Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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XIX.

Lassalle wußte, daß sein Stern erloschen war. Tief in der Brust wußte er es, wenn sein gewaltsam aufgepeitschtes Selbstvertrauen sich auch bisweilen in den bleichen Trost der Gräfin verbiß, daß er auch ohne Bismarcks Hilfe sein Werk vollenden könne. Der Verstand schrie ihm zu, er würde es nicht vollenden; er nicht, wohl die Zeit. Sein Gedanke würde fortleben und sich entwickeln mit der treibenden Kraft, die in Ewigkeitsgedanken pulst. Sein Weckruf würde laut hallend läuten durch die Jahrhunderte mit dröhnendem Glockenklang. Er selbst würde hinübergehen ins All, fern, fern dem bekränzten Ziele.

Bisweilen sprang er nachts aus dem Bette und schlug die Stirn gegen die Wand, daß sein alter böser Fehler, seine aufschwellende verwundete Eitelkeit ihm jenen Brief diktiert hatte. Dann sprach eine ruhige traurige Stimme in ihm: er hätte dir auch ohnedies nicht geholfen. Er hat andere Pläne. Er will das allgemeine und direkte Wahlrecht noch nicht einführen. Noch nicht. Dein Brief hat die Lage nur geklärt. Dich vor dem Fortspielen einer lächerlichen Narrenrolle bewahrt.

Dann saß er lange im Bette aufrecht und starrte an die Wand und wußte, daß sein letztes Rettungsmittel ihm entglitten war. Jetzt drang hoffnungslose Dunkelheit ringsum auf ihn ein. Sein Kopf war hohl und zerquält. Sein ausgepreßtes Hirn konnte nun keinen neuen Weg mehr suchen nach all den Irrgängen der letzten Jahre. Es schmerzte und war so müde und so wund!

Nein, er würde nicht der Messias seines Jahrhunderts werden. Er würde nicht einziehen mit seinem erlösten Volke in das gelobte Land.

Und bleich verhärmt gedachte er der warnenden Worte seines früheren Freundes Marx. Ach, der hatte recht! der hatte recht! Der Sieg der Arbeiterbewegung, die Eroberung der Geister durch den Sozialismus forderte gewaltige Zeitspannen wie geologische Epochen. Forderte Jahrhunderte ernster, ehrgeizentäußerter zäher Arbeit. Marx hatte recht gehabt. Sein selbstloser Arbeitsplan würde siegen. Ja – ja. Tief stieß der niedergebrochene Mann sich den spitzen Stachel der späten reuevollen Einsicht in die Brust.

Er dachte in dieser dunklen Zeit an das Versprechen, das er einmal Marie Strasser gegeben hatte. Sollte er sie jetzt, in seiner großen Not, rufen? Sein armes gebeugtes Selbstgefühl richtete sich gramvoll auf. Nein nein, nicht klein beigeben, nicht Fremden die Schmach eingestehen! Nicht bekennen, daß sein Lebenswerk jammervoll gescheitert war. Nein, nein! Nicht in die Tiefen seiner verzweifelten Nacht hinableuchten.

Er raffte sich empor, rang verloren die Arme und flüsterte vor sich hin: »Nein nein, ich werde mein Volk nicht in das gelobte Land einführen. Mein Los ist das Schicksal der Mose aller Zeiten.« Der Gedanke gab ihm etwas Trost und Halt. »Auch jener gewaltige Horngekrönte hat nur den Weg nach Kanaan gewiesen und es nur von den Höhen der Ferne erschaut. Auch ich habe den Weg gewiesen. Auch ich habe ihnen vom hohen Berge aus das Land ihrer Sehnsucht gezeigt. Andere, Spätere werden das ernten, was ich gesät.« Und er warf sich in Qualen in die Kissen. Denn er war nicht der Mann, für die Zukunft zu säen. Er wollte ernten, sein Ehrgeiz wollte einziehen in die Scheuer hoch oben auf kornbeladenem, fruchtschwankendem Erntewagen.

Wohl reckte er noch einmal die Glieder, wohl trieb er weiter die Räder seines Werkes. Doch ohne Hoffnung, ohne Glauben an sich und den Erfolg. Er reiste ins Rheinland, in das alte, treue, ihm ergebene Rheinland. Darin lag Trotz. Er wollte dem Manne in der Wilhelmstraße zeigen, wie groß seine Macht trotz alledem war, trotz alledem und alledem.

Und schauerlich ernst erfüllte sich die Tragödie dieses Raketenlebens. Jetzt, gerade jetzt, da er innerlich an seinem Werk verzagt war, riß es ihn zu den höchsten Triumphen hinauf, die in deutschen Landen jemals einen Ungekrönten gekrönt haben. Ein volksumrauschter verzückter Messiaszug ward diese letzte rheinische Heerfahrt.

In Düsseldorf, in Solingen, in Barmen sprach er unter trunkener Begeisterung. Der Tag von Wermelskirchen wurde am 19. Mai zu einem jauchzenden Volksfeste. An der Bahnstation Küppersteg nahm ihn eine Arbeiterdeputation mit zwei festlich bekränzten Wagen in Empfang. Drei Stunden währte der Weg nach Wermelskirchen. Es war die Fahrt des Heilands durch die Reihen seines begnadeten Volkes. Überall stießen Massen von Arbeitern und Landleuten zu dem Zuge. Längs des Weges bildete die Jugend Spalier und rief und winkte dem bleichen stillen Manne in dem vorbeirollenden Wagen stürmisch und beseligt zu. An der Grenze der Burscheider und Wermelskirchener Gemarkung erhob sich die erste Ehrenpforte über die ganze Breite der Chaussee. Hier wurde der Präsident durch eine Ansprache festlich begrüßt und mit Hochrufen und Liedern gefeiert. Jetzt war der Zug so gewaltig angeschwollen, daß die Wagen nur ganz langsam unter der herandrängenden, freudeberauschten Menge der Männer, Frauen und Kinder dahinziehen konnten. Mädchen streckten dem Messias die Hände entgegen. Weiber reichten ihm ihre Säuglinge voll Dankbarkeit zu, daß er sie segne, und riefen in gläubiger Verklärtheit: »Die werden es besser haben, durch dich – durch dich!« Und alles umtanzte, der Alltagsnot entrückt, bacchantisch den Wagen, warf die Arme in die Luft, schwenkte Mützen und Hüte und Tücher und jauchzte fanatisch: »Heil dem Heiland! Heil unserem Messias Ferdinand Lassalle!«

Still und bleich saß der vergötterte Mann in den Polstern des Wagens. Seine Augen brannten.

Eine halbe Stunde Weges weiter hinan ragte die zweite Ehrenpforte, und die dritte baute sich kurz dahinter. An dem dritten Tore sangen Tausende von Stimmen ein Lied, das wie eine uralte Volksweise zwischen ihnen aufgesprungen war. Es war da, keiner kannte den Verfasser, keiner den Tondichter, das Lied war da und sang aus Tausenden von Arbeiterkehlen. Stark, innig, naiv, wie echte alte deutsche Volksweise.

»Zum freudevollen Feste,
Das heute schön dir blüht,
Da bringen wir das beste,
Ein fröhlich heitres Lied.

Wir richten voll Vertrauen
Zu dir jetzt unsern Blick
Und werden bald das schauen,
Was aller größtes Glück.

Ein Lorbeer wird uns krönen.
Denn unsre Stimme zählt;
Da können wir drauf bauen,
Daß dieses bald gerät.

Wir großen dich, Herr Präsident,
In unserm Deutsch-Verein;
Denn dir gebührt die Ehre
Zu unserm Groß-Verein.

Die Eintracht wird sich mehren;
Denn du gehst uns voran,
Die Ketten zu zerbrechen,
Die unsre Väter han.

Und wenn wir nun gesieget,
Da wollen wir uns freun,
Du bist uns hoch erkoren
In unserm Deutsch-Verein!«

Die Hymne umbrauste wie Urväter Schlachtgesang den Mann. Er war im Wagen aufgestanden und beugte tief das entblößte Haupt unter Schmerz und Verantwortung. Wer will sagen, was dieser umjubelte besiegte Mann in diesen größten Momenten seines Lebens durchlitten hat! Wer will das sagen? Und wer kann sprechen von diesem siegumkränzten, blutigen Märtyrertume!

Nur er allein wußte, daß ihr schlichter Kinderglaube an ihn eitler Götzendienst war. Er hatte ihnen Worte gegeben, große starke Worte, an die sie glaubten, wie der Fromme an die Worte des Heils. Ach, was halfen alle großen starken Worte ihrem Elend! Taten erwartete jetzt ihre zum Himmel langende Sehnsucht, Taten der Befreiung. Er hatte keine Taten mehr zu geben.

Dann wurde er wie ein König in das Versammlungslokal geleitet. Es war ein großes duftendes Blumenbeet. Zwei Tage lang hatten alle Kinder der Gemeinde Feldblumen gepflückt zu Ehren des Retters aus der Sklaverei der Väter.

Ehe Lassalle sprach, wurde Herweghs Arbeiterlied gesungen. Es war geistiges Eigentum jedes Dorfkindes geworden. Dann hielt Lassalle seine Festrede. Und da kam wie durch Zauberkraft sein alter, bunt blühender Optimismus über ihn. Er sprach beherzt, kühn, herrlich, wie in seinen besten Tagen. Er sprach von der Freiheit, die auf dem Marsche sei. Und in diesen Stunden glaubte er, wie die Tausende der fromm vertrauenden Zuhörer, an seine Worte. Bis in die späte Nacht, als Lassalle schon lange geendet hatte und beim Festmahl unter dem Volke saß, kamen noch aus der fernsten Umgegend die Landleute herbeigezogen, um die Hände des Propheten zu küssen, wenn sie schon seine Worte nicht hatten hören können. Und ein achtzigjähriger Mann, halbblind und verfallen, ließ sich von seinen beiden ernst dreinschauenden Söhnen zu dem Retter führen. Er tastete nach Lassalles weißen, aristokratischen Händen und drückte sie stumm an die eingesunkenen Greisenlippen. »Jetzt will ich sterben,« flüsterte er und ließ sich von hinnen führen. –

Wenige Tage später wurde zu Ronsdorf das Stiftungsfest des Vereins begangen. Eine weißbekränzte Wagenprozession harrte des Präsidenten am Elberfelder Bahnhof. Frühlingsfroh erregte Volkshaufen umschwirrten den Landauer des Schöpfers neuen Werdens auf den Wegen, die grüne Maien lenzlustig überspannten. An der Ronsdorfer Grenze war alt und jung versammelt. Eine Girlande mit der Inschrift:

»Willkommen dem Dr. Ferdinand Lassalle
Viel tausendmal im Ronsdorfer Tal!«

begrüßte den Triumphator. Als der Wagen unter dem Spruche hindurchglitt, rieselte plötzlich ein duftiger Blumenregen auf das dunkle Haupt des Präsidenten nieder. Ein reizender Chor frischer Arbeitermädchen hatten ihn mit schelmisch sicherem Wurfe über den Erstaunten hereingesegnet.

Eine mystische Erregung und ein Freudentaumel wie bei der Stiftung einer neuen Religion zitterte in der klaren Maienluft.

Hier zu Ronsdorf hielt der Mann, der heute die Nachricht erhalten hatte, daß er in seiner Abwesenheit in Berlin in einer seiner zahlreichen Strafprozesse zu vier Monaten Gefängnis verurteilt worden war, seine letzte große Volksrede. Wieder riß ihn die emporatmende Glaubensinnigkeit der Gemeinde von allen schreckensdunklen Ufern fort. Wieder schloß er auf Stunden die Augen vor dem Abgrund, an dem er und sein Werk schwindelnd dahinrollte.

In verzweifelten, selbsttäuschenden Worten schilderte er die Erfolge des Vereins. Zugleich sprach er auch nach Berlin hinüber. Bismarck sollte hören, was alles er ohne seine Hilfe vollendet hatte.

»Ich erinnere mich einer sehr poetischen Sage,« rief er, »daß der Löwe immer tot geboren werde, und erst das furchtbare Gebrüll des Löwenvaters ihn zum Leben erwecke! Wohl, wir haben im Sinne dieser Sage gehandelt! Er schien am ersten Tage vielleicht ein totgeborenes Kind, unser Verein, aber wir haben so furchtbar gebrüllt, daß dieser Ruf ein Echo fand in allen deutschen Landen, daß dieses Kind zum freudigsten Leben erwachte und sich eben dadurch als echter Löwe betätigt hat!«

Ach, sein armer verzerrter Selbstbetrug verstieg sich bis zu der Verkündung: »Einen der größten Beweise unserer Erfolge bietet aber Berlin selbst.«

Doch mitten in diesen angstgegeißelten Selbsttäuschungen packte den Mann grausig die Wirklichkeit. Die Aussichtslosigkeit seiner Kämpfe grinste ihn an, die Hoffnungsöde, die ihm aus den glückesklaren Augen der Hörer entgegenstarrte, schnürte ihm die Kehle zusammen. Während er die großen vollen eitlen Worte hinausschleuderte, brannte die grausame Nichtigkeit seines Lebenskampfes verzehrend durch sein Hirn. Er sah das Diadem inbrünstiger Hoffnung auf baldige Erlösung die einfältigen Stirnen der Geknechteten da vor ihm umkrönen, er sah ihre unerschütterliche Zuversicht zu seiner prophetischen Helferkraft und göttlichen Stärke, und die zermalmende Verantwortung, die er ihrem Glauben trug, raubte ihm den Atem. Todessehnsucht im Herzen keuchte er seine hoffnungsgeblähten Worte des Lebens. Eine zage menschliche Müdigkeit, ein Fertigsein mit allem Irdischen sank vernichtend nieder auf seine gewaltsame Gespreiztheit.

Und da stiegen aus der überbürdeten Brust des Mannes auch die Worte zum Munde. Bang schloß diese bombastische Prunkrede mit dem demütigen Bekenntnis: »Wie stark auch einer ist, einer gewissen Erbitterung gegenüber ist er verloren! Das kümmert mich wenig! Ich habe, wie ihr denken könnt, dieses Banner nicht ergriffen, ohne ganz genau voraus zu wissen, daß ich dabei persönlich zugrunde gehen kann.« Und ganz leise bat er: »Möge mit meiner Person diese gewaltige und nationale Kulturbewegung nicht zugrunde gehen, sondern die Feuersbrunst, die ich entzündet, weiter und weiter fressen, solange ein einziger von euch noch atmet!

Dies versprecht mir, und zum Zeichen dessen hebt eure Rechte empor!«

Alle warfen in staunender Erregung die Rechte empor. Und diesen Wald schwörender Hände vor Augen verließ Ferdinand Lassalle die Tribüne und sein zerschelltes Werk.


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