Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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XV.

Er war mit der Gräfin in der Schweiz gewesen, doch sie wußte keinen Rat. Sie hatte all die unendliche, in der Einsamkeit bei Ludmilla Assing aufgestaute Liebe und Zärtlichkeit über ihn niederströmen lassen, hatte sein müdes Haupt gehegt und betreut mit überrauschender Innigkeit. – Doch Rat wußte sie nicht. Und auch die Berge wußten ihn nicht. Sie ragten hoch, starr und unerschütterlich, mit der Gelassenheit der Äonen in den blauen Himmel, und die unnahbar stolzen Firne blickten kalt und verächtlich hernieder auf die verzweifelt fragenden Augen dieses Titanenmenschleins.

Da floh er mit der Gräfin an die See.

Nach Ostende. Die Stimme des Meeres wollte er hören, in ihrem Ewigkeits-Raunen den Rat erlauschen.

Er mied die bewegte Welt des Modebades. Stundenlange Wanderungen machte er einsam an der Digue hin, auf Middelkerke, auf Westende zu, in der fallenden Nacht. Und in seiner Rocktasche knatterten aufscheuchend die Briefe Dr. Dammers, mit dem er pflichtgetreu rege Verbindung hielt. Ach, aus den Schreiben stierte der Tod des Vereins. Er lag in den letzten Zügen. Kein neues Blut floß ihm zu, das alte ward dick und schwerflüssig. Das Werk lag verröchelnd auf dem Totenbette. –

Das Meer stürmte. Die Flut krachte herein. Lassalle saß weit draußen auf einem vorspringenden Felsen und sah hinein in den tobenden Aufruhr. Hinter ihm stand ein schwarzer Schatten.

Es war spät nachts geworden. Der Himmel drohte in schwarzen Wolken, nur die volle Scheibe des Mondes hatte sich siegreich ihren Platz erobert. Hell stand sie in einem weiß grünen befreiten Raum.

Eine unheimliche packende Einsamkeit schlug sich wie ein Mantel um den Mann auf dem Riff und hüllte ihn ein und den Schatten, der hinter ihm stand. In dumpfer Betäubung lauschte er auf das Brausen der erregten See, zweifelzerrüttet schielte er hinter sich nach dem gespenstischen Schatten. Wie das Rollen eines Zuges über eine Eisenbahnbrücke schwoll das Branden an im Crescendo, ebbte dann ab wie das Rauschen dichtbelaubter Sommerbäume im Ahnen des Gewitters und verrieselte hellklingend wie frühlingsseliger Gebirgsbach. Und brauste wieder empor zum Donnergeroll.

Der Mann saß und lauschte und rührte sich nicht, wenn die Gischt an dem Felsen hoch aufspritzte und ihm ihre feuchte Peitsche salzig über das Gesicht fetzte. Er saß eingelullt von dem anwachsenden und niederflutenden Rhythmus der Wogen und horchte bang hinter sich nach dem flüsternden Schatten.

Der unheimliche Schatten war der arge Plan, der ihn seit einigen Tagen hetzte. Das Meer hatte ihn ausgeworfen an einem Sturmtage. Und nun schlich er hinter dem Manne her, auf Schritt und Tritt, kauerte hinter ihm, wenn er ruhte, und starrte ihm mit feurigen Augen ins Hirn. Ein wilder toller Geselle war es, wie einstmals die Hoffnung auf Garibaldis Eingreifen. Wieder die Ausgeburt eines Gehirns in letzter Verzweiflung. Auf leisen Diebessohlen schlich dieser Plan hinter ihm drein, und Lassalle wagte nicht, ihm offen ins Gesicht zu blicken, weil er den schwarzen Mantel des Verrates trug, des Verrates an allen Erinnerungen und aller jungen Sehnsucht.

Er saß und lauschte auf das immer wilder emporschauernde Meer. Ist es Verrat, quälte er sich, ist es Verrat an meinen Jugendphantastereien, an meinen Manneskämpfen, mit der Regierung zu paktieren?! Ich, der ich als Knabe davon geträumt habe, die Tyrannen zu vernichten, ich, der ich 1848 die Revolutionsfackel geschwungen habe, ich, der ich zu allen Zeiten für die Freiheit die Stimme erhoben habe, ich soll mit der Regierung gegen die Volkspartei paktieren!

Er saß und lauschte und schielte hinter sich auf den flüsternden schwarzen Plan.

»Bismarck ist der einzige, der dir helfen kann,« versuchte der Verführer, »er steht da wie dieser Fels in der Brandung im Ansturm der Liberalen. Er muß und wird sie vernichten, um die Heeresreorganisation durchzuführen. Auch du kämpfst heftig und erbittert gegen die Liberalen, die Feinde deines Werkes. Ihr beide, Bismarck und du, ihr seid geborene Bundesgenossen.«

»Äußerlich, äußerlich!« schrie Lassalles Vergangenheit. »Bismarck will im Kampf mit den Liberalen Volksrechte vernichten, zum Heile der Krone, ich bekämpfe die Liberalen, um größere Volksrechte einzuführen. Nur äußerlich ist eine Gemeinschaft. Im Innersten ist bitterste Feindschaft. Nein, nein,« wehrte sich der alte Demokrat in ihm, »ich kann mit der Regierung nicht einen Bund schließen, die Liberalen, meine alten Freunde und Waffenbrüder von 1848, zu vernichten, nein, nein, dagegen steht die ganze Entwicklung meiner Seele!«

»Denk daran,« raunte der Schatten hinter ihm, »wie die lieben Freunde und Waffenbrüder über dich hergefallen sind, wie sie dich geschmäht und verunglimpft haben, wie sie dein Lebenswerk zu vernichten streben, wie sie dich persönlich mit Kot beworfen haben, dich als einen phrasenhaften Abenteurer, ja, immer schon als einen verkappten Agenten der Regierung verdächtigt haben. Schon nach deinen Verfassungsreden logen sie, du seist von der Regierung bestochen, die Sache der Fortschrittspartei in den Schmutz zu ziehen. Werde jetzt, was sie dich immer gescholten haben! Zeig ihnen, daß du ein ganzer Mann bist, daß du die Mittel wählst, die deine Ziele fordern! Paktiere mit Bismarck, biete ihm deine Bundesgenossenschaft im Kampfe gegen die Liberalen, biete ihm die Arbeiterbataillone, die hinter dir marschieren, überrede ihn, das allgemeine direkte Wahlrecht aufzuzwingen, zeig ihm deine Macht über die Arbeiterlegionen, beweise ihm, wie du sie in den Versammlungen mit deinem Worte berauschest, und laß ihn erkennen, daß er mit den Arbeiterstimmen in deiner Hand die Liberalen in wenigen Tagen aus dem Landtage hinausfegt. Und gelobe, mit deiner Arbeitergefolgschaft die volksknechtenden Militärausgaben der Regierung zu genehmigen!«

Der Mann bog die Brust qualgebeugt bis auf die Knie nieder. Wolken schoben sich vor den Mond. Eine ängstliche Dunkelheit kroch über Meer und Land. Der Mann erschauerte. In ihm war es dunkel und brausend wie draußen in der nächtlichen Einsamkeit.

»Ja,« sann er, »dann ist das allgemeine direkte Wahlrecht erreicht!«

Da richteten sich plötzlich die Haare auf dem Kopfe des Mannes steif empor. Die eisige Kälte einer überwältigenden jähen Erkenntnis überrieselte die Schädeldecke. Das – das! Er sprang empor. Der Mond hatte sich aus der Ummauerung der Wolken hervorgearbeitet und warf klarer als vorher sein weißes Licht hernieder auf die Welt. Da stand der Mann hoch aufgerichtet in greller Helle. Der schwarze Schatten hinter ihm war zerronnen.

Tränen der Erregung liefen ihm über die Wangen. Er stürmte heim über die nachtverlorene Digue ins Hotel. Im Zimmer der Gräfin war noch Licht. Ohne anzuklopfen stob er hinein.

»Was ist?« schnellte sie empor. Sie hatte angstvoll seiner geharrt.

»Ich habe es,« rief er und fiel in seiner haltlosen Beglückung an ihre Brust, »ich habe es gefunden.«

»Wie durchnäßt du bist,« klagte sie und trocknete mit ihrem Tuche sein triefendes Gesicht.

Er riß sich los und rannte durchs Zimmer.

»Das Ei des Columbus!« jubelte er. »Sophie, das alte, immer wieder aufgewärmte Ei des braven Columbus. Ich habe dir nichts gesagt. Du sahst aber, daß etwas in mir kreißte. Jetzt ist es geboren. Weißt du, mit wessen Hilfe ich das allgemeine direkte Wahlrecht einführen werde?«

»Nun?«

»Mit Bismarcks!«

»Wie!« beugte sie sich vor, als habe sie sich verhört. »Du willst mit Bismarck zusammengehen?!«

»Nein,« wies er stolz von sich, »ich werde ihn als Werkzeug benutzen.«

»Bismarck als Werkzeug!« zweifelte die Frau ängstlich.

»Ja,« erhärtete er siegessicher. »Das will ich. Du brauchst nicht zu erschrecken. Es ist keine Untreue gegen meine Vergangenheit, es ist die Treue gegen meine Gegenwart. Es hat schon lange in mir gebrodelt. Heute nacht ist es zur Greifbarkeit gereift. Die Zeiten der Unklarheit, der Halbheiten, der Utopien sind vorbei. Mein ganzes politisches Leben bisher war ein dauerndes Schwanken. Bald kämpfte ich für die Freiheit, bald für Deutschlands Einheit, bald für diese Scheindemokratie. Dann tauchte der Plan meiner Lebenstat in mir auf. Aber ich konnte mich nicht so schnell häuten. Meine Entwicklung hing mir noch in den Gliedern. Ich bog immer wieder auf alte Lieblingswege ab. Der Sturm heute nacht hat alle Halbheiten mit fortgerissen. Jetzt gilt es Realpolitik zu treiben. Mein Werk zum Ziele zu führen und – vor dir will ich nicht heucheln, meinen Ehrgeiz. Ja, Sophie, ich will noch, solange ich stark und genußfähig bin, den Stolz genießen, der Messias eines ganzen Volkes, ja der ganzen Erde zu sein. Das will ich und das bekenne ich offen. Also: keine Unmöglichkeiten, keine Utopien mehr! Der Verein geht nicht vorwärts, mit dem Vereine werde ich nie die Macht erlangen, das allgemeine direkte Wahlrecht zu ertrotzen. Ohne das Wahlrecht aber keine Staatsassoziationen. Ohne Staatsassoziationen aber keine Vernichtung des Lohngesetzes. Daher gilt es andere Mittel zu finden, das Wahlrecht Wahrheit werden zu lassen. Ich habe sie gefunden.«

»Bismarck?« fragte sie wieder bleich, voll zager Bedenken.

»Ja. Bismarck,« bekräftigte er im alten, fröhlich aufgeblühten Selbstbewußtsein. »Ich werde eine Strecke Weges, soweit es meinen Zwecken dient, mit ihm zusammengehen. Was sagst du zu dem Plane?«

Sie zögerte. »So neu ist es. Und solch krasser Bruch mit deiner Vergangenheit! Was werden die Feinde sagen – und die Freunde!«

»Laß sie sagen, was sie wollen!« trotzte er auf.

»Politik treiben heißt wirken und Wirklichkeiten gestalten. Ich kann meiner Vergangenheit nicht das Opfer meiner Gegenwart und der Zukunft meiner Arbeiter bringen. Und dann – wenn wir ein Stück Wegs zusammen gegangen sind, werde ich mich schon von ihm zu trennen wissen. Habe ich ihm erst das allgemeine direkte Wahlrecht abgelockt, dann gehe ich meinen eigenen Weg zu meinem Ziele. Und wenn er mir den kreuzen will, dann schlage ich ihn mit dem Schwerte, das ich mir auf seinem Amboß geschmiedet habe.«

»Das ist nicht schön,« erwog ihr Frauenzartsinn. Doch er fuhr auf: »Schön, schön! In der Politik hört die Schönheit auf. Mit Bismarck brauchst du kein Mitgefühl zu haben. Der kann sich allein seiner dicken Haut wehren.«

»Es gefällt mir nicht,« bedauerte sie. »Du spielst ein gefährliches Spiel.«

»Das weiß ich. Aber begreifst du nicht, daß ein großer Politiker den Augenblick erfassen muß, um von den Fehlern des Gegners zu profitieren, einen Feind durch den andern aufreiben zu lassen und die dem großen Zwecke günstige Konjunktur, sie möge hervorgebracht werden, von wem sie wolle, zu benutzen! Die Leute der bloßen ehrlichen Gesinnungen, die sich immer nur auf den idealen, in der Luft schwebenden Standpunkt der zukünftigen Dinge stellen und daraufhin das momentane Handeln bestimmen, mögen privatim als recht brave Menschen gelten. Aber zu großen Handlungen sind sie nicht geboren, sondern nur zur gehorsamen Gefolgschaft in der Masse. Weite Politik verlangt ein weites Gewissen.«

Die Frau nickte, noch zaudernd. Es kam ihr zu plötzlich. Nur ihre Klugheit bedachte: »Ja, Ferdinand, wird Bismarck sich denn mit dir einlassen? Kannst du ihm genug bieten?«

Er reckte sich hoch auf: »Ich biete mich, Sophie. Ist das nicht genug! Der Mann ist ein Weltgestalter wie ich. Er wird Verständnis haben für meine Größe, wie ich Verständnis für seine Größe habe. Ich biete ihm ferner die Arbeiterbataillone, die hinter mir marschieren, als Vernichter der Fortschrittspartei.«

»Es sind so wenige im Verein,« seufzte sie.

»Im Verein, ja. Aber wenn ich rede, strömen sie zu Tausenden herbei: Darauf muß ich sein Auge lenken. Das muß er sehen. Von hier gehe ich ins Rheinland. Dort lieben sie mich noch von 48 her, dort haben sie nicht vergessen, wie wir beide uns zehn Jahre lang in Düsseldorf ihnen geweiht haben, wie unser Haus ihr rettendes Asyl war gegen alle Verfolgung der Reaktion. Am Rhein werde ich Versammlungen abhalten. Zu Zehntausenden werden sie herbeiströmen. Du kennst die rasche Entflammtheit des Rheinländers. In den Verein werden auch sie nicht eintreten, ich weiß; aber herbeiströmen werden sie in hellen Scharen und mir im Augenblick der Begeisterung stürmisch zujubeln. Ich kenne meine alten Rheinländer. Ich werde für Zeitungsberichte sorgen, ich werde sie Bismarck einsenden. Glaube ja nicht, daß er meinen Weg nicht sehr genau beobachtet. Männer wie er haben wachsame Augen. Männer wie er verfolgen eine solche ungeheure Volksbewegung, wie ich sie entfacht habe. Vertraue nur meiner Kraft! Und wenn ich erst einmal in seinem Arbeitszimmer vor ihm stehe – ist er mein Mann. Vertraue der Kraft meiner Worte und meiner Persönlichkeit!«

Sie sah hinüber zu seiner entschlußstrahlenden Männlichkeit und lächelte schon fast gewonnen: »Ich vertraue auf dich.« –

Diese Nacht schmiedete Lassalle zu einem der Großen der Geschichte. Er wurde ein anderer. Alles Haltlose, alles Kleine und Kleinliche fiel von ihm ab. Keine Rückfälle kamen je wieder. Jetzt hatte er sein letztes großes Ziel gefunden: die Gewinnung Bismarcks und mit seiner Hilfe die Oktroyierung des allgemeinen direkten Wahlrechts und damit die Einführung der Staatsassoziationen als ersten Schrittes zum Sozialismus.

Noch von Ostende aus kündigte er die »Heerschau« im Rheinlande an. Am 20. September sprach er in Elberfeld, wenige Tage darauf in Solingen und in Düsseldorf. Und es wurde eine imponierende Heerschau.

Trotz des strömenden Regens erwarteten in Elberfeld viele Hunderte Lassalle am Bahnhof. Unter stürmischen Hochrufen der Versammlung von dreitausend Arbeitern bestieg er die Tribüne. »Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag, drei Symptome des öffentlichen Geistes«, lautete der Titel seiner Rede. Sie war ein neuer hitziger Vorstoß gegen die Fortschrittspartei, die als Besiegte Siegesfeste feierte, ein heftiger Ansturm gegen die Presse, die ihn gelästert hatte, und eine kühne Verbeugung gegen Bismarck. Zu ihm sprach er von den Rednerkanzeln des Rheinlands her, ihm rief er seine schmeichelnde Anerkennung zu aus dem Dunst und Gewühl dieser wogenden Arbeiterversammlungen.

Seine Macht, seine Gefolgschaft wollte er dem zukünftigen »Werkzeuge« zeigen.

»Freunde!« begann er die Ansprache, »nicht sowohl um lange Reden, als besonders um Heerschau zu halten, bin ich zu Euch gekommen!«

Ja, Otto von Bismarck, der Mann, der bald mit dem Bündnis in der Hand zu dir kommen wird, ist ein Herr von Tausenden, ein großer General, ein Führer, ein Feldherr über ein Volk, über das er machtvoll »Heerschau« hält!

»Es war mir ein Bedürfnis, diese Macht in ihrer Entfaltung zu sehen. Darum danke ich euch, daß ihr in dieser Massenhaftigkeit euch eingefunden. Ich konstatiere mit Wohlgefallen, daß trotz des greulichen Unwetters, trotz eines in Strömen niedergießenden Regens dieser Saal Tausende faßt, wie mich bereits viele Hunderte von Arbeitern am Bahnhof erwarteten.«

Hörst du, Otto von Bismarck, diesen Tritt der Bataillone, die ihrem großen Führer entgegenziehen!

Und dann sprach er ohne Umschweife nach Berlin hinüber: »Die Fortschrittler liebäugeln mit den Fürsten, um – Herrn von Bismarck bange zu machen! Sie hoffen ihn einzuschüchtern durch Kokettieren mit den deutschen Fürsten! Das sind die Mittel dieser Ärmsten! Und wenn wir Flintenschüsse mit Herrn von Bismarck wechselten, so würde die Gerechtigkeit erfordern, noch während der Salven einzugestehen: er ist ein Mann, jene aber sind alte Weiber!« –

Hörst du, Otto von Bismarck, diese ehrenden Worte des großen Volksführers!

Doch noch deutlicher wurde Lassalle in Solingen. Das schöne Wetter hatte die Arbeiter der ganzen Umgegend herbeigelockt. Der riesige Saal der »Schützenburg« war schon vollgedrängt von Erwartung und Begeisterung, als mit grünem Laub geschmückt, mit Fahnen und klingendem Spiel die Kolonnen der Wuppertaler Arbeiter ihren Einzug hielten. Das waren die marschierenden Bataillone. Tausende mußten vor den Türen des Saales harren. Zehntausend Mann waren herbeigeeilt, den Messias zu sehen und sein hoffensgewaltiges Wort zu hören.

Unter minutenlangem Jubel betrat Lassalle das Podium. Und sprach. Da schrien einige Fabrikanten und Kaufleute, die sich unter die Menge auf der Straße eingemischt hatten, in die offenen Saaltüren hinein: »Hoch Schulze-Delitzsch! Hoch Schulze-Delitzsch!«

Mit Messerstichen wurden sie verjagt. Gelassen sprach Lassalle unter brausendem Beifall weiter. Da plötzlich, nach ungefähr dreiviertel Stunden, als jedermann den Vorgang längst vergessen hatte, entstand unter den Arbeitern, die Mann bei Mann dichtgeschart in den Gängen des Saales standen, eine Bewegung, eine blinkende Pickelhaube glitzerte über den dunklen Köpfen, schob sich mit roher Gewalt immer weiter nach vorn, der Tribüne zu – jetzt stieg der Gendarm die Stufen hinauf – alles reckte die Hälse, alles wartete atemlos. Der Redner streifte die Uniform mit einem kurzen verächtlichen Blick und sprach weiter. Da faßte ihn der Mann mit der Pickelhaube am Arm.

Lassalle riß sich los und fragte drohend: »Sie wünschen?«

»Die Versammlung ist aufgelöst,« rief der Mann des Gesetzes, und der wichtige Stolz, den Staat zu retten, lag auf seinen gebietenden Schutzmannszügen.

Die Menschenflut wallte brandend gegen die Tribüne.

»Was?« fragte Lassalle.

»Jawohl!« wichtelte der Beamte, »ich löse die Versammlung hiermit auf.«

»Weshalb?« erkundigte Lassalle sich sachlich.

»Weil vorhin da draußen von den Arbeitern angesehene Bürger verwundet worden sind.«

Die Volksmenge brandete murrend höher.

Lassalle hob beschwichtigend die Hand.

»Ich verlange von Ihrem Intellekt,« wandte er sich väterlich an den Gendarm, »nicht die Kenntnis, daß Sie nach dem Vereinsgesetz zur Auflösung der Versammlung nur dann berechtigt sind, wenn darin Vorschläge zu strafbaren Handlungen erörtert würden oder Bewaffnete erschienen. Beides liegt nicht vor. Die Auflösung ist daher ungesetzmäßig. Ich hoffe aber, Sie lassen sich belehren. So – und nun gehen Sie und stören Sie mich nicht weiter!«

»Ich löse die Versammlung auf!« schrie der Mann der Ordnung und griff an den Schwertgriff.

Die Volksmenge gischtete an der Tribüne empor.

Lassalle hob die Hand. Und unter lautlosem Schweigen sagte er: »Die Unterhaltung mit Ihnen ist zwar recht spannend, wir wollen sie aber lieber ein anderes Mal fortsetzen. Ich bin augenblicklich, wie Sie sehen, beschäftigt. Vielleicht besuchen Sie mich einmal im Hotel. Bis dahin auf Wiedersehen!«

Und ohne weiter den staunengelähmten Mann zu beachten, setzte er seine Rede fort.

Die Volkswoge warf lachende Wassergarben schillernd hoch empor.

Die Pickelhaube glänzte etliche Augenblicke verdutzt und fassungslos neben dem Redner, dann tauchte sie in das dunkle Meer der Hörer hinab und blitzte eilig zur Tür hinaus. Lassalle sprach weiter, und alles schien erledigt. Da entstand Lärm an der Tür. In den Arbeiterwall klaffte eine Bresche, und herein marschierten unter Führung des Bürgermeisters von Solingen zehn Gendarmen mit gefälltem Bajonett und eine Horde Polizisten mit gezogenen Säbeln.

Mit dröhnendem Männerschritt rückten sie kriegerisch durch die aufgescheuchte Hörerschaft gegen die Rednertribüne vor. Schwarze Arbeiterfäuste reckten sich in die Luft, kampfesmutige Schreie schwirrten durch den Saal. Tausende von Augen suchten des Redners Wink. Eine Bewegung von ihm, ein Wort, das leiseste Aufzucken der blauen Flammenaugen – und Bajonette, Säbel, Bürgermeister und bewaffnetes Aufgebot lag zerbrochen am Boden!

Doch um des Mannes Lippen schwebte ein Lächeln. Ganz deutlich schwebte es sekundenlang um den energischen Mund. In greller Helle hatte sein politischer Scharfblick die Gunst der Lage erspäht. Das Schicksal bot ihm die Hand. Fest griff er zu.

Der Bürgermeister stand auf der Tribüne.

»Die Versammlung ist aufgelöst!« gebot er gewaltig.

Kein Laut war unter den Tausenden. Sie harrten atemlos. Nur feste Fäuste krallten sich schwungbereit um harte Stuhllehnen. Doch seltsam, der Führer lächelte: »Den Bajonetten muß ich weichen. Ich habe es immer gesagt: Macht geht vor Recht. Aber ich werde mich bei dem Ministerpräsidenten beschweren.«

Und flugs setzte er sich an den Tisch der Estrade, die Depesche zu entwerfen.

Einige Arbeiter erklommen das Podium, ihrem Retter Leibwache zu sein.

»Die Versammlung ist aufgelöst!« schrie der Bürgermeister, »Sie haben das Lokal sofort zu räumen!«

Unbekümmert schrieb Lassalle sein Telegramm an Bismarck. Da bliesen die Gendarmen die Lichter aus und stießen den Tisch um.

Beherrscht erhob sich Lassalle: »Ruhe, Freunde,« rief er mit seiner Stentorstimme in den Aufruhr der Wut, »begleitet mich zum Telegraphenamt. Das Telegramm soll noch heute nacht in Bismarcks Händen sein!«

Und nun zog er, von den Gendarmen mit aufgepflanztem Seitengewehr eskortiert, an der Spitze der zehntausend Arbeiter in einem Triumphzuge, wie ihn die Rheinlande nie geschaut haben, durch die nachtdunklen Straßen Solingens zum Telegraphenamte.

In den engen Straßen der Bergstadt, durch die der Zug sich schmiegte, standen die Frauen und Kinder am Fenster und winkten mit Tüchern und jauchzten und jubelten. Und unten auf der Straße erklang der feste Marschtritt der Tausende, die mit begeisterten Hochrufen als Leibkohorte herzogen hinter ihrem Führer. Voran aber eilte eine kleine Schar, die mit der Mahnung: »Platz für Lassalle« dem Helfer in ihrer Not den Weg bahnten wie einem gottverwandten Fürsten des Orients.

Auf dem Amte gab Lassalle das Telegramm auf, das Bismarcks Auge auf diesen Triumphzug lenken sollte:

»Ministerpräsident von Bismarck, Berlin. Fortschrittlicher Bürgermeister hat soeben an der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten Gendarmen und mehreren Polizisten mit gezogenen Säbeln von mir einberufene Arbeiterversammlung ohne jeden gesetzlichen Grund aufgelöst. Umsonst mich auf das Vereinsgesetz berufend protestiert. Mit Mühe das Volk – an 5000 Mann in dem großen Saale der Schützenhalle, noch mehrere Tausend vor demselben – von Tätlichkeiten abgehalten. Von Gendarmen und Zehntausenden vom Volk, die mich arretiert glaubten, nach dem Telegraphenamt transportiert. Fahne der Elberfelder Arbeiter konfisziert. Bitte um strengste, schleunigste, gesetzliche Genugtuung.

F. Lassalle.«

Oh, Lassalle, der gewiegte Jurist, wußte sehr genau, daß Bismarck für diese Beschwerde nicht die zuständige Instanz war; er wußte so gut wie jeder erfahrene Verwaltungsbeamte, daß Bismarck nicht einschreiten und keine »gesetzliche Genugtuung« geben konnte. Aber der Zweck dieses Telegramms war auch ein weit höherer. Zehntausende vom Volk ziehen hinter mir her in einer einzigen preußischen Stadt, hörst du es, Otto von Bismarck! Die Obrigkeit dieser Stadt, eine fortschrittliche, hält mich für so gefährlich, daß sie meine Versammlung sprengt und eine Macht von zehn Gendarmen mit Bajonettgewehren und mehreren Polizisten mit gezogenen Säbeln gegen mich aufbietet. Ich habe Einfluß auf die Menge, ich kann sie mit einem Winke – wenn auch in ihrem gerechten Zorn nur »mit Mühe« – von Tätlichkeiten zurückhalten. Ich bin ein mächtiger Volksgebieter! Hörst du es auch recht deutlich, Otto von Bismarck?


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