Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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XI.

Tatenfroh, mit reicher Hoffnung, die frische Brise der Erwartung in den Segeln, war Lassalle nach Italien ausgezogen. Verzagt, enttäuschungsarm, mit schlaff hängenden Segellappen kehrte er heim. Er wußte, Garibaldis Abschiedstrost waren Worte der Höflichkeit, nicht der Tat gewesen.

Die Gräfin blieb in Florenz bei Ludmilla Assing. Er wollte allein sein. Seine flügellahme Verzweiflung duldete keinen Trost.

Die beiden Frauen hatten sich in ihrer gemeinsamen hoffnungslosen Liebe zu dem Einen gefunden. Lange blieben sie nun beisammen. Und an knospenden Frühlingstagen gingen sie Arm in Arm durch die Stadt Dantes und sprachen von dem fernen Einen, der ihr Leben war. Und in heißer italischer Sommerglut lagen sie Seite an Seite hinter geschlossenen Fensterläden im brütenden Dämmer, und durch das Zimmer summten ihre müdegeflatterten Gedanken an den Einen, der ihre Welt war. Und als regnerisch und kalt der toskanische Winter kam, da saßen sie am Fenster und die Regentropfen rieselten an den Scheiben schwer und spurenziehend hernieder wie die tränenbelasteten Seufzer ihrer Sehnsucht nach dem Einen, der ihrer Seele Seligkeit war. Ihr Dasein war ein gequältes Horchen nach dem Norden geworden. – –

Im Januar 1862 war Lassalle aus Italien zurückgekehrt. Er hatte geglaubt, den Punkt im All gefunden zu haben, auf dem fußend er die alte Welt aus den Angeln heben konnte. Doch der Punkt war unter seinen Füßen jählings verglitten, er war hinabgestürzt ins uferlose hoffnungsleere Nichts grausamster Enttäuschung.

Da führte ihm das Geschick einen Gesinnungsgenossen zu, an dessen streitbarem Widerstände sich sein gebeugter Kampfsinn wieder bald lebensfroh aufrichten sollte.

Eines Abends fiel ihm in der »Philosophischen Gesellschaft«, deren Mitglied er war, ein kleiner, etwa 40jähriger Herr auf durch die frappante Ähnlichkeit mit der berühmten antiken Büste des Demosthenes. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Unbekannten anzusprechen. Doch welch ein Finden! Dieser Demostheneskopf gehörte einem Manne, dessen Schriften Lassalle seit langen Jahren bewunderte und propagierte. Es war der infolge der Amnestie aus London heimgekehrte Lothar Bucher, der ehemalige Assessor aus Stolp, der als Mitglied der Berliner Nationalversammlung von 1848 gewagt hatte, die beschlossene Steuerverweigerung auch in die Tat umzusetzen. Nach seiner Verurteilung war er nach England entwichen.

Sein Buch über den englischen Parlamentarismus, die Artikel, die er aus der Verbannung über die englische Bourgeoisieherrschaft an die Nationalzeitung geschrieben hatte, gaben vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft Anknüpfungspunkte die Fülle und schlugen bald das einende Band der Verachtung der Liberalen um die beiden Männer.

Im Wesen waren sie Gegenpole, aber gerade das zog sie zueinander. Lassalle redesprühend, losstürmend, in Minuten eine Welt von Projekten gebärend; der andere durch seinen zehnjährigen Aufenthalt in der Verbannung desillusioniert, entsagend, mit scharfem Blick für reale Möglichkeiten, ein stiller, verschlossener, wortkarger, hoffnungsloser Mann.

Noch am ersten Abende auf dem Heimwege fanden sie sich im Hohn auf die Fortschrittspartei: »Sie werden begreifen,« lächelte Bucher sein resigniertes Lächeln, »daß ein Mensch, der zehn Jahre lang den englischen Parlamentarismus studiert, seziert und analysiert hat, für die Karikatur desselben, den die Fortschrittspartei hier aufführt, nur ein Lächeln hat.« O ja, Lassalle begriff, er begriff enthusiastisch. Er hatte nicht bloß ein Lächeln, er hatte ein »ungeheures Gelächter«. Und gepackt von der Geisterverwandtschaft des neuen schweigsamen Demosthenes, nahm er freundschaftlich dessen Arm und drang in ihn, ihn zu besuchen, bald, morgen.

Bucher willigte ein. Und Lassalle begleitete ihn, wie ein Stehaufmännlein wieder auflebend in seinen Plänen, bis zu seiner Wohnung in der Werderschen Rosenstraße.

Am nächsten Tage kam Bucher in die Bellevuestraße und dann immer häufiger, trotz aller Gegensätze, trotz alles mißbilligenden Staunens über den Optimismus dieses strahlenden eleganten Mannes, seltsam angezogen von der dämonischen Kraft, die in ihm die Arme reckte.

Sie saßen in diesem Arbeitszimmer, das auf so viele verblühte Hoffnungen seines Inhabers schon niedergeschaut hatte, und Lassalle sprach. Das kluge, stille Gesicht des Gastes lockte Geheimnisse aus ihm hervor; Sehnsuchten, die er selbst schon in der Brust still verzagt eingesargt hatte, wurden blutdurchströmtes Leben. Er erzählte von Garibaldi, dem Einfall in Dalmatien und dem Aufstand der Südslawen der österreichischen Lande. Doch der nüchterne Mann da vor ihm lächelte nur leise statt jeder Antwort.

Dann sprach Lassalle von seinem sozialen Programm. »Wie wollen Sie das allgemeine direkte Wahlrecht erzwingen?« fragte Bucher allein.

»Durch die Revolution,« entgegnete Lassalle mit schön aufsprießender Selbstverständlichkeit. Doch der Pessimist aus Erfahrung schüttelte den Kopf. Dann sagte er nach langer Pause: »Die ganze Kette Ihrer sozialen Reform hängt also an der Frage, ob es möglich ist, in Deutschland die bestehende Ordnung oder Unordnung der Dinge niederzuwerfen und –« er streckte den Zeigefinger zu Boden – »niederzuhalten.«

»Ja.«

»Das erste halte ich – wenn der geeignete Moment einmal kommt – für möglich, das letzte nicht. Sie sehen es auf eine Änderung des gesellschaftlichen Zustandes, mit anderen Worten: des Besitzes und der Möglichkeiten des Erwerbes ab. Sie haben also nicht bloß, wie die französische Revolution, die Reste einer tausendjährigen, verwickelten Organisation zu zerstören und wie die französische Revolution ein neues Evangelium an die Stelle zu setzen, sondern Sie haben das Gleiche mit der auf Grund jener Revolution entstandenen Bourgeoisordnung zu tun.«

»Freilich, freilich,« beeilte sich Lassalle.

»Was Sie an die Stelle setzen wollen,« grübelte Bucher, »befriedigt mich nicht. Alle Maßregeln, die Sie nennen, sind doch wieder nur politisch-juristisch, kann man sagen, stehen auf dem alten sozialem Boden, schaffen nur neue Bourgeois.«

»Ja,« schnitt Lassalle dazwischen, »was ich Ihnen darlegte, ist nur ein Anfang. Das sind nur Kleinigkeiten, avantcoureurs meines sozialen Programms, das ich Ihnen nun entwickeln will.«

»Erlauben Sie,« unterbrach Bucher, »einiges ist mir noch unklar. Jede solche Arbeiterassoziation, von der Sie da sprechen, würde als konstitutioneller Mikrokosmos eine widrige und schwerfällige Maschinerie werden.«

»O nein,« wandte Lassalle ein, »das ist nicht nötig. Der Arbeiter vermag Disziplin und Autorität sehr wohl zu tragen. In allen diesen Assoziationen würde ein Geschäftsleiter für die gesamte Geschäftsführung mehr oder weniger unbeschränkte Befugnisse erhalten.«

»Ich bezweifele,« bedachte Bucher, »ob ein Arbeiter den Genossen gegenüber diese Autorität besäße. Aber weiter. Wie denken Sie sich das? Es würde doch eine unendliche, konkurrierende Menge gleicher Assoziationen in jeder Stadt geben?«

»Nein,« widerlegte Lassalle, »in 20 bis 30 Jahren würde sich in jeder Stadt jede bestimmte Produktionsbranche notwendig und von selbst zu einer einzigen großen Assoziation zusammengezogen haben. Also: alle Tischler, Schneider, Wagenbauer, Eisengießer. Das würde mit Notwendigkeit z. B. dahin führen, daß der private Zwischenhandel aufhört und der Verkauf in Verkaufshallen besorgt würde, die der Staat anlegt.«

Und siegesgewiß mit der Hand durch die Luft fegend, kündete er seine Gewißheit: »Sie können mir schon glauben, die Assoziation, vom Staate ausgehend, ist und bleibt der organische Entwicklungskeim, der zu allem weiteren führt.« Keineswegs überzeugt, drang Bucher weiter auf den Grund: »Und die ländlichen Arbeiter?«

»Für sie sind bäuerliche Assoziationen auf Bodenflächen zu gründen, die der Staat beschafft. Im übrigen denke ich zunächst vor allem an die industrielle Arbeiterschaft. Sie ist die Avantgarde des Arbeiterstandes überhaupt. Durch die vollbrachte Befreiung dieses vorgeschrittenen Standes wird das Bewußtsein und die Agitation in den ländlichen Bezirken schon erwachen.«

Bucher mißtraute. »Und das Ziel, der sozialistische Zukunftsstaat?« fragte er. »Wie soll der kommen?«

»Ich glaube,« hatte Lassalle die Antwort bereit, »daß, wenn wir erst den Staatskredit für die Assoziationen haben, dies eben der kleine Finger ist, der mit der Konsequenz des sich selbst entwickelnden Lebens allmählich, freilich erst in 100 bis 200, vielleicht sogar erst in 500 Jahren zur Ablösung des Grund- und Kapitaleigentums führen muß.« Und wie er einst zu Marx gesprochen, entbot er sich auch jetzt: »Ich habe die Staatsassoziationen übrigens nur vorgeschlagen, weil ich momentan wirklich kein Mittel sehe, das zugleich so relativ leicht und so wirksam wäre, den Arbeitern aber irgendetwas ganz Bestimmtes, Greifbares vorgeschlagen werden muß, damit sie anbeißen. Ich spreche daher auch nie von einer ›Lösung‹ der sozialen Frage, sondern nur von einer ›Besserung der Lage der arbeitenden Klassen‹. Mehr duldet mein Gewissen nicht. Ich bin auch auf meine Mittel nicht erpicht. Ich weiß nur sonnenklar: etwas muß geschehen. Zeigen Sie mir ein anderes gleich leichtes und wirksames Mittel, und ich bin bereit, auf dieses sofort einzugehen und das meinige fahren zu lassen.«

Bucher zog die Schultern hoch. »Von diesen Einzelheiten abgesehen,« sann er, »erscheint mir Ihr Ausgangspunkt überhaupt falsch. Die neuen Besitzverhältnisse, die Sie einführen wollen, können nur durch den dauernden Krieg, einen Terrorismus einer sehr kleinen Minorität behauptet werden. Denn in der ersten Zeit wird – darüber machen Sie sich nur keine Illusionen – die Zahl Ihrer Anhänger sehr gering sein.«

»Revolutionen werden immer nur von Minoritäten gemacht,« warf Lassalle entgegen.

»Richtig. Aber sie werden nur behauptet, wenn die Minorität der Majorität einen Genuß, wenigstens einen Glauben zu bieten hat.«

»Aber –« wollte Lassalle bedeuten.

Doch Bucher sprach fort: »Es fehlt dem populo der Dio, um Mazzinis Wahlspruch zu gebrauchen, und Ihnen fehlt das, wofür Sie mit Ehren untergehen können.«

»Sie irren,« erhob sich Lassalle. »Ich gebe doch ein neues Weltprinzip, eine neue Ethik. Das meinen Sie doch mit dem ›Dio‹.« Und er suchte mit vielen Worten das Begeisternde seines Programms darzulegen.

Doch Lothar Bucher schüttelte immer wieder den bärtigen Kopf. Er kehrte immer von neuem zu dem Einwände zurück, die Zeit sei für Revolutionen, die Arbeiter für das Verständnis ihrer Befreiung nicht reif. »Sie machen den Fehler so vieler Hegelianer, Lassalle, daß Sie glauben, es liege eine Gleichheit vor zwischen der Entwicklung der Begriffe im reinem Denken, zum Beispiel der Algebra, und den Erscheinungen der Natur und den Vorgängen der Geschichte. Diese gestattet aber keine Rechnung mit benannten Größen.« Und unerschütterlich hielt er dem neuen Freund das Wort Lessings vor: »Es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, welche richtige Blicke in die Zukunft taten und nur diese Zukunft nicht erwarten konnten. Wozu die Geschichte sich Jahrhunderte Zeit nimmt, das soll in dem Augenblick ihres Daseins reifen.«

Da sagte Lassalle stolz: »Die Großen werden geboren, die Jahrhunderte zu überwinden.«

So debattierten sie Stunde um Stunde und Tag für Tag. Der Widerspruch dieses klugen wirklichkeitwägenden Mannes reizte Lassalles entgegenstürmenden Willen zur Tat. Doch die realpolitischen Bedenken des andern klärten ihm den Blick für die Möglichkeiten des Tages. Er wanderte stundenlang allein im Zimmer umher und ward immer schwankender in der Gewißheit, daß nur die Revolution das allgemeine direkte Wahlrecht erzwingen könne. Aber wie? Aber wie sonst? Das fragte er auch Bucher. Der legte die Hände müde auf die Knie und trauerte: »Ich habe nur die lahme Antwort Macchiavellis: Politik ist die Wahl unter Übeln. Ich wähle das Übel der Resignation.«

Das war Öl in das Feuer Lassallescher Leidenschaft. Resignieren, die Hände in den Schoß sinken lassen und alle Hoffnungen und alles Streben den Jahrhunderten überlassen? Nein. Nein! Dazu gebiert die Zeit nicht ihre großen Männer.

Und heftig entgegnete er: »Dann wollen wir überhaupt nicht mehr von Staat und Politik sprechen.«

»Na, na,« beschwichtigte Bucher. Doch Lassalle rief bitter: »Von zwei Dingen eins: entweder lassen Sie uns Zypernwein trinken und schöne Mädchen küssen, also dem gewöhnlichen Genußegoismus frönen – oder aber, wenn wir von Staat und Sittlichkeit sprechen wollen, so lassen Sie uns alle unsere Kraft der Verbesserung des Loses der unendlichen Mehrheit des Menschengeschlechtes weihen, aus deren nachtbedeckten Fluten wir Besitzenden nur herausragen wie einzelne Pfeiler, gleich um zu zeigen, wie dunkel jene Flut, wie tief der Abgrund ist.« –

Still lächelte Bucher zu dieser Emphase.

Lassalle aber verwühlte sein Hirn mit der Frage nach dem »Wie?«

Doch bald hatte die innere Politik Preußens ihn wieder einmal beim Schopfe. Schwankend, wie er in dieser Zeit noch war, scheu gemacht in seinen eigenen Beglückungsplänen durch Buchers Skepsis, griff er tatenlüstern in den Konflikt der Liberalen mit der Regierung ein.

Die Fortschrittspartei hatte die Kosten für die geplante Vermehrung des Heeres verweigert, der König die Reorganisation gleichwohl durchgeführt und damit die Verfassung verletzt, die für dauernde Staatsausgaben die Bewilligung des Abgeordnetenhauses forderte.

Dem Widerstände der Fortschrittspartei war der König im März 1862 mit der Auflösung des Abgeordnetenhauses begegnet. Die »neue Ära« war endgültig entschwunden. Die Neuwahlen standen bevor. In diesen Wahlkampf sprang Lassalle. Lange beriet er mit Bucher seine Stellungnahme.

»Ich muß etwas tun,« rief er, wirkungsbrünstig den ruhig dasitzenden Freund umkreisend, »ich werde diesen Liberalen einen Vortrag halten. Ihnen die Augen dafür öffnen, daß es sich hier um nichts anderes handelt, als um die Frage: wer hat die Macht in Preußen, die Regierung oder das Volk? Einmal diesen Liberalen zeigen, was diese Verfassung eigentlich ist, auf die sie so rechtsbesessen pochen. Man muß ihnen endlich einmal beweisen, daß es kein Kampf um Aufrechterhaltung dieser schönen Verfassung von 1850 ist, sondern einfach ein Kampf um die Macht.«

Bucher schwieg.

»Was halten Sie davon?« forderte Lassalle sein Urteil heraus.

»Gar nichts,« erwiderte er gelassen. »Die Fortschrittsmänner werden Sie mit Ihrem Vortrage nicht aufrütteln. Im Gegenteil. Die wollen den Streit gar nicht als Machtfrage ansehen, weil sie diesen Konflikt mit Reden, aber nicht mit Taten führen wollen. Ihnen ist es ein Streit um ihr Recht. Da kann man mit Worten zu überzeugen suchen. Einen Kampf um die Macht muß man auf der Straße und der Barrikade ausfechten. Davor graut unseren Fortschrittshelden.«

»Dann will ich ihnen das Grauen ins Haus schicken,« prasselte Lassalle auf und ging daran, seinen Vortrag: »Über Verfassungswesen« auszuarbeiten. Am 16. April wollte er ihn im Berliner Bürger-Bezirksverein halten. Einladungen ergingen an all die alten Freunde. Denn ganz im stillen hoffte er, sie zu überzeugen, sie zur mutigen Tat zu gewinnen, das schlaffe Band ihrer Beziehungen zu ihm wieder fest und stark zu knüpfen, wie es einst im Jahre 1858 gewesen.

Tief in die Arbeit versunken, saß er am Schreibtisch. Das Fenster stand weit offen. Frühlingsgären sollte einströmen in seine aufmahnenden Worte. Erregend atmete der Lenzabend ins Zimmer.

Da klopfte es. Friedrich meldete eine Dame.

»Eine Dame?« fragte Lassalle verwundert. Er hatte zur Zeit nicht die kleinste Liaison.

»Eine ganz neue,« belehrte Friedrich. »Jung und hübsch. Sie hat so was.«

»Dann lassen Sie sie doch herein,« belächelte Lassalle seine Kennermiene und blickte erwartungsvoll zur Tür. Herein trat Hedwig Klingbeil.

»Sie – Fräulein Hedwig!« erhob er sich überrascht.

»Guten Abend, Herr Doktor,« kam sie forsch auf ihn zu. »Vater schickt mich zu Ihnen.«

»Ihr Vater?« staunte Lassalle.

»Ja. Er läßt Sie bitten, am 12. April einen Vortrag in seinem Verein zu halten.«

»Einen Vortrag!« erwog Lassalle. »Ihr Vater ist Vorsitzender des Berliner Handwerkervereins der Oranienburger Vorstadt, wenn ich mich recht entsinne.«

»Ja, im Verein der Maschinenbauer.«

»Hm, worüber denn, Fräulein Hedwig? Hat er davon nichts gesagt?«

»Irgend etwas Wissenschaftliches, meinte Vater. Das interessiert die Leute immer am meisten. Vorigen Dienstag hat ein Doktor Kunhold einen Vortrag über die Freundschaft von Goethe und Schiller gehalten.«

»Hm,« machte Lassalle wieder, überlegend. »Augenblicklich bin ich ein wenig mit Vorträgen überlastet. Am 16. April halte ich einen im Bürger-Bezirksverein, am 19. Mai muß ich zur Feier des hundertjährigen Geburtstages des Philosophen Fichte die Festrede in der Philosophischen Gesellschaft halten.« –

»Sie können alles, was Sie wollen,« himmelte sie mit großen Augen. »Sie werden doch die Arbeiter, gerade die Arbeiter, nicht zurückstehen lassen wollen!«

Da lächelte er: »Ihr Vertrauen soll bei mir nicht zuschanden werden, Fräulein Hedwig. Also, sagen Sie dem Vater, ich werde den Vortrag halten. Das Thema werde ich ihm in einigen Tagen mitteilen.«

»Ich danke Ihnen,« gab sie ihm zum Abschied die Hand, »und freue mich schon sehr darauf.« Sie ging der Tür zu.

Da fragte er: »Haben Sie es so eilig, Fräulein Hedwig? Es wäre doch sehr nett, wenn Sie ein bißchen ablegten und ein Stündchen gemütlich mit mir verplauderten. Bei Ihnen zu Hause habe ich doch nie viel von Ihnen über all unseren politischen Debatten.«

»Gern,« willigte sie ein ohne Prüderie, »wenn ich Sie nicht störe.« Und legte Hut und Jackett vor dem Spiegel ab. Als sie mit raschen Griffen das braune Haar über der Stirn ordnete, musterte er ihre biegsame schöne Figur in dem hübschen schwarzen Kleide. Sie fing seinen Blick im Spiegel auf.

»Was ist?« fragte sie ein wenig verwirrt.

»Ich wundere mich,« gestand er, »daß Sie so schmuck gekleidet gehen.«

»Ja,« sagte sie mit hochgezogenen Brauen. »Wir müssen das wegen der Kunden. Es kostet Geld genug.« Dann wandte sie sich ins Zimmer zurück, und sich neugierig umblickend, lobte sie naiv: »Fein ist es bei Ihnen!« Stolz zeigte er die anderen Räume. Als sie dann in dem orientalischen Salon behaglich beisammen saßen und Friedrich den Lieblingswein des Hausherrn, den feurigen Tokayer, gebracht hatte, seufzte sie: »Ach, wer es so haben kann!«

Er tröstete: »Vielleicht kommt einmal die Zeit, da alle es so haben werden.«

»Ich werde es nicht erleben,« klagte sie. »Und meine Kinder auch nicht.«

»Nein,« stimmte er bedauernd zu. »Aber vielleicht unsere Urenkel.«

»Ach,« trauerte sie, »das ist für mich kein Trost.«

»Sie haben es doch ganz gut,« erwog er, »sind sehr hübsch und verständig. Sie werden sicher einen braven Mann finden.«

Da wurde ihr Gesicht ganz düster. »Herr Doktor, seit Sie zu uns kommen und über die Arbeiterbewegung reden, habe ich auch über so vieles nachgedacht. Über uns Mädchen aus dem Arbeiterstande, die in den vornehmen Geschäften arbeiten. Es ist so schlimm.«

»Die Löhne?« vermutete Lassalle.

Sie schüttelte den Kopf. »Das nicht allein. Das Seelische, wenn man es so nennen kann.«

»Erzählen Sie,« ermunterte er interessiert.

»Sehen Sie mal,« lehnte sie sich auf dem Taburet nach vorn über, »da kommen wir Mädchen aus den engen armen Stuben – es mag ja bei uns ganz ordentlich aussehen, aber eng und ärmlich bleibt es doch immer – wir kommen nun in diese vornehmen Geschäfte und hantieren den ganzen Tag mit feinen Linnen und Seide und Mousseline und probieren den Damen die feinen Kleider an und leben den ganzen Tag in diesen Spitzen und diesem Tand und dieser ganzen Welt der andern, die oft nicht besser und oft lange nicht so hübsch sind wie wir. Und da kommt solch dürre, häßliche, dumme Bourgeoistochter mit ihrem Bräutigam und sucht ihren Hochzeitsstaat aus. Und er ist ein feiner eleganter Mensch. Das tut doch weh.«

»Ich verstehe,« begriff Lassalle.

»Und da,« sie legte im Eifer die Hand auf Lassalles Arm, »da kommen so dumme Gedanken. Man guckt wie durch einen Spalt in eine andere, feine Welt. Und dann scheint einem am Abend zu Hause alles so ärmlich: der Tisch ohne Tischtuch, das Essen, die eigene grobe Wäsche, das harte schlechte Bett. Man kennt all das Feine, das die andern haben, zu gut. Und man kriegt selbst eine Sehnsucht nach dem Feinen. Ich meine nicht nur nach feinen Kleidern und so. Da drinnen meine ich.« Sie legte die Hand auf die Brust.

»Sprechen Sie nur weiter,« bat der Mann. »Das ist mir sehr wissenswert.«

Und sie beichtete weiter diese Not, die jung geblieben ist unter den jungen Verkäuferinnen der Berliner Bazare.

»Es färbt auf das ganze Fühlen ab, Herr Doktor.«

»Sie sprechen ja wie eine Dame,« lächelte er.

»Ja – das macht der Umgang mit ihnen,« bekannte sie. Und fuhr erregt fort: »Man kann die Männer zu Hause, die Arbeiter und alles so was, das für unsereinen als Mann in Betracht kommt, nicht mehr lieben. Sie kommen einem roh und plump vor. Man möchte auch einmal solche Dame sein, die in all dieser feinen Wäsche und diesen Spitzen und in diesen Röcken geht. Ich meine gar nicht wirklich. Man möchte aber nicht einem solchen arbeitsschwitzigen Manne gehören. Begreifen Sie? Man möchte einem Manne angehören, der fein und sauber und ein ›Herr‹ ist. So denken sehr viele von uns.«

»Ich verstehe das psychologisch sehr gut,« sann Lassalle und sah vor sich hin. Da gewahrte er plötzlich ihr hübsches, vom Sprechen belebtes Gesicht. Er rückte dicht an sie heran, nahm ihre Hand und lächelte schelmisch: »Ja, Fräulein Hedwig, ob wir diese soziale Frage nicht noch in unserer Zeit lösen könnten?« Und in alter Siegerlaune küßte er sie auf den lieben klugredenden Berliner Mädelmund.

Sie hatte ihn seit langem sehr lieb. Seit langem war dieser elegante sprühende Mann ihr das Urbild des »Herrn«. Und sie gab ihm freudevoll bedenkenlos ihre jungen Herrlichkeiten, wie ihre Enkelinnen noch heute geben und zu allen Zeiten geben werden, um in den Armen der »feinen Männer« als »Damen« zu schwelgen, ehe sie hinabsteigen in die engen kleinen Stuben der Handwerker, Portiers und Kleinkrämer, die ihren zerstreuten Schätzen dann das Asyl der Ehe bereiten.

Als sie, den Schimmer süßen schmerzlichen jähen Weibtums in den Augen, von ihm schied, bat sie: »Daß Vater nur ja nichts erfährt! Er würde mich totschlagen.« – –

– – In dieser Nacht tat Lassalles Lebenswerk den ersten lebendigen tiefen Atemzug.

In dieser Nacht, in der er die Tochter des vierten Standes ans Herz gepreßt hatte, schrieb er das »Hohelied des Arbeiterstandes«. Ihm galt nicht das Wort, das er Bucher entgegengestellt hatte: »entweder Zypernwein trinken und schöne Mädchen küssen oder aber alle Kraft der Verbesserung des Loses der unendlichen Mehrheit des Menschengeschlechtes weihen.« Seine ungebärdige Kraft vermochte beides. Er küßte sein Mädchen und stürzte sich aus seiner glücksbangen Umarmung in die bang beglückende Umschlingung seiner Lebenstat.

In der Hast seines Charakters hatte er sofort begonnen, über ein Thema für den Vortrag im Arbeiterverein zu sinnen. Da schlug die Geburtsstunde seines Messiastums erhaben feierlich, in erschütternder Heiligkeit. Plötzlich wuchs er aus seinem Schreibsessel empor, bleich, mit feuchten Seheraugen. So stand er lange Zeit in bebender Erkenntnis. Das war der Fingerzeig! Das war das Tor, das sein Geschick ihm gnadenvoll öffnete zu seiner Berufung. Dort, in dem Arbeiterverein, wollte er beginnen. Dort ihnen ihre Mission weisen. Dort sein Panier unter ihnen entfalten. Dort ihnen den Weg zeigen zur Freiheit!

Und ohne innezuhalten, ohne Überlegung, warf er in dieser Nacht die Grundzüge seines Vortrages. »Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsepoche mit der Idee des Arbeiterstandes«, seines »Arbeiterprogramms« nieder, das fortleben wird, solange es eine Arbeiterbewegung gibt in der Welt. Nicht wollte er ihnen gleich seine ganze Reform enthüllen. Nein, das hatte Zeit. Erst unter ihnen den Boden düngen, erst sie vorbereiten auf ihre weltgeschichtliche Rolle. Die reifen Früchte seiner jahrelangen Vorbereitung schüttete er ihnen in den Schoß, streng wissenschaftlich ging er zu Werke, klar, daß jedes Arbeiterhirn ihn verstehen konnte, setzte er die Schönheit seiner Sprache. Nach einem gewaltigen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung der modernen Arbeiterklasse verherrlichte er in begeisterndem Pathos die sittliche Idee des Arbeiterstandes.

Und er rüttelte an dem Selbstbewußtsein und dem Pflichtgefühl seiner Hörer:

»Für alle, welche zum Arbeiterstande gehören, folgt die Pflicht einer ganz neuen Haltung.

Nichts ist mehr geeignet, einem Stande ein würdevolles und tiefsittliches Gepräge aufzudrücken, als das Bewußtsein, daß er zum herrschenden Stande bestimmt, daß er berufen ist, das Prinzip seines Standes zum Prinzip des gesamten Zeitalters zu erheben, seine Idee zur leitenden Idee der ganzen Gesellschaft zu machen und so diese wiederum zu einem Abbilde seines eigenen Gepräges zu gestalten.

Die hohe weltgeschichtliche Ehre dieser Bestimmung muß alle Ihre Gedanken in Anspruch nehmen. Es ziemen Ihnen nicht mehr die Laster der Unterdrückten und die müßigen Zerstreuungen der Gedankenlosen noch selbst der harmlose Leichtsinn der Unbedeutenden. Sie sind der Fels, auf welchem die Kirche der Gegenwart gebaut werden soll!

Der hohe sittliche Ernst dieses Gedankens ist es, der sich mit einer verzehrenden Ausschließlichkeit Ihres Geistes bemächtigen, Ihr Gemüt erfüllen und Ihr gesamtes Leben als ein seiner würdiges, ihm angemessenes und immer auf ihn bezogenes gestalten muß. Der sittliche Ernst dieses Gedankens ist es, der, ohne Sie je zu verlassen, vor Ihrem Innern stehen muß in Ihrem Atelier, während der Arbeit, in Ihren Mußestunden, Ihren Spaziergängen, Ihren Zusammenkünften; und selbst, wenn Sie sich auf Ihr hartes Lager zur Ruhe strecken, ist es dieser Gedanke, welcher Ihre Seele erfüllen und beschäftigen muß, bis Sie in die Arme des Traumgottes hinübergleiten. Je ausschließender Sie sich vertiefen in den sittlichen Ernst dieses Gedankens, je ungeteilter Sie sich der Glut desselben hingeben, um so mehr werden Sie wiederum – dessen seien Sie sicher – die Zeit beschleunigen, innerhalb welcher unsere gegenwärtige Geschichtsperiode ihre Aufgabe zu vollziehen hat, um so schneller werden Sie die Erfüllung dieser Aufgabe herbeiführen.

Wenn unter Ihnen, meine Herren, die Sie mir heute zuhören, nur zwei oder drei wären, in welchen es mir geglückt wäre, die sittliche Glut dieses Gedankens zu entzünden, in jener Vertiefung, die ich meine und Ihnen geschildert habe, so würde ich das bereits für einen großen Gewinn und mich für meinen Vortrag reich belohnt betrachten.«

Der Morgen glitt bleich über den Tisch, als er mit den Worten endete:

»Von den hohen Bergspitzen der Wissenschaft aus sieht man das Morgenrot des neuen Tages früher, als unten im Gewühl des täglichen Lebens.

Haben Sie, meine Herren, einen Sonnenaufgang von einem hohen Berge aus gesehen?

Ein Purpursaum färbt rot und blutig den äußersten Horizont, das neue Licht verkündend, Nebel und Wolken raffen sich auf, ballen sich zusammen und werfen sich dem Morgenrot entgegen, seine Strahlen momentan verhüllend – aber keine Macht der Erde vermag das langsame und majestätische Aufsteigen der Sonne selbst zu hindern, die eine Stunde später, aller Welt sichtbar, hell leuchtend und erwärmend am Firmamente steht.

Was eine Stunde ist in dem Naturschauspiel eines jeden Tages, das sind ein oder zwei Jahrzehnte in dem noch weit imposanteren Schauspiel eines weltgeschichtlichen Sonnenaufganges.« –

Er legte die Feder nieder und trat befreit, hoffnungzitternd an das offene Fenster. Das hohe Lied des Arbeiterstandes war gedichtet. Über den Gärten hob sich die Sonne in den Frühlingshimmel. Verklärt stand der Mann im Morgenrot des neuen Tages.


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