Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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III.

Es ging auf sieben, als Lassalle seine langwierige Toilette beendete. Er stand vor dem hohen Wandspiegel, in dessen Glas das ruhig stehende Licht zweier Kerzendolden sich brach, die aus vielarmigen Bronzeleuchtern zu beiden Flanken des Spiegelrahmens emporwuchsen.

Der Doktor hatte soeben den neuen Frack angezogen und prüfte mit sachverständigen Augen den Sitz. Befriedigt strich er über den kleinen dunkelblonden Schnurrbart. Das feine schwarze Tuch des Rockes schloß sich schmiegsam seiner vornehmen Gestalt an. Er lächelte sacht, während er von der Konsole des Spiegels das seidene Taschentuch aufnahm, das Friedrich bereitgelegt hatte. Er sah sich in die zwingenden blauen Augen und dachte an die Antwort, die er vor einigen Tagen einer Dame gegeben, die ihn mit schmachtendem Liderschlag den geistreichsten und den schönsten Mann seiner Zeit genannt hatte. »Den Ruhm des ›Geistreichsten‹,« hatte er erwidert, »schlage ich nicht allzu hoch an, aber daß ich der schönste Mann meiner Zeit war, das soll man mir auf meinen Grabstein schreiben.« Was würde Marie gesagt haben, wenn sie diese Antwort gehört hätte! Sich nachsichtig belächelnd, schritt er zu dem marmorschimmernden Waschtisch hinüber, auf dessen Aufsatz eine wohlversorgte Batterie kristallener Flaschen und Fläschchen funkelte. Zögernd wählte er eines der Flakons und dachte trotzig: »Ist körperliche Schönheit nicht auch eine Gabe wie der Geist! Ist es keine frohe Schicksalsgüte, schon äußerlich so zu wirken, daß man in keinen lichter-strahlenden Salon eintreten kann, ohne alle Anwesenden zu verdunkeln und mit magnetischer Gewalt aller Augen zu bannen!«

Und während er das diskret duftende Parfüm auf das Taschentuch stäubte, sann er: »Alle Genies waren schöne Menschen: Alexander, Napoleon, Goethe, der junge Friedrich – –« Vor dem Spiegel barg er das Tuch malerisch in den Ausschnitt der seidenen lila Weste.

Und Friedrich, der just die Alltagskleider des Herrn in den Mahagonischrank einordnete, schmunzelte vor sich hin: »Er macht Toilette, als ginge er zum verliebtesten Rendezvous, dabei ist es nur ein Herrenabend.«

Lassalles scharfen Augen war der flüchtige Spott nicht entgangen. Sein durchdringender Verstand faßte sofort die Ursache. Im Hinausgehen blieb er vor dem jungen Diener stehen und sagte lehrhaft: »Merken Sie sich, Friedrich, ein kultivierter Geschmack schmückt sich nicht für die andern, sondern für sich.« Damit verließ er das Schlafzimmer. Verdutzt blickte der Diener ihm nach.

Der Doktor durchschritt das gemütliche kleine Wohnzimmer mit seinen schön geschwungenen rotplüschenen Polstermöbeln, dem hochlehnigen breiten Kanapee, den tiefen Sesseln, mit der Uhr im vergoldeten kunstvollen Rahmen, den Pastellbildern seiner Familie, und trat in den Salon. Er war ihm der Erinnerungstempel seiner Orientreise und eine kindlich stolze Genugtuung dadurch geworden, daß er in ganz Berlin nicht seinesgleichen hatte. Der Doktor betrachtete mit geheimnisvollem Lächeln diese orientalische Pracht. Welche drolligen Szenen würden heute diese hundertjährigen schwerglänzenden Gebetteppiche, diese kostbaren Fenstervorhänge, die niedrigen türkischen Divans mit ihren gestickten Seidendecken, all diese Etageren, Tische und Taburetts mit ihren kunstreichen Inkrustationen sehen! Und all dieser Krimskrams, der überall herumlag: Amuletts, Dolche, Bronzen, Schalen. Oh, das Berlin seiner Kreise erwartete nicht vergeblich stets irgendeine geistreiche oder burleske Überraschung von einem Lassalleschen Souper! Nun, Berlin würde zufrieden schmunzeln, wenn der heutige Herrenabend sich in allen Häusern der guten Gesellschaft herumsprach.

Sorgfältig prüfte der Hausherr das Rauchzeug: die feinen Nargilehs mit ihren bunt-kristallenen Gefäßen, die langen türkischen Pfeifenrohre mit ihren kostbaren Bernsteinspitzen, den Ebenholzkasten mit dem narkotisch-duftenden Tabak.

Befriedigt begab er sich in sein Arbeitszimmer.

Es fehlten noch fünf Minuten zu sieben. Lassalle trat an das breite Fenster, das auf die Potsdamer Straße hinausging. Die übrigen Zimmer der Wohnung lagen nach der vor wenigen Jahren bei dem Bau des Hauses durchgebrochenen Eichhornstraße.

Das Trottoir dort unten reckte die winterkahlen Äste seiner Bäume weißbepudert von frischem Schnee zu dem Manne am Fenster hinauf. Um die spärlichen Gaslaternen braute die Kälte blau und gelbrot. Der Fahrdamm war ganz vereinsamt. Auf dem Bürgersteig eilten Familien- und Freundesgruppen dahin, warm in mollige Pelze und flauschgefütterte Kapotten vermummt, dem Potsdamer Tore zu. Der Sonntag nachmittag hatte das Berliner Volk zu den zahlreichen Biergärten vor das Tor gelockt, in deren engen Zimmern man dicht und gemütlich beim Kaffee und Bier und Stadttratsch beisammen saß.

Lassalles Augen wanderten über die Straße hinüber zur Villa des Verlegers Franz Duncker. Aus einem schmalen hohen Fenster leuchtete Licht gegen die feucht beschlagenen Scheiben. Das war das gemütliche Kabinett der Hausfrau, in welchem Lina Duncker ihre Vertrauten zu traulichem Geplauder und stillem gemeinsamen Genuß einer guten Lektüre empfing.

Erst gestern nachmittag hatte Lassalle dort gesessen und der klugen feinen fixen Frau den »Rasenden Roland« gelesen.

Lange blickte der Mann am Fenster hinüber zu dem Hause, das dalag still und geborgen, umfriedet von dem Weiß des Vorder- und Hintergartens. Und plötzlich keimte in ihm ein dunkles Gefühl der Feindschaft auf, eine dumpfe Ahnung der Gegnerschaft gegen dieses geruhigte selbstsichere Bürgerheim dort drüben mit seinem heiter-hellen Fenster.

Der Mann horchte in sich hinein auf diese ahnungsvolle Stimme. Seine Züge strafften sich, unwillkürlich ballten sich die Hände. Er preßte die heiße Stirn gegen die kühlende Scheibe. Ja – ja, dachte er, wir werden sehen, wie Ihr alle dort drüben, Ihr guten Freunde, zu mir stehen werdet, wenn es in den Kampf um die Freiheit geht.

Da setzte die Marmoruhr mit geschwätzigem Schlage ein. Zugleich schnellte draußen im Korridor emsig die Glocke an ihrer hastenden Feder. »Das ist Korff,« nickte Lassalle, raffte sich gewaltsam aus seinem grollenden Brüten und trat in die Mitte des Zimmers.

Draußen rasselte hell ein Säbel, man hörte, wie er am Boden aufklirrte, als die Koppel gelöst wurde, und gleich darauf trat ein schöner schneidiger Prachtkerl in der blauen Uniform der zweiten Dragoner sporenklirrend ein.

»Guten Abend, mein lieber Baron,« schüttelte der Hausherr ihm herzlich die Hand. »Immer militärisch pünktlich.«

»Wenn Kleider Leute machen, so macht des Königs Kleid pünktliche Leute,« lachte der Rittmeister und zeigte eine Kolonne herrlicher Zähne unter dem blonden Schnurrbart. »Übrigens herzlichen Dank, lieber Doktor, für die freundliche Übersendung Ihres Heraklit und die famose Widmung.«

Während die Herren sich setzten, fragte Lassalle eifrig:

»Haben Sie hineingeguckt, lieber Baron?«

»Hineingeguckt! Wort für Wort habe ich das Buch gelesen. Und meine helle Freude an Ihnen gehabt. Sie sind ein Mordskerl, Doktor. Diese Schärfe der Dialektik! Wie eine blitzende Toledanerklinge, geschmiedet freilich in der guten alten Berliner Hegelschmiede.«

»Ja,« stimmte Lassalle bei, »ich bin stolz darauf, in der Geistesschmiede des alten Hegel Lehrbursche gewesen zu sein.«

»Ihr oller Grieche gefällt mir.« Der Baron streckte forsch die langen Beine von sich. »Das ist ein Ganzer. Übrigens Ihr Urahne, Doktor. Einiges habe ich mir wörtlich gemerkt. Der eine Satz klingt wie in Ihrem Brutofen geschmort: ›alle Menschen sind unvernünftig, nur ich allein weiß, während alle anderen wie im Schlafe handeln‹.«

»Nun – nun,« machte Lassalle. »Ganz so monopolsüchtig bin ich nicht. Wenn ich mein Selbstbewußtsein auch als mein Steckenpferd reite, bei der Gardekavallerie bleibe ich damit doch im Hintertreffen.«

»Feine Parade,« lachte der junge Offizier, »Sie sind –«

Da schnatterte die Glocke wieder.

»Der Garde folgt die Linie,« scherzte Lassalle und ging dem schnurgeraden hochragenden alten Manne, der eben eintrat, zur Tür entgegen. Es war der Hofrat Dr. Friedrich Foerster. Ihm folgten auf dem Fuße der Dichter Scherenberg und Ernst Dohm, der Redakteur des Kladderadatsch.

Als die Begrüßung beendet war und die Herren in den bequemen Polsterstühlen saßen, huschte noch der Maler Ludwig Pietsch herein.

Der alte Hofrat streichelte mit der zärtlich gepflegten Hand sein schwungvoll frisiertes volles silbergraues Haar und seufzte: »Gottlob, bei Ihnen ist's warm. Draußen ist eine Hundekälte, trotz der heißen Begeisterung, die der überquellenden Volksseele entdampft.«

»Waren Sie in der Stadt, Herr Hofrat?« fragte Ludwig Pietsch artig interessiert. Seine lebensfrohen Augen funkelten die aufpeitschende Frische des eisigen Wintertages. Doch um die Nasenwinkel, oberhalb des dichten Vollbartes, verrieten einige tiefschürfende Sorgenfalten den bitter verzweifelten Kampf, den der mittellose junge Maler um das karge tägliche Brot für seine schöne Frau und seine Kinder gekämpft hatte und noch rang.

»Ja,« nickte der schöne Hofrat und wandte Pietsch die blauen Augen zu, »war Unter den Linden. Die Illumination brannte zur Probe, und die Volksbegeisterung desgleichen.«

»Aber Hofrat!« mimte Lassalle Entrüstung, »nun habe ich mich den ganzen Nachmittag auf ein bißchen echte schwarz-weiß lackierte Begeisterung gefreut! Von Ihnen als königlichem Beamten können wir Steuerzahler offizielle Begeisterung geradezu fordern.«

»Sonntags habe ich keinen Dienst,« belehrte mit altmodischer Zuvorkommenheit der Hofrat.

»Nanu!« Korffs Sessel wippte ordentlich auf.

»Ha,« lachte Lassalle und streckte die lebensvolle Hand ausgelassen von sich, »ein spannendes Farbenphänomen. Unserem Korff ›graut‹ vor der Schwärze dieser roten Gesinnung!«

Und ehe der Baron beruhigende Versicherungen über die Couleur seines Seelenzustandes abgeben konnte, funkelten Dohms blitzende Brillengläser dazwischen:

»Foerster hat doch unwiderleglich recht: Sonntag ist kein Dienstag.«

Mit einer zierlichen Bewegung, die eigenartig fein zu dem liebevoll frisierten grauen Haare paßte, reichte der Hofrat dem Redakteur die kleine weiße Hand: »Der Kladderadatsch hat, wie immer, recht.« Stumm, fest in seinen abgetragenen schwarzen Gehrock gewickelt, saß während des Gesprächs der Dichter Scherenberg in seinem tiefen Sessel.

Sein glattrasiertes knorriges Gesicht war unbewegt, die tiefliegenden grauen Augen unter der breiten edlen Stirn blickten nach innen, als sähen sie nicht die scherzende Herrengruppe ringsum. Der alternde berühmte Dichter von »Waterloo« und »Leuthen«, der Schilderer zahlloser glorreicher preußischer Schlachten, war kein Held im Wortscharmützel.

Aber er kam gern in diesen skeptischen witzfunkelnden Kreis, er, den die Reaktion als ihren Dichter beschlagnahmte, zu dem berüchtigten Revolutionär von 48, angezogen von dem seltsamen Reiz, den des Hausherrn Wesen übte auf Freund und Feind.

Als Pietsch jetzt den Dichter seinen Ruhm würdevoll in dem schäbigen alten Rocke bergen sah, öffnete er mutig die Knöpfe seines Kammgarn-Festkleides, dessen »glänzendes« Exterieur ihn ein wenig bedrückte, und dessen innere kunstvolle Mosaikarbeiten er sorgsam unter Verschluß gehalten hatte. – Ach, wie oft hatten Frau Pietschens kundige Hände das Futter in jenen Tagen geflickt, da sie anderes Futter manchmal tagelang kaum vor Augen bekam, damit er bei seinen Bittgängen um Arbeit honorig auftreten könne. – Pietsch öffnete den Rock und offerierte behaglich: »Lieber Lassalle, wenn Sie durchaus Begeisterung brauchen, stelle ich Ihnen die meine zur Verfügung. Ich bin begeistert. Nie war für mich wahrer das englische Wort: Zeit ist Geld. Diese Zeit des Jubels ist für mich bares Geld. Ich bin im Interesse des leeren Portemonnaies der deutschen Maler sehr für Ehebündnisse zwischen Preußen und England. Schade, daß wir nicht mehr Prinzen vorrätig haben. Na, vielleicht wird das mit der Zeit noch mal besser. Denn dann spitzt Frankreich plötzlich die Ohren. Und beauftragt einen armen Maler wie mich mit einer Kolossalzeichnung des morgigen Einzuges für die ›Illustration‹.«

»Für Sie ist die Hochzeit des Prinzen Friedrich Wilhelm also eine goldene Hochzeit,« lachte Dohm, daß sein rundliches Bäuchlein wippte.

Da sprach zierlich der Hofrat: »Verehrter Herr Pietsch, ich sehe, Sie betrachten diese eheliche Verbindung des Prinzen mit der Prinzessin Victoria als Realpolitiker. Ich auch. Und ich hoffe, daß durch den freiheitlichen englischen Einfluß die neue Ära nun ernsthaft einsetzen wird –« er wurde jäh grimmig – »und die Zeit dieser gottverdammten Reaktion –«

»Hofdemagoge!« entsetzte sich Lassalle drollig, »was reden Sie da für gefängnisschwangeres Zeug! Hat Sie Ihre Strafversetzung von der Königlichen Kunstkammer in die Königliche Bibliothek noch nicht kuriert!«

»Leider unheilbar veralteter Fall,« lachte der alte Herr, »gegen mich ist in der Königlichen Reaktionsapotheke kein Kraut gewachsen.«

»Von welchem Kraute ist die Rede?« fragte eifrig höflich Dr. Prietzel, der Botaniker und Kustos der Königlichen Bibliothek, der leise eingetreten war.

»Von dem Zauberkraut, mit dem der ›weiße Schrecken‹ des Herrn von Hinckeldey und seiner Nachfolger die Gegner bekehrt,« belehrte Lassalle.

»Ach so,« machte Prietzel, »Sie sprachen von blauen Bohnen!«

»Aber nicht doch!« kam es da aus Scherenbergs Stuhl, so laut und überzeugt kräftig, daß alle hell auflachten. Der Dichter von Waterloo blickte ganz erstaunt aus seinen grauen Lichtern.

Da schellte es durchdringend, als verübe jemand ein erfolgreiches Attentat auf den Drahtzug der Klingel. Unwillkürlich horchten alle hinaus. »Das ist Bülow,« prophezeite Korff, »so fortissimo animato singt nur ein Musiker das Lied von der Glocke.«

In wilder Hast sprang Dohms untersetzte proppere Leiblichkeit vom Stuhle, eilte spornstreichs zu dem Bechsteinflügel in der Ecke des Zimmers hinüber und begann mit gewaltiger Muskelkraft den Einzugsmarsch aus dem zweiten Akt des »Tannhäuser« zu pauken.

In die heimtückische erwartungsfrohe Spannung der Gesellschaft hinein platzte die Tür; im Hut und Mantel, einen Riesenschal um den Hais gewunden, stand der sechsundzwanzigjährige Hans von Bülow im Türrahmen, die kleine Gestalt vorgereckt, die scharfen Augen grimmfunkelnd, den charakteristischen Ziegenbart vor Wut gesträubt, und schrie: »Fis, Mann! Fis!! Sie spielen fortwährend F!«

Ein johlender Jubel erbrauste, hochgemut umrahmt von Dohms Wagnergetöse.

Inzwischen befreite Friedrich den quecksilbrig vor Ungeduld zappelnden Pianisten von seiner Umhüllung. Kaum war er den Ärmeln des Pelzes entronnen, stürmte er zu dem Flügel hinüber und schmetterte ohne Rücksicht auf Dohms tobsüchtige Hände den Deckel des Instrumentes nieder.

»Du läßt das!« herrschte er den Freund an. »Ihr, du und deinesgleichen, seid schuld, wenn der Meister nicht durchdringt. Wie kann einer ihn verstehen, wenn ein Pfuscher sich hinsetzt und immer F spielt statt Fis!«

Dohms lustige Augen lachten durch die Brillengläser: »Lieber, wenn mein F allein deinem Propheten im Wege stände!«

»Dein F ist typisch,« ereiferte sich Bülow. »Es zeigt –«

»Nun hören Sie bloß auf, junger Mann,« hob der alte Foerster abwehrend die Hände. »Bei dieser Musik –«

»Musik,« fing Prietzel auf, »das nennen Sie Musik! Hofrat! Diesen Bombast, diesen Phrasenschwulst, diesen Tataren-Radau-Tamtam!«

Bülow schnaubte vernehmlich, seine kleine kampfbrünstige Gestalt reckte sich. Doch ehe er erwidern konnte, rief Lassalle: »Aber Prietzel, Junge, hast du kein Ohr für dieses hinreißende Pathos Wagners, für diese gewaltige Deklamation, für diese deutsche Wucht und Zartheit und urwüchsige Kraft!« Er stand da, vor Begeisterung sprühend.

»Bravo,« sekundierte Pietsch enthusiastisch.

Jetzt stand alles und rief durcheinander.

»Entsetzlich,« schüttelte sich der Hofrat.

»Paris hat ihm die Antwort Europas auf seine Zumutung erteilt,« frohlockte Dr. Prietzel.

»Wenn er sich rechte Mühe gibt und noch etliches zulernt,« gönnerte Korff, »kann er vielleicht einmal einen brauchbaren Regimentsmarsch zusammenschreiben.«

Scherenberg, der allein sitzen geblieben war, flüsterte mit versunkenen Augen: »Meyerbeer.« Es klang wie ein erlösendes Zauberwort.

Bülows Bart zitterte. Er fuchtelte mit seinen aderreichen genialen Händen und sprach wild auf Dohm ein: »Ich sage dir, Wagner ist der deutscheste Musiker, der je gelebt hat. 1849, als Liszt den Lohengrin in Weimar –«

»Paris – Paris!« hißte Prietzel sieghaft seine Fahne.

»Paris!« spießte Bülow die Herausforderung wie auf der Spitze eines Floretts auf, »wollen Sie etwa behaupten, daß dieser Tobsuchtsanfall gegen Wagner in Paris –«

»Allerdings,« betonte der Hofrat. Und jeder sprach wieder heftig auf seinen Spezialgegner ein.

Zwei Parteien klafften jäh auseinander.

Da stand plötzlich mitten unter den Fehdenden eine aufrechte hohe Gestalt mit langem, schlohweißem vollen Haar, das seltsam gegen das militärisch straffe Gesicht abstach. General von Pfuel, der Siebenundachtzigjährige, der ewig junge Ungebrochene blickte mit seinen klaren blauen Augen belustigt in den wogenden Streit.

Man bemerkte ihn erst, als er mit kräftiger Kommandostimme dazwischenwetterte:

»Alcibiades, ist das Ihre heurige Überraschung, daß Sie uns uns gegenseitig zum Schmause vorwerfen? Herr von Bülow ist gerade dabei, Dr. Prietzel menschenfresserlich zu behandeln.« Damit reichte er dem Hausherrn die eisenfeste Hand.

Da verstummte alles zur Begrüßung. Dohm aber rief wie ein Heerrufer: »Exzellenz, Sie kommen als Retter in der Not. Ein 48 der Musik! Dort, Herr Hofrat Foerster und Genossen bilden den vormärzlichen Musikstaat, hier Bülow, Lassalle, Pietsch und ich schwingen die rote Fahne der Revolution. Wir erwarten von Ihnen, der Sie einst für den Antrag gestimmt haben, dem revolutionären Wien zu Hilfe zu ziehen, daß Sie jetzt auch uns zur Hilfe eilen. Ich verpfände mich und meinen Namensvetter, den Kölner Dom, für ein lorbeerumrahmtes Bild im Kladderadatsch.«

Da drohte Prietzel mit seiner schönen guten Stimme und einem feinen Lächeln: »Ich sag's der Kreuzzeitung!«

Alles lachte und dachte daran, daß die Kreuzzeitung das achtundvierziger Ministerium des Generals »das Ministerium der Schande« genannt hatte.

Der aufrechte junge Greis besah sich der Reihe nach die kampferhitzten Gesichter.

»Kinder,« schmunzelte er, »habe heute früh wie jeden Tag in der Spree gebadet. Loch ins Eis hacken lassen. Scheint mir ausgezeichnetes Lokal für 'ne Wagnerdebatte, so'n Eisloch. Empfehle ich euch dringend.«

Da rief Lassalle: »Ausgezeichnete Idee, Exzellenz. Dann werden die Herren dort drüben doch nicht so unverfroren auftreten.«

»Bravo,« erkannte Korff ritterlich an. »Aber jetzt geben Sie uns unser abendlich Brot, Lassalle. Ich befinde mich nämlich in der oktroyierten Verfassung des Verhungerns.«

Man lachte, sofort umgestimmt, und Lassalle überzählte seine Gäste. »Duncker fehlt noch,« stellte er fest.

»Natürlich,« rief Foerster, »der lange Weg entschuldigt –«

»Frau Lina!« hob Dr. Prietzel den Zeigefinger.

»Pst, pst, lästern Sie nicht,« dämpfte Lassalle drollig, »es ist mein Verleger.«

»Meiner auch,« beteuerte Pietsch.

Doch Dohm hatte schon das Fenster geöffnet, eine eisige Luft schnitt in das warme Zimmer, und mit mächtiger Stimme rief der Mann des Kladderadatsch durch die zum Schallrohr gerundeten Hände über die jetzt ganz einsame Potsdamerstraße:

»He, Duncker – Du-uncker!«

Alle traten zum Fenster und blickten hinüber zu der stillen Villa. Da sprang Duncker schon die Treppen zum Vordergarten hinab. Eine schmächtige Gestalt eilte vor ihm her. Er winkte hinauf und verabschiedete sich von seinem Begleiter.

»Beeilen Sie sich,« rief Korff hinunter, »wir schreien nach Brot wie die schlesischen Weber.«

Die schlanke Gestalt eilte über den Fahrdamm.

»Empfangen wir ihn mit der Jubelouverture,« schlug Förster vor. Und während Webers jauchzende Klänge unter Bülows Meisterhänden hervorrauschten, trat der Verleger ein.

Stumm blieb er in der Tür stehen, den unverhältnismäßig großen haarumwallten Kopf mit dem üppigen braunen Vollbart verklärt lauschend vorgebeugt. Als Bülow mit einem selbstherrlichen Akkord schloß, beugte er scherzhaft demütig das packende Gesicht und sagte: »Verzeihen Sie, meine Herren, daß ich Sie dem Hungertode ausgesetzt habe. Vielleicht kann Sie das aber trösten, daß meine Verzögerung höchstwahrscheinlich einen talentvollen jungen Dichter vom Hungertode errettet hat.« Und während ein feines Lächeln um die gewaltige kühne Nase zuckte, begrüßte er einzeln die Herren.

Dann trat Lassalle in die Mitte des Zimmers und sagte mit harmloser Miene: »Meine Herren, darf ich Sie in den Rauchsalon bitten.« Und öffnete die kleine Tapetentür.

»Nanu,« scheute Korff, der der Tür am nächsten stand, zur allgemeinen Belustigung entsetzt zurück.

»Erst Schall, jetzt Rauch. Und Essen?!«

»Bitte,« lud Lassalle mit steifen Zügen ein. Nur die blauen Augen flackerten vielverkündend.

»Ihr, die Ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung hinter euch,« murmelte Dr. Prietzel und durchschritt die Pforte.

»Hören Sie, Alcibiades,« runzelte der General die durchfurchte Stirn, »daß Sie Gesellschaftsumstürzler sind, wissen wir. Das ist nicht schlimm. Wenn Sie aber die Speisenfolge umstürzen und mit der Zigarre anfangen wollen, dann sind Sie ein Mensch, mit dem ein königstreuer Mann nicht mehr verkehren kann.«

Geheimnisvoll trat Lassalle als letzter ein und schloß hinter sich die Tür. Dann stellte er sich in den Kreis der gespannt forschenden Augen und sprach: »Meine Herren, das Volk draußen hat heute seinen Rausch. Es träumt von Freiheit und Hohenzollernliebe. Wir Skeptischeren, die wir nicht glauben, daß die Heirat eines Prinzen uns allen den Himmel auf Erden bescheren wird, wir würden ohne Rausch ausgehen, wenn es nicht außer königlichen Familienfesten noch andere Mittel gäbe, auch uns einmal aus dem Elend unserer Alltagsmisere in lichtere Höhen zu erheben.«

»Was mag nur wieder dahinterstecken?« kribbelte Bülow.

»Auch für uns, meine lieben Gäste, gibt es ein Mittel, uns zu berauschen, wenn wir es auch freilich noch weiter herholen müssen, als das Volk da draußen seine britische Königstochter.«

»Hm,« summte Dohm, »etwas Gutes kann es also nicht sein, denn das Gute liegt ja nah.«

»Psch, psch,« rief erwartungserregt der Chorus.

»Wir wollen uns berauschen, meine Herren. Unser Freund Heinrich Brugsch, der berühmte Archäologe, der leider ebenso wie unser allverehrter Herr Geheimrat Varnhagen von Ense heute am Erscheinen in unserer Mitte verhindert ist, hat uns das Mittel aus dem fernen Orient verschafft.«

»Doch nicht etwa eine Odaliske oder Bajadere!« rief Pietsch mit lüstern funkelnden Augen.

Alles lachte, und Korff neckte: »Unser lieber Pietsch schwelgt schon auf dem west-östlichen Divan.«

Und prompt zitierte Foerster vor sich hin:

»Und zu des Lagers vergnüglicher Feier
Bereiten den dunklen behaglichen Schleier
Die nächtlichen Stunden das schöne Gespinst.

»Nein,« fuhr Lassalle fort, schalkumwittert, »es ist zwar eine Art Götterrausch, den ich Ihnen bereiten will. Sie sollen hinaufgeführt werden über die Schranken Ihres Lebens. Aber, mein lieber Pietsch, den Gott und die Bajadere wollen wir hier doch lieber nicht als lebendes Bild stellen.«

»Spanne uns nicht auf die Folter,« flüsterte Prietzel ganz erregt. In allen Augen glitzerte die Neugier.

»Brugsch hat mir aus Persien –« Wieder machte Lassalle eine wohlberechnete Kunstpause. Es bereitete ihm ein satanisches Vergnügen, die Geduld der Gäste auf das Prokrustesbett zu schnallen.

»Nun los – los!« drängte Korff.

»Protzen Sie endlich ab!« kommandierte der General.

»Gemach, meine Herren, gemach, ich bin ja schon dabei, es Ihnen zu sagen, so schnell ich nur kann,« hielt Lassalle sie behaglich schäkernd hin und weidete sich an der aufgewühlten Neugier, die ihn unverhüllt aus acht Augenpaaren anstarrte. Jeder wußte, es mußte etwas Unerhörtes sein, wenn Lassalle solches Wesen davon machte.

»Brugsch hat mir aus Persien – « er blickte in eitlem Triumph jedem einzelnen langsam ins Gesicht – »Haschisch besorgt.«

Hellauf züngelte die lang zurückgedämmte Erregung. Alle riefen durcheinander. Was? Haschisch? Wir sollen Haschisch rauchen? Herrlich! Göttlich! Scheußlich! Ich bin doch in keine chinesische Opiumhöhle geraten!

Lassalle stand unbeweglich mit imperatorisch gekreuzten Armen, ein rocher de bronce in dem Aufruhr.

»Ist es nicht gefährlich?« erkundete endlich Foerster.

»Unsinn,« ereiferte sich Bülow. »Ein genialer Einfall, Lassalle. Schade, schade, daß ich vor wenigen Stunden etwas gegessen habe. Man müßte ganz nüchtern sein, um den vollen Genuß zu haben. Macht aber nichts. Los, los. Wo haben Sie das Zeug?«

Auch Dunckers Augen glänzten. »Das nenne ich mir eine Überraschung,« freute er sich in seinem behaglichen Phlegma. »Haschischrausch! Kinder, paßt auf, ich werde mich in einen Harun Al Raschid hineinträumen und Tausende beglücken.«

»Ich werde Napoleon und leite Austerlitz.« beschloß Korff.

»Ich möchte träumen, ich wäre zwanzig,« sagte der General, und sein herbes Gesicht löste sich auf, weich und lind.

Einige waren bleich geworden. Doch sie scheuten sich, ihre Furcht zu verraten. Nur Scherenberg lehnte ab: »Ich danke Ihnen herzlich, verehrter Herr Doktor, für Ihre außerordentliche Aufmerksamkeit. Ich möchte aber bitten, mich ausschließen zu dürfen.«

Die Beherztesten protestierten heftig: »Nicht desertieren – mitgefangen – mitgehangen! Sie, der Dichter des preußischen Heldentums, werden doch nicht kneifen!« Und Lassalle erwog: »Herr Scherenberg, gerade Sie als Dichter müßte es doch reizen. Denken Sie an die mühelose Inspiration.«

Doch Scherenberg entgegnete fest und schlicht: »Mich inspirieren preußische Trommeln und klingendes Spiel, das den stürmenden Kolonnen voranschreitet, und flatternde Fahnen. Orientalischer Sinnenrausch ist meiner Kunst fremd.«

Da schwiegen alle, und Lassalle bat liebenswürdig: »So nehmen Sie dort in dem Stuhle Platz und erzählen Sie uns, wie wir uns aufgeführt haben. Und noch eins, meine Herren! Jeder von uns verpflichtet sich, nachher wahrheitsgemäß seine Traumerlebnisse zu berichten. Sie wissen wohl, daß der Rausch sehr schnell verfliegt, ohne jede katzenjämmerliche Nachwirkung.«

»Ja doch – ja doch!« trieb Bülow. »Geben Sie das Götterzeug nur endlich heraus!«

»Erst Platz nehmen,« gebot Lassalle.

»Auf das Sofa, das ich hier herein habe schaffen lassen, kommen zwei. Ihr beide, du, Prietzel und Dohm. Ihr werdet euch vertragen. Habt doch schon zusammen in Breslau die Schulbank gedrückt. Auf die beiden Divans bitte ich Sie, Exzellenz, und Sie, Hofdemagoge. Wir anderen machen es uns auf den Polstersesseln bequem. Man kann sich auch in ihnen recht gut hinlegen, wenn man die Beine kräftig von sich streckt.«

Die Gesellschaft nahm die angewiesenen Plätze ein, die einen hastig, erwartungsfiebrig, die andern bleich, erwartungsbang.

Die langen türkischen Pfeifen waren bereits gestopft. Jeder erhielt eine. Lassalle ging herum und reichte Feuer. Als der Tabak knisternd aufquoll und ein leichter blauer Rauch mit einem starkwürzigen narkotischen Duft untermischt durch das Zimmer zu ziehen begann, entnahm Lassalle einer Schachtel kleine weiße Pastillen und legte jedem ein Stückchen auf den leis prustelnd glimmenden Tabak.

Dann setzte auch er sich und nahm die Pfeife zwischen die Zähne.

Zunächst herrschte tiefes Schweigen. Jeder sog, emsig hastend oder furchtsam zögernd, das Haschischaroma ein.

Stumm, mit nach innen gekehrten Augen, saß der Dichter.

Dann rief Dohm: »Ich merke nichts.«

»Stille,« gebot Korff, »stören Sie nicht den Betrieb.«

Und alles sog am Rohre. Die Luft ward dick von grauen Rauchschwaden.

Ein schwüler, schwerer, süßlicher Duft lag über den Köpfen.

Und dann wurde das Ziehen an den Bernsteinspitzen mählich weniger stürmisch, hier setzte einer ab, dort erlosch der ausgebrannte Tabak – die Pfeifen entsanken den Händen – hier polterte eine zu Boden, dort glitt eine sacht auf den seidenen Gebetteppich – die Köpfe taumelten hintenüber – die Luft war treibhausdunstig, unheimlich, vibrierend und spannungsgeladen.

Und da hob Bülow den markanten Kopf mit fahlbleicher Stirn von dem Polster, auf das er zurückgesunken war, die Augen wurden weit, weit und leuchtend, jeder Zug in dem Gesicht spannte sich in verklärtem Lauschen. Die Lippen lächelten in weltentrückter Verzückung. Die Erde trug ihn nicht mehr. Auf purpurnen Wolken lag er mit gelösten Gliedern hingestreckt wie in einem Blumenhag, leise wiegend trieben sie im Äther dahin über Länder und Meere, durch linde rosenduftige Lüfte, und rings um ihn her erklang Sphärenmusik, wehten beglückende, freudentränenlösende Harmonien, wie sie nie ein irdisches Ohr vernommen. Und in trunkener Begeisterung sang er plötzlich laut hinaus in den dicken Qualm, was ihm die Brust dehnte vor taumelig-seligem Entzücken.

Scherenbergs graue Augen wandten sich erstaunt dem Sessel zu, aus dem ein seltsames Geheul erdröhnte. Doch keiner der andern hörte es. Sie trieben längst alle in wundersamen Welten.

Lassalle lag ganz still in seinem Stuhle. Er empfand ein unendlich wohliges Behagen, die Schwere der Glieder schwand, ihm war, als ob er fliege, hoch über dem Weltraum schwebe in Leichtigkeit, Duft und streichelndem Lichte. Mit Anstrengung hielt er die Augen offen. Er wollte sehen, was mit den anderen geschah. Doch mit einemmal waren sie verschwunden, das Zimmer zerrann ins Nichts. Er war auf einer weiten öden Heide, die sich fern, fern in die Unendlichkeit verlor. Und mit der Weite der Ebene wuchsen seine Beine, schmerzlos, seltsam wohltuend, wie wenn er sich recke in milder Müdigkeit. Und dort, ganz in der Ferne, wo der Purpurrand des Horizonts die Heide säumte, dort ragten hoch wie himmelstrebende Gebirge seine Füße. Und die Spitzen der Lackschuhe glänzten auf wie die Riesengletscher der Islandküste.

Und da – und es schien ihm alles so selbstverständlich – wuchs sein Oberkörper zyklopenhaft empor und stieß mit dem Scheitel an die blaue Wölbung des Himmels. Nicht schmerzhaft war das Anstoßen, nein, wie eine streichelnde liebkosende Gotteshand. Aber da rannen ihm plötzlich heiße Tränen über die Backen. Er weinte herzbrechend. Er wußte nun, daß er niemals seinen Kampf um die Freiheit der Menschheit würde kämpfen können. Denn er konnte ja nicht von seinem Sitz auf der weiten Ebene aufstehen, ohne mit seinem Schädel das Himmelsgewölbe zu zertrümmern. Und das durfte er doch nicht! Den Himmel zerbrechen, um die Menschen zu befreien. Nein. Was half es ihnen, wenn er ihnen den Himmel auf Erden bereitete und ihnen den Himmel im Himmel zerstörte! So saß er auf der endlosen Ebene und weinte einen weiten See um sich her.

Ähnlich träumten Pietsch und Foerster. Auch ihnen wuchs alles ins Groteske, Ungeheure. Und in Foersters Kopf waren plötzlich Gedanken von solch unendlichen Dimensionen, daß sie im Hirnkasten nicht mehr Raum fanden. Sie öffneten die Schädeldecke, schmerzlos sanft, wie einen Kistendeckel in wohlgeölten Scharnieren, und wuchsen aus der engen Kopfhöhle hinauf in den Äther und breiteten sich hier in weiten Ausschweifungen aus wie Rauch aus einem Schlote bei trübem Wetter.

Prietzel, der Botaniker, wanderte durch einen jungfräulichen Urwald mit baumhohen Märchenblumen, die einen betäubend wonnevollen Odem aushauchten. Endlos dehnte sich das Pflanzenlabyrinth, ein irrlichterndes Bacchanal nie geschauter Farben. Er ging und staunte und badete die Sinne in dem schwülen streichelnden Duften und wagte kaum zu atmen vor Seligkeit und Verzauberung – bis Dohm, sein Lagergenosse, ihn unsanft aus seinen Blütenträumen weckte.

Freudebegeistert hieb der Redakteur mit beiden Fäusten kräftig auf den Urwaldpilger ein und schrie: »ich liebe dich, du bist mein Freund!« Und hämmerte auf den entsetzt Auffahrenden los, und schmetterte sein beglücktes Lachen heraus und stieß ihn von dem Sofa und zog ihn mit Berserkerkräften an den Beinen, trotz seines wilden Sträubens, wieder zurück auf das Lager und schlug weiter aus Leibeskräften ein auf den unseligen Jugendfreund.

Schreckgelähmt starrte Scherenberg drein und wagte kein Glied zu rühren. Da berührte eine feine Gelehrtenhand seine Schulter. Er zuckte auf, als streckten Geisterfinger sich nach ihm aus, auch er angesteckt von dem Irrsinn, der ringsum aus diesem schweren Dunste hervorgrinste. Schlotternd wandte er den Kopf. Da sah er in Geheimrat Boeckhs durchgeistigtes Antlitz.

Der Professor war ahnungslos zu einer gemütlichen Sonntagsabendvisite bei seinem jungen Freunde erschienen, hatte erst, als er die zahlreichen Überkleider im Korridor erblickte, entfliehen wollen, war aber schließlich eingetreten auf des intelligenten Friedrichs Bitten hin, der wußte, wie schmeichelhaft seinem Herrn der Besuch des großen Philologen sein würde, den er nicht gewagt hatte, einzuladen. Und nun stand der alte Boeckh an der Tür und starrte.

Eben wollte Scherenberg aufklären, da erhob Duncker sich von seinem Stuhle, schlug gewaltig mit den Armen in die Luft, als wenn er flöge, erkletterte den Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand, und hockte dort in tiefem Kummer nieder. Er hatte nämlich zu seinem Leidwesen erkannt, daß er in einen Uhu verwandelt und in eine für Eulen peinliche Lage geraten war.

Er saß auf einem Telegraphendrahte und fühlte die Depeschen durch seine Füße fetzen. Und plötzlich schrie er dem zurücktaumelnden Geheimrat mit furchtbar krähender Stimme entgegen: »He, Sie Kerl da, geben Sie mir das Beschwerdebuch! Ich will mich über die Frechheit der Telegraphenverwaltung beschweren, die mir die Füße kitzelt!«

Und als der Gelehrte spürte, wie sich seine spärlichen grauen Haare mit einem eisigen Entsetzensgefühl von dem Schädel steil aufrichteten, da hatte Korff plötzlich eines der zierlichen Taburette zwischen die Beine geklemmt, schwang seine Pfeife mächtig im Kreise wie einen Pallasch und galoppierte mit wildem Indianergeheul gegen den Professor los. Er ritt gerade die Attacke bei Roßbach.

Da flüchtete Boeckh, wie weiland Seine Hoheit der Prinz Soubise, und verriegelte mit zitternden Händen die Tapetentür und lauschte.

Der Dichter saß mit angststarren Gliedern ganz klein und alt in seinem Sessel.

Und Boeckh hörte den Rittmeister an der Tapetentür rasen wie Achill an den Toren und vernahm Bülows Gesang, und Duncker verlangte noch immer das Beschwerdebuch und Dohm brüllte vor Lachen und Prietzel jammerte unter seinen Fäusten.

Ganz still lag der General auf dem Divan. Seine Lippen bewegten sich flüsternd.

Und dann fühlte Lassalle, wie sein Körper zusammenschrumpfte, die Gletscher seiner Füße abtauten, die Ebene sich verengte.

Da war wieder das Zimmer. – Mit leichtem freien Kopf saß er in seinem Stuhl. Frisch, ohne jede Mattigkeit in den Gliedern, erhob er sich. Und wie durch den Kuß des Prinzen aus dem Dornröschenschlaf erweckt, tauchten fast zur gleichen Zeit die andern zu ihrem irdischen Leben zurück. Lachend kletterte Duncker von dem Tisch, gutmütig schmollend rieb Prietzel die gebläuten Glieder.

Und allen leuchteten die Erlebnisse ihres Traumes hell in der Erinnerung. Und ein Erzählen und Berichten begann, als man im Speisesaal an dem gemütlichen runden Tische heiter tafelte. Boeckh saß neben dem Hausherrn und lachte herzlich mit den andern, als er seine Schrecknisse beichtete.

Der General Pfuel sprach mit feuchten Augen: »Ich habe etwas ganz Seltsames geträumt. Ich war, wie so oft anno 1811, bei meinem Jugendfreunde Heinrich von Kleist auf seiner Bude bei dem Quartiermeister Müller in der Mauerstraße 53. Jeden Nagel in dem Zimmer habe ich wiedererkannt, und es sind doch nun fast 48 Jahre her! Kleist hatte die Wunde in der Schläfe und sah noch bleicher aus als sonst. Er rannte, wie er das zu tun pflegte, beim Sprechen im Zimmer umher und sagte: ›Nun wird bald meine Zeit kommen. Noch ist sie nicht ganz reif. Aber wenn ich hundert Jahre tot sein werde, wird man mich als einen der größten deutschen Dichter feiern.‹ Und dann stand er still und raunte mit zuckenden Lippen: ›Und man hat mich doch in Scham und Not nach Wannsee gehen lassen!‹«

Der General schwieg und kaute an seinem weißen Schnurrbart.

Alle schwiegen bedrückt. Da brach der Hofrat den Bann. Zwischen ihm und dem General bestand eine unausgesprochene Nebenbuhlerschaft. Auch er hatte seinen berühmten Jugendfreund. Als Jüngling war er als Körners Nebenmann in Lützows wilder verwegener Schar in den Freiheitskampf gezogen. Goethe selbst hatte ihm, wie er oft, ein wenig Ehrfurcht heischend, erwähnte, die Waffen gesegnet.

Als jetzt die Reihe des Erzählens an ihn kam, da flunkerte er aus Eifersucht gegen den General. Und er berichtete, wie ihn der Rausch in die große Zeit des heiligen Kampfes zurückgeführt und wie wieder, wie anno 13, der junge Sänger des Schwertliedes zu Gadebusch in seinen Armen verröchelt sei.

Doch ein feines Lächeln spielte um Dohms und Pfuels Lippen. An diese Geschichte erinnerte der gute alte Foerster sich zu oft – auch wenn er just keinen Haschisch geraucht hatte!

Lassalle sah das arglistige Zucken um Pfuels und Dohms Lippen, und ablenkend gab er geschickt dem Gespräch eine andere Richtung.

Es war ein geräumiger Saal, über den das offene Holzfeuer im Kamin einen Hauch warmer Behaglichkeit atmete. An den Wänden, die der Lüster übers dem Tisch im Halbdunkel ließ, glänzte nur dann und wann beim Aufzucken der Gasflammen ein matt vergoldeter Rahmen auf und ließ ein Gemälde, einen Stich ahnen. Aus dem Dunkel des Wintergartens, in den eine breite, jetzt offene Glastür führte, leuchtete weich verdämmernd ein vortreffliches Heiligenbild Unserer lieben Frau von Melos. Sie stammte, wie die wertvollen Stiche an der Wand, aus des Hausherrn liebegeweihten Pariser Tagen.

Das Gespräch hatte sich alsbald dem Ereignis zugewandt, das heute ganz Berlin die Stimmung aufprägte. Morgen, Montag, am 8. Februar 1858, sollte der Sohn des Prinzen Wilhelm mit seiner jungen Gemahlin Viktoria feierlich in Berlin einziehen.

Duncker führte das Wort, eifrig sekundiert von Prietzel und Dohm.

»Es ist ein neues Belle-Alliance zwischen Preußen und England,« frohlockte er. »Ich sehe darin die bestimmte Verheißung, daß Preußen jetzt in die liberalen Prinzipien einlenken wird, die England groß gemacht haben.«

»Sicher,« nickte Dohm. »Diese Eheschließung ist das Symbol der neuen Ära und zugleich des Bruches mit Rußland.«

»Ganz gewiß,« versicherte der Botaniker.

»Hoffentlich,« rief Foerster skeptisch dazwischen. »Diese verdammte enge Freundschaft zwischen dem kranken König und dem Zaren ist an all den grausamen Verfehlungen der Regierung schuld, unter denen Preußen stöhnt seit 1815.«

»Und vor allem auch an Olmütz,« erinnerte Pfuel.

Begeistert hob Duncker sein Glas: »Die Tyrannenwehr England, der Hort der Freiheit der Nationen, die Stütze der Unterdrückten – hoch, meine Herren!«

Alle, auch der alte Boeckh und Scherenberg, stießen zustimmend an. Nur Lassalle aß unbekümmert weiter.

»Nun, Herr Doktor?« fragte Boeckh, der sich mit dem Glase in der Hand ihm zuwandte, »Sie stoßen nicht an auf England?«

»Nein,« erwiderte Lassalle plötzlich heftig. Aller Augen richteten sich auf ihn. »Nein,« wiederholte er, »ich mache diesen allgemeinen Taumel nicht mit. Verzeihen Sie mir, meine Herren, ich finde diesen Freudenrummel geradezu kindisch.«

Eine Bewegung lief um den Tisch.

»Meine Herren, ich muß offen aussprechen, was ist. Ich bin heute vormittag studienhalber durch die Stadt gegangen. Der Unfug ging so weit, daß die Leute berauscht waren von der Anordnung des Polizeipräsidiums, die an den Anschlagsäulen angeheftet ist.

Haben Sie sie gelesen? ›Immer links gehen.‹ Ich habe ergraute Männer gesehen, die sich die Polizeiverfügung zeigten und in die Arme fielen. Ich habe mir an den Kopf gegriffen. Glauben Sie wirklich, daß die Hohe Obrigkeit damit einen liberalen Kurs anzeigen will? Daß nun statt extrem rechts – links regiert werden wird? Meine Herren, das grenzt doch an Selbstbetrug, eine einfache Verkehrsvorschrift als Glaubensbekenntnis der Regierung zu interpretieren.«

Alle schwiegen und sahen auf den Mann, dessen Gesicht jetzt scharf war wie aus Bronze gegossen, dessen Augen hart sprühten wie kostbarer blauer Stahl. Keiner fand gleich die Entgegnung.

»Glauben Sie mir,« fuhr er eindringlich fort, »die Regierung denkt an keinen liberalen Kurs, und die englische Prinzessin wird vielleicht ihren jungen Gemahl, aber nicht das freiheitsdürstige Preußen beglücken. Sie wird es schon deshalb nicht, weil die Voraussetzung durchaus fehlt. Ihr Trinkspruch, mein lieber Duncker, war nämlich ein grausamer historischer Irrwahn. England soll eine Tyrannenwehr, ein Hort der Freiheit sein! Ach, ich wünschte, Sie würden lesen, was der verbannte Lothar Bucher, der Englands innere Zustände genau kennt, darüber schreibt. Aber Sie lesen nicht, Sie halten fest an diesem unausrottbaren falschen Glauben. Wissen Sie denn gar nicht, was diese scheinheiligen Freiheitsapostel eben erst in Ostindien getan haben zur Unterdrückung des Hinduaufstandes? In einem ungeheuren Meer von Blut haben sie die Freiheit dieses armen Volkes ertränkt. Das ›freie Albion‹ ist trotz aller politischen Freiheit im Innern der furchtbarste Bedrücker seiner Kolonien, aber keine Tyrannenwehr.«

Er hielt erregt inne. Und als alle schwiegen, fuhr er nervös mit der Hand über die Stirn und lächelte. »Nichts für ungut, meine Herren. Ich kann nur Scheinwahrheiten nicht sich frech aufrecken sehen. Und nun wollen wir uns den Fasan schmecken lassen.« Liebenswürdig wandte er sich an Duncker und fragte nach dem jungen Dichter, den er heute vom Hungertode errettet hatte.

Bald schwärmte die Unterhaltung wieder eifrig um den Tisch.

Man nahm in diesem Hause ein kräftiges, entgegenstürmendes Wort nicht krumm, zumal wenn es zum Nachdenken anregte.

Da schlug Boeckh an sein Glas und erhob sich. Alles verstummte sofort ehrerbietig und blickte andächtig zu dieser Zierde der Berliner Universität und des deutschen Gelehrtentums hinüber. Er hob sein feines Gesicht dem Lichte entgegen, als läse er dort seine Gedanken.

»Meine Herren,« begann er schlicht und lächelnd, »ich bin gewissermaßen nur durch Zufall hereingeschneit in Ihre frohe Gesellschaft. Es kommt mir daher vielleicht nicht zu, mein Sprüchlein zu sagen. Es drängt mich aber, hier unter Ihnen ein Wort über das Werk unseres verehrten Wirtes zu sprechen.«

Lassalle hob erwartungskühn die Stirn. Alle rückten lebhaft interessiert auf ihren Stühlen.

z. T. historisch. »Meine Herren, Sie wissen gewiß, daß Leibniz, von der hohen Theorie herabsteigend, Versuche in der Praxis des Maschinenbaues gemacht hat. Seine Gegner behaupteten damals von ihm, er habe Kutschen bauen wollen, die in vierundzwanzig Stunden von Hannover bis Amsterdam führen. Man glaubte, ihn damals mit nichts lächerlicher machen zu können.

Die heutigen Fortschritte in der Anwendung künstlich entwickelter Naturkräfte, welche auf die Fortschritte des Wissens begründet sind, beschämen alle vorhergegangenen Zeitalter durch die früher kaum oder gar nicht geahnte Überwindung der die Sterblichen einengenden Raum- und Zeitverhältnisse. Wenn irgendwann und irgendwodurch hat sich jetzt bewährt, was Sophokles vor Jahrtausenden sagt: ›Vieles Gewaltige lebt, und nichts ist gewaltiger als der Mensch‹.

Aber, meine Herren, es gibt ein Gebiet, auf dem die Menschheit und ihr Erkennen nur sehr langsam vorrückt. Die großen Ideen des schöpferischen Geistes, die nicht von gestern sind, lassen sich nicht so leicht durch beabsichtigte oder zufällige Entdeckungen oder Erfindungen vermehren. Sie werden bisweilen für eine Zeitlang abgeschwächt und verdunkelt und wieder neu geschaffen und gekräftigt und wieder aufgelöst, wie das Gewebe der Penelope. Eben weil sie uralt und eine Prometheische Mitgift für die Menschheit auf ihrem dornenvollen Lebenspfade sind, behält das Altertum einen unvergänglichen Wert für die gesamte Nachwelt: denn es hat in jugendlicher Frische der Begeisterung jene ewigen Ideen erzeugt und ausgeprägt, und die Späteren können an jener heiligen Flamme Geist und Gemüt immer neu erwärmen und nähren. Wenn noch Jahrtausende hindurch fernerhin philosophiert wird, werden Platon und Aristoteles immer den hohen Rang behaupten, den sie jahrtausendelang unter den Philosophen einnehmen, und an ihrer Seite wird durch Äonen Herakleitos, der Dunkele, von Ephesos thronen, dessen Weisheitskrone unser verehrter Wirt einen neuen strahlenden Diamanten eingefügt hat. Ich erhebe mein Glas auf die ewigen Ideen der Menschheit und Ihre Verkünder –« er neigte sich gegen Lassalle – »und ihre opfermutigen Helfer.«

Er trank Duncker zu, der das Werk verlegt hatte.

Hell läuteten die kostbaren Römer durch den weiten Raum. Und man sprach und erwog und disputierte, bis Lassalle an das Glas schlug.

»Liebe Gäste,« sagte er, »ich danke Herrn Geheimrat Boeckh zunächst für die Worte der Weisheit, die er gesprochen, und für die freundliche Anerkennung, die er meinem Werke gezollt hat. Herr Geheimrat Boeckh hat von den ewigen Ideen der Menschheit gesprochen. Gestatten Sie, daß ich Ihre Aufmerksamkeit auf zwei dieser ewigen Ideen des deutschen Volkes hinlenke: auf die politische Freiheit und die Einigkeit Deutschlands.

Meine Herren, das sind unsere ewigen Ideen. Sie sind im tiefsten Grunde Ihres Herzens alle liberale Männer, die Sie an diesem Tische sitzen. Und ich meine, wo solche Männer sich versammeln, sollte von der Freiheit und Einigkeit Deutschlands die Rede sein. Meine Herren, ich bin kein unbedachter Schwärmer. Was ich hier sage, habe ich lange in mir herumgetragen. Ich weiß, Familienfeste und freier Wille der Regierung werden uns die Freiheit niemals geben. Freiheit gibt sich ein Volk nur allein. Meine Herren –« er richtete sich hoch auf, und jetzt sprach er stark und fest, ohne mit der Zunge anzustoßen, während seine im Gespräch hohe und dünne Stimme sonor wurde und ehern durchdringend – »48 ist keine Warnung und kein Ende. Nein, nein, wenn Sie auch skeptisch lächeln, mein lieber Foerster. Ich sage Ihnen, es gibt noch einen neuen grimmen Kampf, ehe wir freie Männer und Bürger eines Deutschland sein werden.« Sein Auge blickte in prophetischem Glanz ins Weite. »Der Kampf wird kommen, und siegreich wird er sein. Nur durch Blut wird die Freiheit errungen und ein Deutschland gekittet werden, glauben Sie mir. Der Kampf naht, und wir alle hier, wir werden seine Frucht noch ernten.«

Leise, tief ergriffen schüttelte der alte Pfuel das Haupt mit dem langen schneeweißen Haar.

Lassalle hob emphatisch die geballten Fäuste. »Wir brauchen nichts als einen entschlossenen Führer, der die Fahne flattern läßt. Der wird sich finden.«

Er machte eine Pause. Alle starrten ihm in das entschlossene metallharte Gesicht.

Da sagte er innig: »Deutsche Männer dürfen nicht beisammen sein, ohne derer zu gedenken, die diese grausame Zeit gemordet hat; derer, die seit langen Jahren in den Zuchthäusern modern; derer, die in weiter Ferne das harte Brot der Verbannung zehren. Denken Sie, meine Herren, an die Freiligrath, Marx, Bucher, Kinkel und all die andern Namen, die uns die Fäuste dereinst ballen werden zum Kampfe. Voran leuchte uns allerwege meines herzlieben Freundes Freiligrath Mahnung der ›Toten an die Lebendigen‹:

»Zuviel des Hohns, zuviel der Schmach wird täglich Euch geboten:
Euch muß der Grimm geblieben sein – o, glaubt es uns, den Toten!
Er blieb Euch! ja, und er erwacht! er wird und muss erwachen,
Die halbe Revolution zur ganzen wird er machen!
Er wartet nur des Augenblicks, dann springt er auf allmächtig:
Erhob'nen Armes, weh'nden Haars dasteht er wild und prächtig!
Die rost'ge Büchse legt er an, mit Fensterblei geladen,
Die rote Fahne läßt er wehn hoch auf den Barrikaden!«

Meine Herren, das Glas auf diesen Grimm!«

Er hatte so aufwühlend, empörertrotzig deklamiert, daß er sie alle, mochten sie ihm in tiefster Seele beistimmen oder nicht, von ihren Stühlen emporriß. Auch der Rittmeister ließ sein Glas hell erklingen. »Der Schönheit Ihrer Begeisterung!« sagte er lächelnd. – –

Nach Tisch las Scherenberg auf Bitten des Hausherrn im Arbeitszimmer einige Abschnitte aus seinem »Franklin«. Grandiose Schilderungen von Eis und Schnee.

Hingerissen unterbrach ihn Lassalle einmal: »Göttlich, mein Scherenberg, wie schön, wie herrlich! Seien Sie von Herzen dafür bedankt. Diese Schilderung des Polarmeeres. Ein besseres Eis ist sicher keinem meiner lieben Gäste je präsentiert worden. Nur weiter, weiter!«

Und dann phantasierte Bülow auf dem Flügel bis lange nach Mitternacht.

Und als die Herren sich vor der Haustür trennten, rief Pietsch ganz außer sich vor Bewunderung: »Aber das ist ja ein Mensch aus einem Hackländerschen Roman! Gibt es denn so etwas in unserem heutigen philiströsen Berlin?«

Da versammelte Duncker die Auseinanderstrebenden noch einmal um sich im Kreise.

»Ich verstehe den Mann dort oben sehr gut. Er ist einer von jenen Naturen, die mit einer unbändigen seelischen Kraft begabt, diese immerzu bis zum äußersten anspannen und verwerten müssen. Eine genialische Natur. Solche besitzen stets zugleich den Trieb, Taten zu vollbringen, gute Taten, Opfertaten, für andere zu kämpfen.

Er erzählte einmal meiner Frau, als Knabe habe er sich geschworen, seine bedrückten Glaubensgenossen zum alten Glanze zurückzuführen. Mit neunzehn errang er Heine die Rente, mit zwanzig stürzte er sich in den Kampf für die Gräfin Hatzfeld, achtundvierzig für die Freiheit. Dann, als seine Betätigungssucht kein neues öffentliches Feld sah, verbiß sie sich in den Heraklit. Bald wird sie sich etwas anderes, ganz Unvermutetes erküren. Diesen Tatenmenschen ist das Ziel im Grunde gleichgültig. Sie wollen tun, irgend etwas Großes, und das Größte erscheint seit Jahrtausenden allen großen Geistern der Kampf um die Freiheit. Seine Rede heute abend zeigte mir, daß er sich bald in einen neuen Kampf stürzen wird. Ihn dürstet nach einer Tat in der Öffentlichkeit.«

Boeckh nickte. »Es ist das Holz, aus dem Welteroberer, Usurpatoren und Revolutionshelden geschnitzt werden. Hätte er zur Zeit des Direktoriums gelebt, so hätte Bonaparte ihn aus dem Wege räumen müssen. Für beide war in Frankreich damals nicht Raum.«

Da sagte Dr. Prietzel sehr traurig: »Ich fürchte für ihn.«

»Fürchten Sie nicht,« tröstete Dohm. »Männer wie Lassalle bedürfen unserer Furcht nicht. Aber neugierig bin ich, was wir noch an ihm erleben werden.«

»Qui vivra, verra,« sagte Pfuel und hob den Zylinder. »Bis dahin gute Nacht, meine Herren!« –

Oben in seinem Arbeitszimmer saß Lassalle am Schreibtisch und schrieb bis in den grauenden Morgen an seinem Franz von Sickingen.


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