Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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V.

Der Februar verging, der März verstürmte im Frühlingswehen, der April brachte den Lenz. Lassalle sah ihn nicht. Sein Dasein hatte eine neue Richtung genommen. Er hatte das Ziel seines Lebens gefunden. Jetzt wußte er, wo seine Aufgabe lag. Ja, die Enterbten befreien! Hier winkte die Mesiastat, hier winkte die Macht, von der er ahnungsvoll seit den jungen Tagen träumte. An der Spitze der marschierenden Bataillone der befreiten Arbeiter in Berlin einziehen durch das Brandenburger Tor! Dereinst – dereinst! Hier lag seine Lebensaufgabe. Und er griff sie auf mit dem lohenden wissenschaftlichen Eifer seiner Flammennatur.

Sein klarer Verstand erkannte sofort, daß seine Aufgabe die tiefsten Einblicke in die Gesetze der Volkswirtschaft erzwang. Wer auf den Plan trat, die Lage der Lohnsklaven zu bessern, mußte das ökonomische Gebäude seines Volkes umstürzen und – wieder neu und besser von den Fundamenten an auf der Trümmerstätte errichten. Er mußte den Wirtschaftskörper seines Volkes kennen, wie der helfende Arzt den Körper des Kranken kennt. Er mußte jede verborgene Arterie klopfen hören, jeden Pulsschlag fühlen, jedem Atemzug lauschen, jeder Verästelung des Venensystems nachspüren, in dem das Blut des Volkslebens siedete.

Wohl hatte er schon früher, angeregt durch die Freundschaft mit Karl Marx, ökonomische Studien getrieben, doch nur oberflächlich und immer von der Warte des Kämpfers um die politische Freiheit herab. Nie hatte er dabei die Arbeiter und ihre Erlösung als Ziel erspäht. Jetzt warf seine neu entzündete Lebensfackel in alle ökonomischen dunkeln Schächte ihr erleuchtendes Aufklärerlicht.

Mit tiefbohrendem Ernste ging er ans Werk, sich zu umgürten mit dem ganzen Rüstzeug der nationalökonomischen Wissenschaft, um dann bis an die Zähne mit den Geisteswaffen seiner Zeit bewehrt, in den Kampfplatz hinabzuspringen.

Doch auch das Drama galt es zu beenden. Rastlos schuf er Szene auf Szene. Kaum verließ er den Schreibtisch. Für Marie nicht, für Ludmilla nicht, für die Freunde nicht blieb ihm die Zeit. Und nur des Abends bisweilen wanderte er hinein in die Stadt, weit hinauf die Große Friedrichstraße zum ärmlichen Norden, wo in dunklen luftlosen Quartieren die Arbeiter Berlins eng zusammengepfercht hausten. Dort ging er hin durch die engen Straßen, wenn sie schweiß-dünstig von der Arbeit kamen, trieb in ihrer Mitte, und wenn staunende mißtrauische Blicke den eleganten Herrn im Zylinder und Nerzpelz streiften, glühten ihm die Augen auf, und er dachte: »Wartet nur, wartet nur noch kurze Zeit. Dann ist euer Tag gekommen und – der meine!«

Marie Krafft litt bitter unter der Unerbittlichkeit, mit der er sich in seine Arbeit vergrub. Jedesmal, wenn sie scheu bei ihm anpochte, kribbelte er: »Ich habe wirklich keine Zeit, Kind. Das Drama brennt mir unter den Fingern. Es muß fertig werden. Eine andere Aufgabe ruft.« Und wenn sie ihn anflehte, ihr sein neues Planen anzuvertrauen, sie als guten Kameraden zu behandeln, schüttelte er nur den eigenwilligen Kopf und vertröstete: »Später, später sollt ihr von mir hören.«

»Ihr!« betonte sie dann schmerzlich, »gehöre ich zu dem Troß ›Ihr‹! Ich weiß ja, das Neue ist dir an jenem Februartage in unserer Fabrik gekommen. Sag es mir! Laß mich an deinem Leben teilnehmen! Fühlst du nicht, wie schmachvoll es für mich ist, daß du nur das Weib in mir begehrst, den Menschen aber als fremden Bettler vor der Tür harren läßt?«

Dann wurde er nervös, und sie ging in Erniedrigung und in Harm. –

Eines Mittags bei Tisch war der Vater recht schweigsam. Sonst, wenn nicht geschäftliche Ärgernisse auf seiner guten Laune lasteten, war er heiter und unterhaltend. Etwas bedrückte seine kernige Behaglichkeit.

Es war schon lange her, daß Herr Hirsch Mendelsohn ihm mit kummertiefen Leidfalten um die vorspringenden Augen schmerzbewegt berichtet hatte, daß »sein Freund«, Herr Dr. Lassalle, zurzeit leider jeder ehelichen Verbindung abgeneigt sei. Herr Krafft hatte die Botschaft ohne sonderliches Bedauern vernommen. Seine Pläne gingen seit einiger Zeit eine andere Richtung.

Als Marie jetzt ihre Serviette zusammenrollte und durch den silbernen Ring zog, räusperte sich Vater Krafft und platzte, obwohl er sehr diplomatisch und zartfühlend hatte zu Werke gehen wollen, mit der Frage heraus: »Möchtest du Herrn Strasser heiraten?«

Marie starrte auf.

»Er hat heute bei mir um deine Hand angehalten,« erläuterte der Vater verlegen.

Marie starrte noch immer wortlos. Dem Alten wurde es unbehaglich unter ihrem staunenden Blick. »Es kann dir doch nicht so überraschend kommen,« suchte er zu begründen, »es muß dir aufgefallen sein, wie oft er in letzter Zeit abends zu uns gekommen ist.«

Nein, bei Gott, es war ihr nicht aufgefallen. Ihre Gedanken, ihr Sinnen und Grübeln war fern von diesen väterlichen Wänden geflattert. Sie begegnete dem jungen Menschen liebenswürdig und freundlich, wie es ihre Pflicht als Hausfrau war. Doch nie leuchtete ihr die Erkenntnis auf, daß seine häufigen Besuche ihr galten. Dem Vater und seiner Geschäftserfahrung schrieb sie seinen Eifer zu. Er hatte ja auch meist mit dem Vater gefachsimpelt.

Sie schwieg noch immer.

»Nun?« suchte der Vater die peinliche Stille zu beleben, »was denkst du? Ich für meinen Teil habe ihn liebgewonnen. Ein kluger Mensch ist er, und für die Fabrik könnte ich mir keinen tüchtigeren Teilhaber wünschen.«

»Ich kenne ihn ja gar nicht,« begann Marie ihre Abwehr. »Du kennst ihn nicht!« Der Alte ließ das Streichholz sinken, mit dem er eben die Zigarre in Brand setzen wollte. »Du kennst ihn nicht?«

»Nein, Papa. Er hat doch nie mit mir gesprochen. Immer nur Geschäftliches mit dir.«

»Er hat doch oft genug über Kunst und Theater und alles Mögliche geredet, und du hast dich beteiligt.« Der Vater zog die Luft ein. Das Zigarrenende glühte auf in rotem Kreise.

»Ich habe nie in ihm einen Bewerber gesehen,« gestand Marie zögernd. »Und ich kann auch keinen in ihm sehen.«

Der Alte schwieg und betrachtete stumm die glimmende Zigarre. Da sprang Marie auf, trat zu ihm, legte den Arm um seinen Nacken und heuchelte: »Ich mag noch nicht heiraten, Papa. Laß mich doch noch! Du brauchst mich ja auch.«

»Ich brauche einen Nachfolger,« sagte Krafft ernst.

»Sieh mal,« schmeichelte sie, »wer soll für das Haus hier sorgen?«

Da schwieg der Alte. Eine Pause, schwer von bösen Erinnerungen, sank nieder. Sie dachten beide an die Frau, die vor langen, langen Jahren mit dem italienischen Sänger von ihren Pflichten und ihrer Liebe in Nacht und Nebel davongelaufen war.

Endlich erhob sich Krafft. »Es ist doch nicht am Ende noch Lassalle, der meiner kleinen Marie im Kopf herumspukt?« lächelte er mit kaum verborgener Sorge. Sie umkrallte die Stuhllehne.

»Nein,« flüsterte ihr bleicher Mund. »Das ist gut,« sagte befreit der Vater, »denn unter uns, ich weiß aus guter Quelle, daß er nicht an Heiraten denkt.« Und ihr zärtlich die Wange streichelnd, nickte er trostreich: »Also überleg' dir das mit Strasser. Ich will dich nicht drängen. Du kannst es dir ruhig überlegen. Strasser ist geschäftlich nach London gereist und kommt erst in einigen Wochen zurück. Es eilt also gar nicht. Nur eins bitte ich dich zu bedenken: mir wäre es eine große Freude.« Er ging zur Tür. »Und dann,« er blieb noch einmal stehen, »wenn du meinst, du müßtest ihn erst noch besser kennen lernen, dem stünde doch nichts im Wege. Ich würde ihm das sagen und euch öfter euch überlassen.« Damit nickte er ihr ermunternd zu und ging.

Marie schritt langsam hinüber in ihr lichtes Zimmer. Das hölzerne Bett mit seinem Himmel in strömendem Musseline, die zierlichen polierten Möbel, die Rahmen der Bilder an der Tapete, alles glänzte in schimmerndem Weiß. Die einzigen dunklen Stellen bildeten die Stiche selbst. Es waren Huldigungen Mariens an ihren Lieblingshelden, den jungen alten Fritz, und an seinen Tempelbauer, den kleinen kahlköpfigen Meister Adolf Menzel aus der Ritterstraße, dem sie oft auf der Straße begegnete.

Da waren gute Holzschnitte der herrlichen »Tafelrunde zu Sanssouci«, des »Konzerts bei Hofe«, »Friedrich der Große auf Reisen«, »Friedrich und die Seinen bei Hochkirch«; da waren die teuer erstandenen eben erschienenen »Versuche auf Stein mit Pinsel und Schabeisen« und jene lebensprühenden Holzzeichnungen »aus König Friedrichs Zeit«.

Sonst, wenn sie ihr helles Zimmer betrat, glitt ihr Blick stolz und liebefroh über ihren Bilderschatz. Aber heute ging sie achtlos an ihm vorbei, trat zu dem weit offenen Fenster, legte den Arm an das Kreuz, preßte die Stirn gegen die samtwarme Haut und blickte schmerzverloren hinaus.

Ein würziger Duft von Erde und Werden atmete zu ihr herein aus den knospenden Gärten. Weit, weit vor ihr war nichts als junges treibendes Grün. An den Park ihrer Villa grenzte das Gelände des größten und schönsten Berliner Konzert- und Wirtsgartens, das baumreiche Gebiet des Hofjäger-Etablissements. Von ihrem Fenster aus genoß sie im Sommer die gute Musik der Wieprechtschen Monstrekonzerte. Jetzt war es noch still und feucht in der rieselnden Auferstehung.

Das Mädchen stand und blickte hinaus. Draußen im Garten zankte sich eine Spatzensippe, in der Ferne klopfte irgendwo ein Specht. Und die quellende Lenzstimmung strömte dem jungen Weibe in die Brust und löste den Kummer zu Tränen.

»Was wird daraus werden?« bangte sie. »Ich bin ihm nichts, nichts. Er kann nicht lieben, nichts als sich selbst. Ich werfe mich ihm zu Füßen, erniedrige mein Menschentum vor ihm und bettele um seine Liebe. Und bin ihm ein Nichts.«

Sie löste den Arm vom Fenster und ballte die Fäuste. »Ich will mich von ihm losreißen,« biß sie die Lippen blutig, »ich will, ich will!«

Unstet schritt sie auf dem weichen, weißen Teppich einher. »Gerade – ihm zu zeigen, daß ich frei von ihm bin,« trotzte sie auf, »nehme ich den andern. Ich tu's! Ich tu's!«

Sie trat wieder zum Fenster. Draußen auf der Kastanie, die schon erste schüchterne rote Dolden fast bis zu ihr hereinstreckte, saß eine Amsel und blickte sie mit klugen schwarzen Augen treuherzig an. Da schwand ihr Trotz und ihre Festigkeit.

Sie eilte zu dem mit weißem Kattun bespannten Hutschrank und griff nach ihrem hübschen Spitzenkapottchen. Als sie vor dem Spiegel stand, sanken ihr die Hände. Mit schnellem Griff schleuderte sie den Hut aufs Bett. Nein, nein, nicht diese Schmach! Nicht sich wieder von ihm fortweisen lassen. Nein, das nicht!

Sie blickte ratlos im Zimmer umher. Ein jähes Einsamkeitsgefühl lief ihr kalt über die Schultern. Hinaus, fort, unter Menschen! Ihrem Suchen kam der Gedanke, daß heute am Donnerstag bei Dunckers Jour sei. Sie sah nach der Uhr. Es war noch zu früh. Da nahm sie von dem Schreibtischchen ein Buch, das ihr gestern die Nicolaische Buchhandlung gesandt hatte, die ihr die Neuerscheinungen übermittelte. Sie betrachtete es. »Gustave Flaubert. Madame Bovary.« Sie schnitt die Blätter mit dem elfenbeinernen Falzbein auf und las. – –

Als Marie den lichter-strahlenden Salon im Hause Potsdamerstraße 20 betrat, tummelte sich bereits ein bunter Kreis in dieser herzlichen Dunckerschen Gastlichkeit. Farbe, Farbe, war ihr erster Eindruck. Die Mode der Krinolinen hatte die Roben zu ungeheuerlichem Umfang anschwellen lassen und verführte zu einer bunt schwelgenden Verschwendung von bauschender, drapierter, faltenstrotzender Fülle an Samt, Damast und Brokat. Sie brachte in die äußere Nüchternheit des guten alten Berliner Salons der Rahel und Herz ein jubelndes Gleißen in Üppigkeit und Farbenfrohsinn.

Auf Sofas und Stühlen breitete sich diese neue Damenherrlichkeit.

Sofort beim Eintreten in diesen großen Saal im Erdgeschoß der Villa mit seinen phantastischen Wandspiegeln in farbigen, goldgefaßten, geschnitzten Rahmen, den Büfetts, den seltsamen steifen Sofas im Empirestil, alles alte liebe Erbstücke Frau Linas, empfand Marie einen körperlichen Stoß in die Brust. Dort, in einer verschwiegenen Ecke, saß Lassalle dicht an der Seite der Schwester der Hausfrau in der ihm eigentümlichen lebhaften Vertraulichkeitsstellung. Er beugte sein Gesicht dicht an Betty Tenderings Busen und sprach lebhaft auf das schöne junge Weib ein.

Während Marie durch die ungezwungen plaudernden Gruppen hinüber zu dem Erker schritt, in dem die Hausfrau mit dem Intendanturrat Fabrice saß, dachte sie bitter: »Dazu findet er Zeit! Aber für mich hat er keine Minute.«

Lina streckte ihr mit ihrem anmutigen Lächeln die Hand entgegen und zog sie neben sich auf das Sofa nieder: »Kommen Sie, Marie, bleiben Sie hier bei mir! Vielleicht gelingt es Ihnen, Öl in die erregten Gemütswogen unseres braven Rats zu gießen.«

»Das dürfte dem Fräulein kaum gelingen,« schüttelte Fabrice den Kopf. Man hätte ihn nach Haltung und Erscheinung für einen Kavallerieoberst in Zivil halten können, mit seinem strammen korrekten Gebaren und den wetterfesten schnurrbärtigen Zügen. »Ich wiederhole es Ihnen, Frau Lina, es gibt noch einmal einen Eklat. Sie kennen die Stimmung nicht, die gegen diesen Menschen unter uns älteren Freunden Ihres Hauses herrscht.«

»Von wem ist die Rede?« fragte Marie.

»Von Lassalle,« lächelte Lina.

Fabrice fuhr heftig fort: »Wie harmonisch und freundlich war es hier in diesem Hause, ehe dieser Abenteurer hereinbrach. Und wie benimmt er sich! Als wäre dieser Salon nur für ihn da. Sehen Sie nur, wie er dasitzt, dieser Bursche! Diese Impertinenz in jeder Bewegung.«

Sie blickte hinüber. Lassalles Knie streifte deutlich die Krinoline der Dame.

»Ich würde ihn nicht fünf Minuten mit einer jungen Dame allein lassen, diesen Frauenverführer,« hetzte Fabrice weiter. »Ich begreife Sie nicht, Frau Lina, was Sie und alle die andern an diesem Menschen finden. Ich muß sagen, mir und sehr vielen Ihrer Freunde ist er geradezu peinlich.«

Lina fuhr sacht mit der Hand über ihr mattbraunes, schlicht gescheiteltes Haar. In ihren grünlich-grauen Katzenaugen glomm es schalkhaft auf. »Sollte es nicht ein bißchen, ein ganz klein bißchen Eifersucht sein, lieber Freund?« fragte sie in ihrer bestrickend geraden Art.

Fabrice schnappte nach Luft.

»Ei – Eifersucht auf diesen Phrasendrescher!«

»Nun,« lächelte Lina, und ihre bleichen unschönen Züge bekamen Farbe, »nur Phrasendrescher ist er wohl nicht. Geist kann ihm keine Erbitterung absprechen.«

»Die paar schlechten Witze, die er macht, machen das aufdringliche Protzen mit seinen Geistesgaben nicht erträglicher. Ein Maulheld ist er, weiter nichts.«

Lina öffnete den klugen schalkhaften Mund. Doch Marie stürmte vor: »Er hat doch wohl in seinem Kampf für die Gräfin Hatzfeld und 1848 bewiesen, daß er mehr ist als ein Maulheld.« Lina nickte Beistand. Fabrice aber grollte bissig: »Daß die jungen Damen in ihn vernarrt sind –«

»Oh – oh,« bedauerte Lina die unschöne Heftigkeit. Doch Fabrice ließ sich nicht unterbrechen: »das wundert mich nicht. Heldenpose hat noch immer Weiber bestochen, und wenn ein Mohr sie stellte. Achtundvierzig war jeder Lausbub ein Held, und daß er für diese Dirne, die Hatzfeld – –«

»Aber – aber,« machte Lina vergeblich. Er sprudelte weiter: »Ich sage Ihnen: stellen Sie den Menschen da vor einer Mutprobe, und Sie werden sehen, wohin sich diese antike Römerseele verkreucht.«

»Sie dürften – –« begann Marie eine hitzige Entgegnung. Da öffnete sich die Tür, und Hedwig Dohm erschien mit ihrem Manne. Ganz in schwarze Seide gekleidet, einen schwarzen Schleier von dem schönen Kopfe niederwallend, schritt sie durch den Salon gerade auf Lassalle zu. Alles stob aus den gemütlichen Plauderecken auf und strömte ihr nach. Vor Lassalles Platz verbeugte sie sich tief, wandte sich dann um und schritt hoheitsvoll durch den Saal. Das Erbeben des Schleiers im Rücken verriet ihr koboldfrohes Lachen.

Alles starrte verdutzt. Man blickte auf die zierliche Gestalt der Frau, die größer schien als sonst in dem langen schwarzen, schleppenden Gewande, man blickte fragend auf Ernst Dohm, der mit dumm versteintem Gesicht aus seiner Brille herausguckte. Da plötzlich federte Lassalle auf, eilte hinter der gravitätisch Schreitenden her, trat vor sie hin, hob den langen Schleier, der ihr liebliches Gesicht umsponn, und sprach: »Dein demütiger Schüler, der unter dem Beifall Europas schon einmal den Schleier von deiner unnahbaren Schönheit gelüftet hat, lüftet ihn wieder. Küsse deinen stolzen Schüler, oh Heraklit, der Dunkle, von Ephesos!« Und keck küßte er die schöne Frau auf den überraschten Kindermund.

Da brach der Jubel los. Alles lachte und lärmte und klatschte in die Hände. Und Ernst Dohm stand da, nickte mit dem runden blonden Kopfe wie eine Pagode und staunte: »Er hat's erraten, er hat's wahrhaftig schon erraten!«

Und nun belebte jene liebenswürdige heitere Stimmung diesen Salon, die ihn zum Mittelpunkte des geistigen Berlins gemacht hatte. Jetzt fand auch Lassalle Zeit, Marie zu begrüßen. Doch bald war er wieder von einem Kreise vergötternder junger Damen umschwärmt.

Als der Hausherr aus dem Bureau hereinkam, ging es an die Büfetts. Im Dunckerschen Hause gab es noch nicht jene opulenten Massenabfütterungen, die später in jedem mittleren Bürgerhause Berlins zur Mode wurden. Stehend, plaudernd, anspruchslos aß man den einfachen kalten Imbiß und ließ sich sein Glas Bier kräftig munden. Und nach dem Schmause las man ein Shakespearesches oder Goethesches Drama mit verteilten Rollen, oder der Hausherr ließ seinen Gästen einen neuen Stern erglänzen, der an seinem Verlagshimmel aufgegangen war.

Als heute alles erwartungsvoll auf die Hausfrau blickte, um ihren Vorschlag zu vernehmen, lächelte sie vielverheißend geheimnisvoll: »Freunde, heute harret Ihrer eine große Überraschung. Ein neuer Dichter wird Ihnen debütieren.«

Ein allgemeines »Ah« antwortete. Man suchte den Neuling in allen Ecken und bestürmte Duncker mit neugierigen Fragen. Doch er zuckte die Achseln und blickte verschwiegen drein wie eine gut funktionierende Sphinx.

»Bitte, Platz nehmen!« klatschte jetzt Lina in die Hände. Fügsam erwartungsvoll flatterte es zu den Sofas und Stühlen. In die Mitte des Hörerkreises wurde ein kleines Tischchen nebst einem Stuhle gestellt – atemlose Stille starrte auf die Tür – triumphierend rief Lina: »Ich bitte, Herr Poet!« und – Lassalle trat an den Tisch.

Sekundenlang gähnten den Saal zwanzig weit geöffnete »Was!!« an. Mit gut gespielter Selbstverständlichkeit nahm Lassalle Platz. Ein Wispern und Flüstern huschte um den Saal, Marie wurde kalkigweiß in dem Schmerze, daß er hier sein Drama preisgab, ehe sie es kannte, aus der Ecke des Intendanturrates Fabrice kam ein unwilliges Knurren – und Lassalle sagte leichthin: »Ich habe ein historisches Trauerspiel geschrieben und bitte hierfür um Ihre Aufmerksamkeit.«

Er kämmte die Finger durch sein dichtes kurzes Haar und begann.

Gleich in der ersten Szene, als Marie, Sickingens Tochter, auftrat, blickte er rasch zu Marie Krafft hinüber. Da verstand sie die Huldigung und vergaß und vergab ihm alles Schmerzliche, das er ihr je getan.

Die gewaltige Handlung des Reformationsdramas rollte auf. Und Mariens Augen strahlten und ihre Wangen glühten, als die Liebesszenen zwischen Marie von Sickingen und Ulrich von Hutten ihr zartes Lied summten. Das war ja sie, Zug um Zug, Linie um Linie! Jetzt feierten ihre stillen Stunden bei ihm ihre dichterische Verklärung:

»Die Stunde ist's, Herr Ritter, wo Ihr mir
Die alten Dichter zu verdeutschen pflegt.
Denn nicht begnügt Ihr Euch, durch eigenen Gesang
Uns zu bezaubern – alles Herrliche,
Was Roms und Hellas' Dichter einst gesungen,
Habt Ihr mir schlichtem Mädchen offenbart.«

Ja, ja, die Stunden bei ihm waren reich gewesen, reich und gesegnet schön! Aufpassen, weiter! Alle Fibern in ihr waren gespannt. Jetzt gestand Marie dem Ritter ihre Liebe. Sie gestand ihre Liebe! Wie sie es an jenem Tage getan hatte, als sie zum ersten Male zu ihm gegangen war.

»Ja – Ulrich – ich gesteh's, ich liebe Euch,
Lieb' Euch mit aller Kraft des reinen Busens,
Dem Ihr der Menschheit Ideal bedeutet!
Ich liebe Euch – und sehet her, was mir –
Indem ich's sage, von der Stirne flammt,
Ist der Begeist'rung nur, und nicht der Scham, Errötung.«

Ja, ja, sie liebte ihn, liebte ihn. War sein, nur sein, sein! Weiter – weiter, da wieder ihr Wort:

»Eins nur wüßt' ich, dass die andern Männer
Mir neben Euch so klein – so klein erschienen!
Ich liebe Euch!«

Marie beugte sich vor, was würde Ulrich antworten?!

»Was Ihr mir hier gesagt, Marie, es hat
Unendlich glücklich mich gemacht – jedoch
Gleich einem Traumbild muß es allzuschnell verschwinden.
Verweht sei jedes Wort! Nehmt hier Euch selbst zurück!
Ich kann Euch nicht – darf Euch nicht an mich binden.«

Marie atmete nicht mehr.

»Ich sollt' in meines Lebens unstät Wirrsal
Dies Kind, das lebensfrohe, mit verstricken?
Auf dem Vulkane meines eignen Daseins
Täglich ihr Haupt mit Zittern zu erblicken?
Wenn ich in regellosem Laufe mit dem Erdball
Zusammenschmettere, zerstört in hundert Stücken,

Im ungeheuren Stoß sie mit mir zu erdrücken?
O nimmer darf das sein!«

Was sagt Marie? Ruft sie nicht – –?! Ja, da, da:

»Wohl! diesen Fluch
Ich will – wie gern! – ihn mit Euch teilen, Ulrich,
Der Streich, der Euch zerschmettert, treff' auch mich.«

Ah, ah, recht so, recht so! Jetzt antwortet Ulrich, wie er damals:

»Du starkes Mädchen! Dir geziemt es, so
Zu denken, doch würd' es auch mir ziemen,
In solches finstre Opfer einzuwill'gen?
Einsam muß gehen durch die Welt, wer sich
Den dunklen Todesmächten hat geweiht.«

Tief in ihrem Sessel saß Marie.

Und die tragische Handlung rollte ab, der Bauernaufstand warf seine zuckenden Brände über den Horizont, Sickingen starb den Heldentod auf seiner Burg Landstuhl und Ulrich ging von Marie den Weg in Exil und Tod.

Mit tragischer Kraft und hinreißender Gewalt hatte Lassalle ohne Unterbrechung gelesen. Die letzten bitteren Worte Huttens verhallten zukunftkündend an den Wänden. Keiner rührte sich, so hatte die Macht der Ereignisse, die Gewalt der Gedanken, die lapidare Wucht der Sprache sie gepackt.

Dann schwärmte alles auf, zerpreßte dem Dichter die Hand, bewunderte seine Allseitigkeit, griff einzelne Schönheiten des Dialogs heraus. Und heller Jubel prasselte empor, als Betty Tenderings lächelnde Grazie dem Dichter den Lorbeerkranz, den Lina Duncker bereit gehalten, um die machtvolle Stirn wand.

Alles sprudelte vor Begeisterung.

Lange währte es, bis Marie Krafft einen Augenblick fand, ihm die Hand zu drücken. Sie flüsterte nur ganz leise: »Ich danke dir.« Ihr Blick sagte all das andere. Er nickte, wollte etwas entgegnen, doch schon riß eine andere Dame seine Aufmerksamkeit an sich mit der neckenden Frage nach dem Urbild der Marie.

Er lächelte diplomatisch.

Und dann saß man im Kreise, und die Herren kamen zu Wort. Fabrice und sein Anhang hatten bisher stumm und abwehrend abseits des Beifallsrausches gestanden.

Jetzt streckte der Verleger den mächtigen bärtigen Kopf vor und sagte: »Das Drama sind Sie, lieber Lassalle. Darin pocht Ihre Revolutionsseele. Ich begreife, daß der Stoff Sie gelockt hat. Er liegt seit 48 in der Luft. Sie wissen natürlich, daß Böcking sich seit Jahren mit der Herausgabe der Werke Huttens beschäftigt, und kennen gewiß die Biographie Huttens, die David Strauß voriges Jahr herausgegeben hat.«

»Der Stoff ist ja ganz aktuell,« ereiferte sich Dohm. »Die Reformation ist in der ganzen deutschen Geschichte der einzige politische, geistige und soziale Kampf, der sich mit der 48er Bewegung vergleichen läßt.«

Ehe Lassalle etwas entgegnen konnte, warf Fabrice dazwischen: »Es ist überhaupt kein Kunstwerk, dieses Stück, sondern ein Tendenzdrama.«

Lassalle wandte das Bronzegesicht dem Angreifer zu. Doch ehe er zu Worte kam, parierte Dohm:

»Natürlich ist es ein Tendenzdrama. Haben Sie von Lassalle etwas anderes erwartet als ein Kampfdrama?«

»Tendenzdramen sind keine Kunstwerke,« orakelte Fabricens Freund und Untergebener, der Intendanturassessor Bormann.

»Oho,« rief Pietsch, »ich –«

»Vom theatralischen Standpunkt aus halte ich das Stück für verfehlt,« kritisierte Fabrice hart und grimmgeladen.

»Längen sind darin,« milderte Duncker, »die sich aber leicht kürzen lassen. Vor allem sollte man doch nicht über die grandiose Idee des Ganzen, diesen Gedankenreichtum –«

»Diese Verse!« lachte Bormann auf.

Da schwiegen alle verlegen. Die Verse waren wirklich fast unmöglich. Lassalle nahm den jungen Mann in den blauen Bann seiner kalten Augen.

Doch Fabrice sagte: »Nach all den Lobeserhebungen und der Bekränzung wird der Herr Dichter sich auch einige Kritik gefallen lassen müssen. Die Verse zeigen, daß ihr Schöpfer ein völlig unmusikalischer Mensch ist, dem jedes Gefühl für Rhythmik abgeht.«

Man sah seinen funkelnden Augen die Freude an, den Pfeil nach des verhaßten Feindes Achillesverse abzuschnellen.

Jetzt sprang Lina Duncker wehrhaft in den Streit. Auch sie war, wie Lassalle, völlig unmusikalisch und gestand es freimütig ein. Doch sie kämpfte mit aller Energie gegen die Anschauung, daß mangelnder Musiksinn auf einen Mangel im Rhythmus des Gemütes deute.

»Glauben Sie etwa, Fabrice,« fragte sie schroff, »unmusikalische Menschen besitzen kein Gefühl für die Schönheit des Verses?«

Doch Lassalle sagte lächelnd: »Frau Lina, debattieren Sie hierüber nicht! Die Kritik meiner Verse stammt wohl aus der Verärgerung eines Menschen, der einen ›Unmusikalischen‹ dort die erste Geige spielen hört, wo er bisher die Schalmei seiner Seichtheit geflötet hat.«

Die Damen und ein Teil der Herren konnten das Lachen nicht unterdrücken. Fabrice schnellte von seinem Stuhl. Duncker suchte zu vermitteln: »Aber, meine Herren, wir sind hier doch versammelt, ein Kunstwerk ernsthaft objektiv –«

»Er nimmt das zurück!« drängte der Rat Duncker zur Seite und suchte an Lassalle heranzukommen, »er nimmt das sofort zurück!«

Doch Lassalle wandte sich lächelnd zu Betty Tendering und fragte arglos: »Ist geben denn nicht seliger denn nehmen? Glauben Sie, daß es der Moral entspricht, zurückzunehmen, wenn man es eben jemandem tüchtig gegeben hat?«

Alles biß sich auf die Lippen, das Lachen bekämpfend. Fabrice sah es. Er schwankte wutgepeitscht auf den Sohlen, schrie: »Das werden Sie mir büßen!« machte linksumkehrt und ging steif zur Tür hinaus. Einige Herren folgten. Duncker eilte ihnen nach, suchte zu beschwichtigen. Doch Fabrice, das wettergebräunte Jägergesicht grau vor Wut, keuchte nur: »Dieser freche Lümmel soll es mir büßen!« und ging, eskortiert von seinen Getreuen.

Am nächsten Tage überbrachte Bormann eine Forderung auf krumme Säbel. Lassalle lehnte mit der Begründung ab, daß er das Duell nicht nur nach seinen eigenen Prinzipien für ein unsinniges Petrefakt einer überwundenen Kulturstufe halte, sondern auch glaube, daß es durch die Prinzipien der demokratischen Partei ausgeschlossen sei. Da triumphierte Fabrice im Kreise seiner Gefolgschaft: »Ha, da habt ihr den Maulhelden! Erst frech werden und dann, wenn es heißt, für seine große Schnauze einstehen, kneifen. Na, warte, mein Bürschchen!«

Kurze Zeit später, an einem wunderjungen Maitage, ging Lassalle in tiefen Gedanken zum Essen ins Hôtel de Rôme. Ein Brief, den er heute aus Düsseldorf von der Gräfin Hatzfeld erhalten hatte, beschäftigte sein Hirn. Da trat kurz vor dem Brandenburger Tor, in der Schulgartenstraße, Fabrice mit geschwungener Reitpeitsche auf den Ahnungslosen zu. Neben ihm schwang Bormann den Knüttel. Ehe Lassalle noch recht zur Besinnung kam, schrie der Rat: »Verfluchter Judenbengel, willst du dich mit mir schlagen oder nicht?!« und fetzte ihm die Peitsche über das Gesicht. Und schon griff auch sein wackerer Sekundant vom Rücken her den Überraschten an.

In der nächsten Sekunde hatte der »Maulheld« sich gefaßt. » Der Schlag soll dich treffen, du Strauchritter,« zischte Lassalle, packte seinen Spazierstock und schlug auf die beiden Angreifer ein. Blutüberströmt sanken sie in den Sand der Straße.

Der Maulheld aber schritt gelassen durchs Brandenburger Tor.

Polizisten klaubten die Demolierten auf. Im Schädel des Intendanturrats klaffte ein tiefes Loch. Eine wilde Erregung ergriff ganz Berlin, die Zeitungen schrien gegen den Revolutionär, die Zahl seiner Feinde wuchs. Doch der Dunckersche Kreis stand aufrecht an seiner Seite. Und Hofrat Foerster, der Alte, saß lange vor seiner kostbaren Raritätensammlung und suchte nach einem passenden Geschenk für seinen schlagfertigen Freund. Endlich ging ein Leuchten über seine feinen, altmodischen Züge. Und am Abend brachte er den angeblich echten Stockknopf Robespierres in die Potsdamer Straße zum Ersatz für die im »Straßenkampf« zersplitterte elfenbeinerne Stockkrücke. Seitdem trug Lassalle sein Leben lang mit Stolz diese kleine, in Silber getriebene Abbildung der Bastille, und wenn der Winter durch die Straßen fegte, hielt er oftmals den Stock in den Sturm und fragte manchen guten Freund: »Was erleben Sie in diesem geschichtlichen Moment?« Wenn dann der andere verdutzt dreinblickte, erklärte er triumphierend: »Den Sturm auf die Bastille.«


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