schneefleck zwischen den Nadeln.

Das Rizzische Haus lag geborgen an seinem Abhange. Der Kälte wegen war seine Thür geschlossen; keine Seele zeigte sich rings im Kreise, aber die verlassene Frau rechts im großen, getäfelten Zimmer mußte Steffen Bürklin im Vorüberschreiten vom Fenster aus erblickt haben. Als er den eisernen Klopfer in Bewegung setzte, kam sie selbst in den Flur und öffnete ihm. Ein verhärmtes Gesicht mit melancholischen Augen schaute ihn an.

»Sie bringen mir etwas, sonst wären Sie nicht wider mein Verbot zu mir gekommen,« empfing sie ihn und hieß ihn mit in ihr Zimmer treten. »O, bitte, geben Sie mir's, was es auch ist, ein Brief, oder sonst eine Nachricht –« und sie streckte ihm zitternde Hände entgegen.

»Nein, ich bringe Ihnen nichts,« sagte er und schloß die Thür hinter sich. »Trotzdem wage ich's, in Ihre verschneite Einöde zu dringen und mich nach Ihnen umzusehen. Die Vernunft hat auch ihr Recht im Leben, und die sagt mir: man soll seine Mitmenschen nicht im Stiche lassen, solange man ihnen noch nützen kann.«

»Ich danke Ihnen tausendmal – es ist auch gar zu traurig hier!« Ihre Stimme klang leiser und verzagter als sonst, und ihre Augen füllten sich rasch und ungewollt mit Thränen. Sie bot Bürklin den Lehnstuhl nahe am warmen Ofen, nahm ihm Hut und Mantel aus der Hand und legte beides beiseite. Dann setzte sie sich ihm gegenüber und sah ihm, den Oberkörper vorgebeugt, forschend und erschrocken ins Gesicht:

»Wie schmal und blaß sind Sie geworden! Was ist mit Ihnen geschehen?«

»Ich bin recht krank gewesen, seitdem wir uns zuletzt hier oben begegneten,« erwiderte er. »Schon an jenem Tage fühlte ich mich sehr elend, und ich fürchte, daß es auch heute noch ziemlich unverständig von mir ist, mich bis zu Ihnen hinauszuwagen. Aber was thut man nicht für seine Freunde, wenn man sie verlassen und betrübt weiß! Ich bereue mein kleines Wagnis nicht. Wollen Sie mich nun eine Viertelstunde hier behalten, daß ich auftaue?«

»Natürlich!« entgegnete sie, »aber daß Sie krank gewesen sind, das brennt mir ins Gewissen; denn ich weiß, daß ich die Hauptschuld daran trage. Ich hätte Sie pflegen sollen zum Dank für alle Geduld und Nachsicht, die Sie mit mir gehabt haben, und statt dessen bin ich hier unthätig – den freundlichen Leuten eine Last! Jetzt will ich Ihnen gleich etwas zur Erfrischung holen; meine Signora weiß einen sehr guten Glühwein zu bereiten.«

Sie ging hinein, und Bürklin hörte sie im Flur zu Signora Teresina sprechen. Wohl zehn Minuten lang blieb sie fort, und er hatte genug Zeit, mit sich darüber fertig zu werden, wie er seine Sendung am besten erfülle. Gedankenvoll blickte er in die rotzuckenden Lichter, die der Feuerschein durch das altmodischen Ofengitter auf die Täfelung des Fußbodens warf und emporlaufen ließ bis zum feinen Schnitzwerk der Decke. Mit verschwimmenden Zügen und strengen Augen schauten die nachgedunkelten Bilder in Barockrahmen durch die wachsende Dämmerung auf ihn herab. Heute standen die Möbel zwangsloser geordnet umher, als damals während des bitteren, aufregenden Gespräches, das die junge Freundschaft um ein Haar gewaltsam vernichtet hätte. Über den Tisch, gerade unter dem Salis-Soglioschen Wappen, das inmitten der Zimmerdecke prangte, lag ein türkischer Shawl gebreitet, darauf allerlei Zierlichkeiten aus Frau Katharinens eleganter Reisetasche; das hohe Himmelbett mit seinen düster violetten, geschlossenen Vorhängen verkleinerte den großen Raum und machte ihn anheimelnder. Jede Einzelheit nahm Steffen Bürklin in sich auf, und wie ein Traum lag es über ihm, daß er hier in traulichem Beisammensein mit der Frau des Mannes weilte, der, seinem Liebsten so nahe, es nicht erreichen durfte. Ja, die Fäden des Dramas, die er an jenem kummervollen Abende deutlich vor sich ausgespannt sah, jetzt hatte das Geschick sie ihm wirklich in die Hände gegeben, und er hoffte auf Kraft und Klugheit, um sie richtig und fest miteinander verweben zu können zum schönen Ganzen.

Da kehrte Frau Katharine endlich aus der Küche zu ihrem Besucher zurück. Augenscheinlich hatte sie den Glühwein selbst bereitet; ihr Gesicht war gerötet, als ob sie über dem Feuer gestanden hätte. Sie brachte den dampfenden, nach Zimt und Nelken stark duftenden Trank auf einem Theebrettchen, schob einen kleinen Tisch neben Bürklins Sessel und ließ sich's nicht nehmen, ihm selbst einzuschenken und darzureichen. Nie war sie ihm anmutiger und doch frauenhafter erschienen als jetzt, da sie ihm den unbedeutenden Dienst leistete.

»Und Sie bringen mir wirklich gar nichts von zu Hause? Keine Zeile?« fragte sie nochmals, indem sie ihren Platz ihm gegenüber im leichten Korbstuhle wieder einnahm.

Er schüttelte den Kopf. »Prüfen Sie sich ehrlich: durften Sie auf Nachricht hoffen? Ahnt Ihr Mann, wo Sie sich befinden? Meines Wissens haben Sie es ihm doch nicht mitgeteilt von hier aus, und als Sie aus Danzig abreisten, waren Sie noch völlig im Unklaren über das Ziel Ihrer –«

»Ihrer Fahnenflucht!« fiel sie ihm ins Wort. »Ja, Sie haben recht, wie sollte Viktor meine Spur gefunden haben? Wir Menschen hoffen meistens allzu kühn. Ach, wie Ihr Wort von der Fahnenflucht und dem: ›lieber sterben als untreu werden!‹ mich gepeinigt und verfolgt hat! Ich habe Sie trotz meiner neulichen Ablehnung oft, oft herbeigesehnt, um mir zu raten und weiter zu helfen. Ach, der Weg ist so dunkel vor mir!«

»Wir wollen versuchen, ihn hell zu machen,« gab er zurück. »Unsere Gedanken mögen sich manch liebes Mal begegnet sein; denn während meiner müßigen Krankheitstage habe ich sehr viel Zeit gefunden, mich mit Ihnen und Ihrer nächsten Zukunft zu beschäftigen, ernst und eingehend. Der Winter rückt heran und mit ihm die Zeit meiner Abreise von Baselgia. Immer werde ich Ihrer mit lebhaftester Teilnahme gedenken, dessen seien Sie versichert, und ehe ich von Ihnen scheide, möcht' ich wenigstens Ihre Pläne wissen.«

»Ich habe keine!« versetzte sie und blickte mit trostloser Miene an Bürklin vorüber zum Fenster hinaus. »Wie sollte ich auch dazu kommen, Pläne zu machen? Ich würde sie doch wieder und wieder an mein verlorenes Daheim knüpfen. Alles hab' ich verscherzt, und mein Mann wird mich niemals zu sich zurücknehmen, sonst hätte er wohl Mittel und Wege gefunden, mein Reiseziel festzustellen, und hätte mir einen einzigen kleinen Schritt entgegen gethan! Mein lebenlang wär' ich ihm dafür glühend, unaussprechlich dankbar gewesen! Sagen Sie mir's ohne Strenge, ohne Leidenschaft, wenn Sie an Viktors Stelle ständen – würden Sie in Wahrheit kein Fünkchen Erbarmen mit mir gehabt haben?«

»Nein,« entgegnete er festen Tones, »ein solches Erbarmen läge auch außerhalb meiner Natur. Die Mutter, die mein Kind verlassen könnte, müßte kniefällig meine Verzeihung für diese unerhörte Sünde suchen. Spröde wie Stahl würde ich gleichfalls sein, und ich ehre Ihren Gatten um seiner Härte willen zwiefach. Wollen wir noch einmal ruhig darüber sprechen, liebe Freundin?« fragte er, schob seinen Stuhl dem ihrigen näher und ergriff ihre Hand. Da beugte sie sich plötzlich nieder, ließ ihr weinendes Gesicht auf seine Hand sinken, und nun schluchzte sie minutenlang so heftig, als sollte ihr das Herz brechen.

»Mein Freund! mein Freund! – ich bin die Schuldige!« stammelte sie, »das hab' ich hier in der Öde erkannt an meiner Qual, an meiner Sehnsucht nach den Geliebten, Geliebtesten daheim! O wenn es Viktor wüßte, wie tief ich bereue – wenn er doch Mitleid hätte und mir sagte: komm zurück, ich will dir verzeihen. Ich kann nicht abbitten – Viktor weiß es – und daraus, daß er nur kein armseliges Wort zur Hilfe schenkt – daraus sehe ich, daß er mich aufgibt – verstößt!«

»Sie müssen abbitten; kein göttliches noch menschliches Erbarmen vermag Ihnen diese Demütigung zu ersparen,« erwiderte Bürklin und faltete seine Hände fest um die ihrigen zusammen. »Schuld – Sühne – Vergebung – Glück,« so heißt die Reihenfolge, und kein Glied läßt sich aus der Kette entfernen, ohne sie in Stücke zu brechen. Vergessen Sie, meine liebe Freundin, wo Sie sind, versetzen Sie sich zu dieser Stunde mit all Ihrer Denkkraft in die Heimat zurück: Ihr Gatte, Ihr liebes Kind tritt Ihnen vor Augen. Ich, der Fremde, sehe die beiden so deutlich im Geiste. Sagte ich Ihnen wohl je, daß ich glaube, Ihren Mann als Studenten in Bonn gekannt zu haben? Er ist groß von Gestalt, fast einen Kopf größer als ich, nicht wahr? Er hat einen klaren, festen Blick und eine freundliche Stimme, die ins Herz dringt, und ist so recht zum Schutz und Zutrauen geschaffen! Lebend steht er vor mir, und das kleine Mädchen an seiner Hand, Ihr einziges, trägt Ihren Namen; denn Ketty und Katharine bedeuten doch dasselbe? Darum meine ich auch, es muß Ihr Ebenbild sein, blondhaarig mit großen Augen, und sein kleines Herz hängt an der fernen Mutter, wie das Mutterherz an ihm hängt! Wohl hundertmal hat es schon den Vater gefragt: ›Wann wird die trauteste Mutter nur wiederkommen?‹ Und keins der beiden weiß von ihr, ob sie lebend oder tot ist – seit Wochen keine Kunde herüber und hinüber! In der Fremde, in Schnee und Kälte vergräbt sich die Mutter, die sich schuldig fühlt, und spricht trotzig: ›Ich kann nicht abbitten!‹ Dem Gatten – dem Geliebten abbitten, ist denn das so grenzenlos schwer?«

Sie saß und blickte ihm verstummt ins Gesicht, den Atem anhaltend mit halbgeöffneten Lippen. Ihre Augen hingen wie erstarrt an den seinigen, sie sahen im Feuerschein Thränen an des Mannes Wimpern hängen – da warf sie sich mit lautem Schrei vor ihrem Stuhle auf die Kniee und preßte die Stirn gegen das harte Geflecht.

»Nichts mehr! – nichts mehr! – es ist genug!« schluchzte sie mit versagender Stimme. »O mein Gott! mein Gott! – vergib mir! – Viktor – vergib mir!«

Umsonst versuchte Bürklin sie emporzurichten, immer kraftloser sank sie in sich selbst zusammen, Worte höchster Qual ins Leere rufend. Ein Glück war's, daß Signora Teresina, erschreckt durch den lauten Schrei aus Katharinens Munde, herzueilte und, ohne anzupochen, zu den beiden ins Zimmer trat.

Im nächsten Augenblicke kniete sie neben der Niedergebrochenen am Boden und bettete das widerstandslose Haupt an ihre Brust. » Povera! mi' povera!« sagte sie mit ihrer sanften Stimme, und Katharine klammerte ihr die Arme fest um den Hals: die Unglückliche der Trauernden.

Allgemach glückte es Signora Teresina, die Halbohnmächtige aufzurichten und sie in den bequemen Armsessel am Ofen niederzulassen. Dann zog sie die Vorhänge des Bettes auseinander, zündete ein Licht an und schloß die Fensterläden.

»Nun felice notte, Signor,« sagte sie, Bürklin einen Wink mit den Augen gebend. »Es ist besser, sie legt sich gleich schlafen und wird wieder warm und kommt zur Ruhe. Zum guten Glücke sehe ich noch ein Restchen Glühwein im Kruge, das ist das Beste zur Stärkung. Die Nacht über werde ich nicht von ihr gehen – nein gewiß nicht, mi' carissima!« bekräftigte sie, als Katharine die Güte der fremden Frau abwehren wollte, »wir werden einander schon verstehen. Ich weiß auch, was es heißt zu weinen und im Dunkel keinen Trost um sich her erblicken!«

Kaum vermochte Katharine gute Nacht zu sagen. Sie reichte dem Freunde die Hand und versuchte zu lächeln, aber es ward erneutes, schmerzliches Weinen daraus.

»Ich danke Ihnen – und Gott segne Sie!« flüsterte sie in abgebrochenen Worten. »Morgen – oder wenn Sie wiederkommen, sollen Sie mich anders finden. Bitten Sie Gott für mich – es ist so schwer – ach, so schwer – aber suchen will ich den Weg!«

Darauf verließ er sie und trat aus dem rötlichen Dämmerschein des Zimmers in den eisigen, sinkenden Abend hinaus. Stern um Stern tauchte am weitgespannten, kaltblauen Himmelsgewölbe auf, schon erhob sich am Horizonte das funkelnde Dreigestirn des Oriongürtels über die Höhe von Marmorè. Der Schnee knisterte leise unter den Füßen des späten Wanderers, welcher rüstig ausschritt und mit ernsten Augen in des Sternhimmels wachsende Pracht und auf die makellose Weiße der schweigenden Gebirgslandschaft blickte.

Um die Zeit, daß er Baselgia wieder erreichte, war es völlig dunkel geworden, und der Landrichter erwartete ihn schon mit Ungeduld im Korridor des oberen Stockes, ruhelos die Länge des breiten Ganges hin und her messend.

»Gute Nachricht – viel bessere, als ich zu hoffen wagte,« rief Bürklin ihm entgegen, und über des anderen gespannte Züge glitt ein Ausdruck wahrer Erlösung.

»Dank! Dank! Nachher berichten Sie mir drinnen bei Ihnen ganz ausführlich. Sagen Sie nur, bitte, vor allen Dingen meinem aufgeregten Kinde gute Nacht, es will durchaus nicht einschlafen, ehe es von der Mama gehört hat!« Damit öffnete er Bürklin die Thür von Frau Katharinens Zimmer und hieß ihn eintreten.

Die Kleine lag hell wach im Bette und hatte ein erhitztes, verweintes Gesicht.

»Ich bin aber nicht unartig, gar nicht!« empfing sie Bürklin. »Papa sagte, ich sollte nicht soviel quälen, du würdest doch schon zur rechten Zeit wiederkommen, und du kamst und kamst immer nicht!« klagte sie, die formelle Anrede vergessend, und legte zutraulich ihren Kopf gegen Bürklins Arm, als er sich zu ihr auf den Bettrand setzte. »Nun wirst du mir auch erzählen, wirst du nicht, Doktor? Wie geht's der besten Mama? und was hat sie gesagt, und wann wird sie nur zu uns hierher kommen?«

»Geduld! Geduld, du kleines Fragezeichen du,« beschwichtigte Bürklin und streichelte ihr die heiße Wange. »Der Mama geht es viel besser; wer weiß, ob du sie nicht schon in ein paar Tagen bei dir hast, bis dahin gib dich zufrieden. So – nun lege dich zurecht und schlafe, sonst verschreibt dir der schlimme Doktor morgen etwas Bitteres zu schlucken, und wenn du krank bist, dann darf die Mama wieder nicht zu dir.«

»Ach, Doktor! Mamas werden doch zu ihren Kindern dürfen – gerade recht, wenn sie krank sind!« meinte die Kleine mit der unbestechlichen Logik ihrer acht Jahre und sagte dann noch ein paarmal rasch hintereinander: »Ich freu' mich! Ich freu' mich so!« Darauf kehrte sie sich gehorsam mit dem Gesichte gegen die Wand, seufzte erleichtert, faltete die Hände über dem weißen Nachtkleidchen zusammen und war im Nu eingeschlafen.

Vorsichtigen Trittes verließ Bürklin das Gemach mit dem flackernden Nachtlichte, das auf Katharinens Koffer hinter Kettys Bett gestellt war, damit es nicht blende, und ging in sein eigenes Zimmer. Dort fand er das Abendessen für zwei schon aufgetischt, und der Landrichter warf seine Zeitung beiseite, von deren Inhalt ihm keine Silbe ins Bewußtsein übergegangen war.


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