Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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XIII.

Dann kam ein stolzer Tag für die Getreuen Klingbeil und Loewe. Und ein stolzer Tag für Ferdinand Lassalle. Die Gärung in den Arbeiterbildungsvereinen war zu einer lebhaften Bewegung aufgebrandet. In Leipzig, wo ein besonders reges politisches Leben in dem Verein »Vorwärts« pulsierte, war die Idee eines großen allgemeinen Arbeiterkongresses aufgeblüht, ein Komitee zur Vorbereitung dieses Kongresses hatte sich gebildet und eine Abordnung nach Berlin entsandt, mit den Berliner Genossen über diesen Kongreßplan zu beraten.

Die Deputation wandte sich zunächst an die Führer der Fortschrittspartei; denn noch immer haftete in ihnen der eingeborene Glaube, daß diese Partei die Mutter der Arbeiter sei, in deren Hut, an deren Gängelband sie leben und sterben müsse. Hier hörten sie das alte Lied: Die Idee eines Kongresses sei absurd, der Arbeiter solle sich nicht mit Politik befassen, er solle seine Arbeit tun und alle Sorge für die Besserung seiner Lage hübsch der Fortschrittspartei überlassen, die ihm doch in jeder Weise helfe und ihn bilde und für ihn sorge, wie eine Mutter für ihre lieben Sorgenkinder.

Die Deputation ging zu Schulze-Delitzsch. Er nahm sie auf in seine warme mitfühlende Güte. Die Kongreßidee riet er zu vertagen. Sie sei noch zu früh. Er wolle sie erst vorbereiten durch Vorträge über Kapital und Arbeit. Und wacker rief er den Leuten zu, er stehe nicht an, die Demokratie solange für eine hohle Phrase zu erklären, als sie nicht zur Verbesserung der materiellen Existenzbedingungen der arbeitenden Bevölkerung führe.

»Ja, aber wie?« fragte der Führer der Deputation, Doktor Otto Dammer, ein Chemiker, der sein Leben der Arbeitersache geweiht hatte. Da verwies Schulze-Delitzsch auf seine Genossenschaften, seine Spar- und Kreditvereine.

Stumm und niedergeschlagen verließ die Abordnung das gastliche Haus. Auch hier hatte sie Steine statt Brot gefunden.

Da trafen sie mit dem jungen Loewe zusammen und klagten ihm ihre Not.

Ja, hatten sie denn nicht von Doktor Lassalle gehört! Gewiß, sie kannten sein Arbeiterprogramm recht gut. Hätten sich nur nicht recht getraut, ihn aufzusuchen. Er sei doch solch vornehmer Herr.

Da lachte Loewe ihnen seine frohe Hilfe entgegen.

Es war eine erhabene Stunde, als er diese beistandsuchende Abgesandtschaft der Leipziger Arbeiter durch den verschneiten Vordergarten des Hauses in der Bellevuestraße führte. Es war ein Ziel, und es war ein verheißender Anfang.

Dann standen sie in dem ernsten Arbeitsraum, der ruhige Dr. Dammer, der besonnene verständige Zigarrenarbeiter Wilhelm Fritsche, der kribbelige, junge intelligente Julius Vahlteich und der Fabrikant Ludwig Loewe.

»Hübsch hat er's,« sah Vahlteich sich um, »fast zu hübsch für einen Arbeiterfreund.«

»Hier wird gearbeitet, das sieht man,« erwog Fritsche.

Da öffnete sich die Tür, Lassalle trat herein, Stolz und Genugtuung auf der markigen Stirn. Sofort riß er alle drei in den Bann seiner zwingenden Augen, in den Charme seiner bestrickenden Liebenswürdigkeit. Schon als er ihnen kameradschaftlich entgegenkommend die Hände drückte, wußte der behende Vahlteich: das ist unser Mann. Nach einigen einführenden Erläuterungen ergriff Dr. Dammer das Wort.

»Wir wollten Sie bitten, Herr Doktor, uns Ihre Ansichten über die Arbeiterbewegung und die Mittel auszusprechen, deren sie sich zu bedienen hat, um die Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes in politischer, materieller und geistiger Beziehung zu erreichen.«

»Was die andern sagen,« fiel Vahlteich ein, »hilft ja doch zu nichts. Die einen sagen, wir sollen uns nicht um Politik kümmern und sollen nur den selbstlosen Chor der Fortschrittspartei abgeben, und Schulze-Delitzsch kommt immer mit seinen Genossenschaften, die uns Arbeitern nichts helfen, wenn wir nicht Kleinhandwerker sind.«

»Ja,« nahm Dr. Dammer wieder das Wort, »besonders möchten wir Sie auch bitten, sich über den Wert der Assoziationen für die ganz unbemittelten Volksklassen auszusprechen.«

Alle blickten erwartungsvoll auf Lassalle. Still stieg der Rauch der Zigarren zur Decke.

»Zunächst,« hob er an, »ist es geradezu vollständig beschränkt, zu glauben, daß die Arbeiter die politische Bewegung und Entwicklung nicht zu kümmern habe. Schon die Frage, ob Sie sich versammeln dürfen, Vereine gründen, ist eine von politischer Gesetzgebung abhängige Frage.«

Die Männer nickten.

»Nicht weniger falsch,« fuhr er fort, »ist das Ansinnen, daß Sie sich nur als Anhängsel und Resonanzboden der Fortschrittspartei zu betrachten haben. Eine solche Haltung geziemt nicht einer so mächtigen und selbständigen, ganz andere Ziele verfolgenden Partei, wie sie die deutsche Arbeiterpartei zu werden hat. Und dann, meine Herren,« – seine Wangen röteten sich – »diese Fortschrittspartei hat doch wohl gezeigt, daß sie einer entschlossenen Regierung gegenüber durchaus ohnmächtig ist und stets sein wird.«

Die Männer nickten.

»Hieraus folgt, daß der Arbeiterstand sich als selbständige Partei konstituieren muß.«

Die Männer nickten.

»Sie wünschen nun auch meine Meinung über den Wert der Assoziationen des Herrn Schulze-Delitzsch zu wissen. Nun, meine Herren, er ist das einzige Mitglied der Fortschrittspartei, das etwas für das Volk getan hat! Er ist durch seine unermüdliche Tätigkeit und obwohl alleinstehend und in gedrücktester Zeit der Vater und Stifter des deutschen Genossenschaftswesens geworden. Das ist ein Verdienst, das wir nicht hoch genug anschlagen können. Denn Wahrheit und Gerechtigkeit, meine Herren, auch gegen einen Gegner, ist die erste Pflicht eines Mannes. Und vor allem geziemt es dem Arbeiterstande, sich dies tief einzuprägen.«

Die Männer murmelten beifällig. Loewe strahlte.

»Aber,« hob Lassalle die Stimme, »die Wärme, mit der ich Schulze-Delitzschens Verdienst anerkenne, darf uns nicht hindern, mit kritischer Schärfe die Frage ins Auge zu fassen: sind seine Assoziationen, die Kredit- und Vorschuß-, die Rohstoff- und die Konsumvereine imstande, die Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes zu bewirken? Und auf diese Frage muß die Antwort allerdings das entschiedenste ›Nein‹ sein! Das will ich Ihnen in aller Kürze beweisen.«

Und er legte ihnen dar, daß die Kredit-, Vorschuß- und Rohstoffvereine nur für den kleinen Handwerker mit eigenem Betriebe in Betracht kämen, diesen indessen auch nicht förderten, vielmehr nur seinen Todeskampf mit der Großindustrie verlängerten, die Qualen seiner Agonie vermehrten und die Entwicklung der Kultur unnütz aufhielten.

»Bleiben also die Konsumvereine. Sie helfen gewiß momentan. Aber wie lange? So lange, meine Herren, bis das eherne Lohngesetz sich die Verbilligung der Lebenshaltung, die durch die Konsumvereine im Lebensunterhalt der Arbeiter eintritt, zunutze macht.«

Und nun hob Lassalle den erregt aufhorchenden Männern den Schleier von der aussaugenden Macht des Ricardoschen Lohngesetzes und entwickelte ihnen das Programm, durch welches seine tückische Herrschaft gestürzt werden sollte.

Klar, logisch, hinreißend sprach er, wie damals in Klingbeils niedriger Stube. Doch jetzt war ihm alles altgewohnt und oft durchdacht. Mit packender Anschaulichkeit legte er sein Reformwerk dar. Der junge Loewe saß stumm dabei und blickte triumphierend in die aufstaunenden Augen der drei Leipziger.

Oftmals taten sie Fragen, die ihr tiefdringendes Verstehen verrieten. Und als Lassalle rief: »Das allgemeine und direkte Wahlrecht ist also nicht nur Ihr politisches, es ist auch Ihr soziales Grundprinzip, die Grundbedingung aller sozialen Hilfe, es ist das einzige Mittel, um die materielle Lage des Arbeiterstandes zu verbessern,« da fragten sie alle drei wie aus einem Munde:

»Ja, wie sollen wir die Einführung dieses Wahlrechts bewirken?« Jetzt hatte Lassalle den Weg gefunden. Damals, als er bei Klingbeil zuerst von seinem Plane sprach, hatte die Revolution noch im Hintergrunde seiner Gedanken als Zwangseinführung des Wahlrechts gedroht. Doch Buchers Realpolitik war nicht vergeblich in diesem Zimmer verhallt. Jetzt hatte Lassalle ein anderes Mittel ersonnen.

»Blicken Sie auf England,« wies er. »Mehr als fünf Jahre hat die große Agitation des englischen Volkes gegen die Korngesetze gedauert. Dann aber mußten sie fallen.«

Und nun stand er inmitten dieser ersten kleinen Arbeitergemeinde, die ihn um Rat und Hilfe anrief. Mit erhobener gebietender Stimme befahl er:

»Organisieren Sie sich als ein Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein zu dem Zweck einer gesetzlichen und friedlichen, aber unermüdlichen Agitation für die Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts in allen deutschen Ländern. Von dem Augenblicke an, wo dieser Verein nur 100 000 deutsche Arbeiter umfaßt, wird er bereits eine Macht sein, mit der jeder rechnen muß. Pflanzen Sie diesen Ruf fort in jede Werkstatt, in jedes Dorf, in jede Hütte. Debattieren Sie, diskutieren Sie überall, täglich, unablässig, unaufhörlich. Je mehr das Echo Ihrer Stimme millionenfach widerhallt, desto unwiderstehlicher wird ihr Druck sein. Stiften Sie Kassen, zu welchen jedes Mitglied des Deutschen Arbeitervereins Beiträge zahlen muß. Bei einem wöchentlichen Beitrag von nur einem Silbergroschen würde bei hunderttausend Mitgliedern der Verein jährlich 160 000 Taler verwenden können. Gründen Sie mit dem Gelde öffentliche Blätter, die täglich dieselbe Forderung erheben, verbreiten Sie Flugschriften, besolden Sie Agenten, welche dieselbe Einsicht in jeden Winkel des Landes tragen, das Herz eines jeden Arbeiters, eines jeden Häuslers, eines jeden Ackerknechts mit demselben Rufe durchdringen. Entschädigen Sie aus den Mitteln dieses Vereins alle diejenigen Arbeiter, die wegen ihrer Tätigkeit für denselben Schaden und Verfolgung erlitten haben. Wiederholen Sie täglich, unermüdlich dasselbe! Wieder dasselbe, immer dasselbe! Je mehr es wiederholt wird, desto mehr greift es um sich, desto gewaltiger wächst seine Macht!«

»Bravo!« schoß Vahlteich begeistert in die Höhe.

»Ausgezeichnet!« flüsterte Dr. Dammer.

Fritsche rieb sich verständig die braunen Zigarrendreherhände.

Loewe sprühte Triumph.

Da schloß Lassalle: »Alle Kunst praktischer Erfolge besteht darin, alle Kraft zu jeder Zeit auf einen Punkt – auf den wichtigsten – zu konzentrieren und nicht nach rechts noch links zu sehen. Blicken Sie nicht nach rechts noch links, seien Sie taub für alles, was nicht allgemeines und direktes Wahlrecht heißt oder damit im Zusammenhang steht und dazu führen kann. Das allgemeine Wahlrecht von 96 Prozent der Bevölkerung als Magenfrage aufgefaßt und daher auch mit der Magenwärme durch den ganzen nationalen Körper hin verbreitet – es gibt keine Macht, die sich dem lange widersetzen könnte!

Dies, meine Herren, ist das Zeichen, das Sie aufpflanzen müssen. Dies ist das Zeichen, in dem Sie siegen werden! Es gibt kein anderes für Sie!«

Er schwieg, heiß vom langen Sprechen und vom Rausche der Idee. Die Männer standen lange ehrfürchtig vor dem Sessel, in den er erschöpft gesunken war.

»Das ist – das ist –« stammelte Dr. Dammer, »das ist das Größte, das ich erleben kann.«

»Sie sind ein Lichtbringer,« bebte Vahlteich, der viel gelesen hatte.

Und Fritsche sagte: »Sie sind unser Retter, Herr Doktor.«

Ihre Gesichter glühten. Das war der Mann ihres Heils! Das war die Idee des Jahrhunderts. Das war der Messias, der die Idee des Jahrhunderts zur Tat führen konnte! Langsam überwanden sie die andächtige Scheu.

Sie standen umher und siedeten und sprachen kampfhitzig durcheinander.

Der junge Loewe sprühte Triumph.

Ehe sie, kurz vor Mitternacht, das Haus verließen, bat Dr. Dammer: »Wäre es sehr unbescheiden, wenn wir Sie bäten, uns das kurz aufzuschreiben» was Sie uns soeben entwickelt haben? Das Komitee in Leipzig würde Sie dann noch offiziell darum bitten.«

»Ich schreibe es gern für Sie nieder,« erfaßte Lassalle sofort die Hand des Schicksals.

Und als die Deputation unter Loewes Führung die einsame Bellevuestraße hinabschritt, ein jeder begeistert die Lobesfanfare auf diesen seltenen Mann schmetternd, stand er am Fenster und sah auf zu den ewigen Sternen am kalten frostklaren Nachthimmel. –

Jetzt war sein Tag, sein arbeitsheißer Tag gekommen. Jetzt stand er mitten in der Bewegung. Jetzt war der Kampf entbrannt. Vorwärts jetzt zum Siege! Wenige Tage später kam die schriftliche Bitte des Zentralkomitees. Und wieder einige Tage später flatterte Lassalles »Offenes Antwortschreiben« als Broschüre hinaus in die Welt. »Die Stiftungsurkunde des deutschen Sozialismus« war mit ehernen Lettern geschrieben.

Faksimile

Wie einst Luther an die Schloßkirche zu Wittenberg hatte er seine Thesen an die verschlossenen Pforten der Menschlichkeit geschlagen, daß sie weit aufsprangen unter der Wucht seiner dröhnenden Hammerschläge.

Wie ein Feuerbrand im Pulverfaß zündete das Antwortschreiben unter den Arbeitern. Es las sich in Lassalles klarer Sprache so leicht, daß es ihnen war, als wüßten sie all diese Weisheit jahrelang.

Doch aus dem Lager der Fortschrittspartei heulte und pfiff der Sturm. Man erkannte sofort, was auf dem Spiele stand. Die ganze liberale Presse fiel über das »Antwortschreiben« her und zerfetzte es in Stücke. Sie behauptete, das eherne Lohngesetz gelte in der Wissenschaft als längst überwunden, Lassalle verstehe von Ökonomie kein Wort, er greife die Fortschrittspartei nur an, um sich lieb Kind bei der Regierung zu machen und in der Berufungsinstanz seines Strafprozesses eine geringere Strafe zu erlangen.

Renegat, Apostat, schrie es durch den fortschrittlichen Blätterwald. Und Herr Schulze-Delitzsch schalt gewaltig auf »das ganze Halbwissen des Herrn Lassalle und seine gänzliche Unfähigkeit, jemals auf diesem Gebiet eine irgend lebensfähige Schöpfung hervorzubringen – und die Sinnlosigkeit der von ihm empfohlenen Mittel.« Die konservative Presse aber freute sich über die Wut der Liberalen.

Die Arbeitervereine wurden gegen den Friedensstörer Lassalle mobil gemacht. Heftige Kämpfe prasselten auf in allen Bildungsvereinen. Durch die gesamte Arbeiterschaft klaffte ein tiefer Riß. Hie Lassalle! – Hie die Anhänglichkeit an die alte Tradition und die liebe fürsorgliche Mutter Fortschrittspartei!

Doch Lassalle war nicht müßig. Jetzt brach die Zeit an, da seines Lebens Tag darin bestand, in Wort und Schrift sein Programm zu propagieren und gegen alle Einwände und Angriffe mit Titanenkraft zu verteidigen. Die kurze Spanne, die ihm das Schicksal noch ließ, ward ein großer nimmerruhender Kampf um die Durchsetzung der Thesen seines Antwortschreibens.

Schon der 16. April 1863 fand ihn in Leipzig auf der Rednerbühne des »Odeon«. Auf Einladung des Komitees war er hinübergeeilt, mit seinem Worte seine Reform zu verteidigen.

Dichtgedrängt saßen und standen die 4000 Arbeiter, die gekommen waren, den neuen Messias zu sehen und sein Heilandswort zu hören. Auch der Feind war zugegen in Scharen.

Lassalle stand oben am Rednerpult, das Katheder vor ihm mit einem Wall von Büchern und Folianten umkränzt. Denn er blieb stets der ernste Mann der Wissenschaft, der auch in seinen Volksreden die treue Jüngerschaft der hehren Göttin seines Geistes nicht verleugnete. Er ersparte seinen Hörern nicht die längsten wissenschaftlichen ökonomischen Ausführungen, als spräche er vor einer Akademie der Wissenschaft. Doch immer blieb er einfach und jedem Arbeiterhirn verständlich. Er häufte ihnen in endlosen Zitaten die Zeugnisse aller großen Gelehrten als Beweis für die geltende Herrschaft des »ehernen Lohngesetzes«. Aber wenn er dann mit feinem Taktgefühl die Erschlaffung ihrer Aufmerksamkeit empfand, dann brach der geborene Demagoge und leidenschaftliche Volksredner aufpeitschend und die verborgensten Tiefen dieser dunklen Seelen aufwühlend aus ihm hervor. Dann schleuderte er die vornehme Ruhe des Gelehrten zu Boden, dann arbeiteten die Arme, dann blitzten die machtvollen blauen Augen, dann rollte die Stimme stark und sonor bis in den hintersten Winkel der großen Säle. Dann schlug der Wetterstrahl seiner Empörung zündend ein in das dumpfeste Gemüt auf der allerletzten Bank, dann brach eine wilde Springflut hernieder über die aufhorchende Gemeinde, schwemmte sie heraus aus den Niederungen ihrer stumpfen Gleichgültigkeit und riß sie auf hochgischtenden Wogen hinaus ins weite Meer der Hoffnung und der Zukunft.

Und in die Sturmflut heulte der Orkan der Gegner. Dann stand Lassalle auf seinem Podium, die Arme über der Brust gekreuzt, den Cäsarenkopf stolz zurückgeworfen – und wartete – wartete, wie er sein Leben lang gewartet hatte, bis seine Zeit kam. Und sie kam fast stets. Denn schließlich warf der Zorn seiner Anhänger die tobenden Widersacher zur Tür hinaus.

Immer schloß er unter spontanem Jubel seiner Hörer.

In Leipzig rief er, seine Rede krönend, unter die 4000 Hörer:

»Hier in Sachsen war es, daß Luther die berühmten Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg schlug; hier in Sachsen war es, daß nach der Leipziger Disputation die päpstliche Bannbulle von den Wittenberger Studenten verbrannt wurde. Hoffen wir, daß auch der belebende Hauch der großen Reformation, welche dieses Jahrhundert erfordert, von hier ausgehen und seine Wirkung über die Fluren des Vaterlandes verbreiten werde!«

Da stürmten 4000 deutsche arbeitende Männer auf zu dem Podium und streckten ihm die arbeitsschwieligen Hände entgegen und blickten zu ihm empor als dem Retter in ihrer schweren Not.

Bald darauf sprach er in Frankfurt zu den Arbeitern des Maingaues. Die Feinde hatten ihn gefordert. Zu Frankfurt sollte ihm sein Hauptgegner Schulze-Delitzsch öffentlich entgegentreten und ihm vor aller Welt seine Unwissenheit ins Gesicht schleudern.

Freunde rieten ihm ab von der Fahrt. Doch Lassalle lachte stolz: »Der ewige Ruhm des Römers Manlius war es, eine Schlacht unter den ungünstigsten Zeichen, unter den unheilvollsten Vorbedeutungen zu beginnen, und dennoch zu siegen. Ich will versuchen, ihm nachzuahmen. Ich muß hin und muß siegen. Ha, ich will meine alte revolutionäre Mähne schütteln.«

Und er ging und siegte, wie einst Napoleon bei der Rückkehr von Elba mit den Truppen siegte, die ihm die Feinde entgegengesandt hatten.

Schulze-Delitzsch hatte der Tapferkeit klügeren Teil gewählt – und blieb der Disputation fern – »wegen geschäftlicher Überbürdung!«

Und Lassalle sprach, sprach vier Stunden lang, allen Unterbrechungen der Gegner zum Trotz. Er variierte immer wieder von neuem das Thema vom »ehernen Lohngesetz«: »Sie glauben, meine Herren, daß Sie Menschen sind? Ökonomisch gesprochen und also in der Wirklichkeit, irren Sie sich ganz ungeheuer. Ökonomisch gesprochen sind Sie weiter nichts als eine Ware! Sie werden vermehrt durch höheren Lohn, wie die Strümpfe, wenn sie fehlen; und Sie werden wieder abgeschafft, Ihre Zahl wird durch geringeren Arbeitslohn, – durch das, was der englische Ökonom Malthus die vorbeugenden und zerstörenden Hindernisse nennt – vermindert wie Ungeziefer, mit welchem die Gesellschaft Krieg führt. Ducpectiaux sagt: ›Die Hälfte der Spinnkinder stirbt, ehe sie das erste Jahr zurückgelegt haben, während bei Unternehmern und Kaufleuten die Hälfte der Kinder das Alter von 30 Jahren erreicht.‹ Wenn Ihnen Ihre Kinder sterben, meine Herren, so glauben Sie, das sei ein Zufall. Es ist kein Zufall, wie Sie sehen, es ist ein eisernes, statistisches Gesetz, wurzelnd in Ihrer schlechten Lage!«

Und als er schließlich durch wüstes Gebrüll gezwungen wurde abzubrechen, vertagte er die Versammlung auf den übernächsten Tag und hielt am 19. Mai unter tosendem Beifall seine Rede zu Ende, nachdem die Gegner unter Hohngelächter der Anhänger Lassalles den Saal verlassen hatten.

Mit allen Stimmen gegen eine wurde der Antrag auf »Bildung eines Deutschen Arbeitervereins

Statut
des
Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins

§. 1.

Unter dem Namen »Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein« begründen die Unterzeichneten für die Deutschen Bundesstaaten einen Verein, welcher, von der Ueberzeugung ausgehend, daß nur durch das allgemeine gleiche und direkte Wahlrecht eine genügende Vertretung der sozialen Interessen des Deutschen Arbeiterstandes und eine wahrhafte Beseitigung ber Klassengegensätze in der Gesellschaft herbeigeführt werden kann, den Zweck verfolgt,

auf friedlichem und legalem Wege, insbesondere durch das Gewinnen der öffentlichen Ueberzeugung, für die Herstellung des allgemeinen gleichen und direkten Wahlrechts zu wirken.

§. 2.

Jeder Deutsche Arbeiter wird durch einfache Beitrittserklärung Mitglied des Vereins mit vollem gleichen Stimmrecht und kann jeder Zeit austreten.

auf Grund des Lassalleschen Programms« angenommen. Denn er hatte mit den Worten geschlossen: »Und darum sage ich Ihnen, meine Herren, bei der ganzen Liebe, die ich zu der Sache der arbeitenden Klasse in mir trage, meine ganze Seele hängt an Ihrer Abstimmung. Jetzt stimmen Sie!«

Da stimmten sie Mann für Mann die Gegnerschaft nieder, stimmten für ihren fackelschwingenden Prometheus dort oben auf der Rednerkanzel.

Jetzt stand er an der ersten Siegessäule seines Weges: Der allgemeine Deutsche Arbeiterverein, den er in seinem Antwortschreiben als nächstes Ziel der Bewegung bezeichnet hatte, wurde in Leipzig gegründet. Der 23. Mai 1863 war dieser Ruhmestag. Lange wurde über die Statuten des Vereins beraten.

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Mit Rücksicht auf die noch nicht vertretenen Städte sollen bei der Vorstandswahl nur siebenzehn Mitglieder, einschließlich des Präsidenten, erwählt und denselben die Befugnis übertragen werden, sich mit einfacher Majorität auf die Zahl von fünfundzwanzig zu ergänzen

Leipzig, den 23. Mai 1863.

J. Vahlteich aus Leipzig, als 1. Vorsitzender. J. Schöppler aus Mainz, als 2. Vorsitzender. Otto Dammer aus Leipzig, als Schriftführer. Th. Audorf aus Hamburg. W. Heymann aus Frankfurt a. M. H. Hillmann aus Elberfeld, N. Läßig aus Dresden, G. Lewy aus Düsseldorf, F.C.A. Perl aus Hamburg, Th. Yorck aus Harburg.

Hier brach Lassalles Ehrgeiz, sein tiefeingewurzeltes Verlangen nach Macht, unverschleiert hervor. Hier warf der Herrscher in ihm den Mantel des Demokraten ab. Er schmiedete die Verfassung des Vereins so, daß er absoluter, unumschränkter Autokrat seines Arbeitervolkes wurde. Der Verein, gebot er, muß der Hammer in der Hand eines einzelnen sein. Vahlteich widersetzte sich und rief: »Jetzt ist die Diktatur fertig.«

Da lächelte Lassalle: »Ganz fertig ist sie doch noch nicht; aber es läßt sich eine gute Diktatur daraus machen.«

Er wurde auf fünf Jahre zum Präsidenten des Vereins gewählt. –

Der Traum seiner Jugend war Wirklichkeit geworden. Er war ein gekrönter Gebieter, ein regierender König, und sein Volk würde bald zählen nach Tausenden, nach den Hunderttausenden der enterbten ringenden Söhne der deutschen Lande.


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