Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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XVIII.

Am Morgen des 22. November 1863 war die Gräfin ganz zeitig in die Potsdamerstraße 13 gekommen. Lassalle hatte gestern den ganzen Tag lang seine Rede für die heutige Versammlung mit der peinlichen Beharrlichkeit memoriert, mit der er sich auf jedes öffentliche Auftreten vorbereitete. Und am Abend hatte er, obwohl er sich nicht wohl fühlte und das alte Leiden wieder in den Gliedern wühlte, der Gräfin und Emma Herwegh, die zum Besuch bei ihrem Vater in Berlin weilte, die Rede gehalten. Dann aber war er zusammengebrochen. Er hatte in den letzten Wochen das Kapital seines Geistesvermögens verschleudert und stand vor einem Bankrott seines Hirns.

»Wie geht es heute!« war Sophie Hatzfelds erste angstbedachte Frage.

»Etwas besser. Es muß einfach gehen. Ich muß heute abend in die Versammlung, und wenn es das Leben kostete.«

»Wenn du krank bist –« versuchte sie einen Einwand der Sorge.

»Ich muß hin. Sonst schreit ganz Berlin morgen, ich hätte mich aus Furcht vor neuen Radauszenen gedrückt. Den Triumph sollen meine Feinde nicht haben. Heute abend sollen sie toben, soviel sie wollen. Ich werde wie ein Fels in der Brandung stehen. Ich rede meine Rede heute zu Ende. Und das sollst du sehen, Sophie, wenn ich mir Gehör erzwinge, dann reiße ich sie fort. Soll ich noch einmal dir den Schluß vormemorieren? Der ist doch unwiderstehlich!«

»Strengt es dich nicht zu sehr an!« bangte sie. »Du siehst sehr angegriffen aus.«

»Nein.« Er stützte den Arm auf eine Stuhllehne, nahm unwillkürlich seine stolze Rednerpose ein und begann:

»Und nun, ihr Arbeiter Berlins –«

Da meldete Friedrich zwei Herren, die den Doktor zu sprechen wünschten. Als Lassalle gerade gegen den Diener auffahren und ihm »ein für allemal« jede Störung während der Arbeit verbieten wollte, standen die beiden Herren auch schon im Arbeitszimmer.

»Was wünschen Sie zu dieser frühen Stunde?« herrschte Lassalle sie an.

Der eine hatte eine humoristische Ader. »Sie – Herr Doktor,« entgegnete er und stellte sich und seinen Begleiter als königliche Polizeikommissare vor. »Wir haben Befehl, Sie zu verhaften.«

Die Gräfin schrie unterdrückt auf, der Doktor prallte zurück.

»Mich verhaften? Weshalb, wenn ich fragen darf?!«

»Fragen dürfen Sie, Herr Doktor,« gewährte der Witzige entgegenkommend und überreichte Lassalle den Haftbefehl.

»Es ist bloß wegen Ihres Hochverratsprozesses.«

Lassalle überflog die Urkunde und überlegte. Sein Hirn tastete in rasender Hast alle Möglichkeiten ab. Verhaftet durfte er heute nicht werden. Unter keinen Umständen. Heute erstürmte er doch Berlin. Heute pflanzte er seine Fahne doch auf das Brandenburger Tor. Heute mußte er frei sein, unbedingt. Ob er es mit Bestechung versuchte? Unsinn. Mit Bitten? Aufschub bis morgen?

Die Gräfin war mit versagenden Knien auf einen Stuhl gesunken und sah auf den lesenden Mann mit der vom Nachdenken straff gewölbten Stirn. Verwittert und greisenhaft, mit hängendem Unterkiefer, saß sie dort im Stuhle. Um Zeit zur Überlegung zu gewinnen, sagte er: »Aber, meine Herren, ich verstehe das gar nicht. Die Anklage schwebt seit Oktober. Und jetzt im November sieht der Herr Untersuchungsrichter plötzlich die Notwendigkeit, mich hinter Schloß und Riegel zu setzen. Das verstehe ich nicht.«

»Ja,« zuckte der Humorvolle die Schultern, »den Herren, die wir so besuchen, denen fehlt oftmals das richtige Verständnis für die Notwendigkeit unserer Erscheinung.«

Lassalle machte eine hitzige Bewegung, sich diesen Ton zu verbitten. Doch er beherrschte sich. Da sagte Sophie Hatzfeld: »In Ihrem Zustande können Sie doch unmöglich ins Gefängnis!«

Sofort griff die Schnellkraft seines Geistes zu.

»Ja, meine Herren,« erzwang er ein Lächeln, »so ehrenvoll es für mich wäre, Ihre Begleitung anzunehmen, und so amüsant mir das fernere Lauschen auf Ihre Bonmots wäre, Herr Kommissar, meine Gesundheit verbietet mir zu meinem lebhaften Bedauern diesen Genuß. Ich bin krank, schwerkrank. Ein schmerzvoller Rheumatismus plagt mich. Ich habe auch Fieber.«

»Hm,« machte der Scherzhafte, »eine alte Erscheinung. Unser Besuch wirkt in vielen Fällen erkältend.«

»Ich werde Ihnen ein ärztliches Attest bringen. Ich werde sofort Herrn Professor Frerichs kommen lassen!« brauste Lassalle jetzt auf.

»Ein Attest von Professor Frerichs,« lächelte der Kommissar, ein verunglückter Jurist, »würde freilich auf uns wirken, wie das Pentagramma auf Beelzebub.«

»Wollen Sie, bitte, sogleich hinfahren, persönlich, daß Frerichs sofort kommt, und ihn mitbringen,« wandte Lassalle sich an die Gräfin. Sie flüchtete schon hinaus.

»Wir werden inzwischen vor dem Hause auf und nieder spazieren,« schlug der Witzbold zartfühlend vor, »Kranke lieben Besuche nicht immer.«

Mit einer Verbeugung zogen die Herren sich zurück. Nach einer Viertelstunde kam Frerichs, untersuchte den Patienten, fand den Aufenthalt im Gefängnis seinem Zustande geradezu gefahrdrohend und stellte das Attest aus.

Die Gräfin übergab es dem Leutseligen, der sich mit einer verbindlichen Entschuldigung nebst seinem Kameraden entfernte.

Der Rest des Tages ging mit dem Sturm der Gräfin auf Lassalles Hartnäckigkeit hin.

Vergeblich stellte sie ihm vor, daß er morgen bestimmt abgeführt werden würde, wenn er heute die Versammlung abhielt. Er blieb fest. Er ging. Ja, er ging.

Heute nahm er Berlin gefangen, mochte morgen Berlin ihn hinter spanische Gardinen setzen.

Gegen sieben Uhr verließ er, den Kragen des Mantels vermummend hochgeschlagen, das Haus. Die Gräfin durfte ihn, um jedes Späherauge zu täuschen, nicht begleiten. Erst am Potsdamerplatz bestieg er eine Droschke.

»Zum Eldorado,« befahl er leise, sich vorsichtig umschauend, »Ecke Berg- und Torstraße«.Heutige Elsasser Straße.

»Det Tanzlokal von Wollschläger?« erkundigte sich der Kutscher.

Lassalle nickte und sprang hinein. Langsam rumpelte der Kasten durch die Große Friedrichstraße dem Norden zu. Endlich passierte das Gefährt die Stadtmauer; so, nun war er bald da. Endlich! Den Kopf tief in den Kragen geduckt, schlüpfte Lassalle in den Torweg.

Das Tanzlokal – der Wirt des Admiralsgartens hatte seinen Saal versagt – war bis auf den letzten Platz gefüllt. Arbeiter aller Berufe drängten sich zwischen den Tischen: die vornehmen Maschinenbauer, die Schlosser, die Tischler, die Leute aus den Webereien, Zigarrenfabriken, Eisengießereien, Porzellanmanufakturen, alles, alles war da. Gegner zu Hunderten und das winzige Häuflein der Getreuen. Klingbeil, früher der eifrigste Ruhestifter, saß mit gesenktem Haupte auf seinem Platze am Vorstandstische.

Gleich als Lassalle die Tribüne betrat, wütete wüstes Schreien und Toben empor. Er verschränkte die Arme und wartete gelassen. Der Sturm verebbte. Er sprach. Sprach mit einem Feuer, mit einer demagogischen Gewalt, wie er nie gesprochen hatte. Vergaß seine Schmerzen, seine Ermattung, stand wie eine Feuersäule dort oben auf der Kanzel und warf seine zündenden Flammengarben prasselnd unter die feindliche Rotte. Und der Haß verknisterte, der Argwohn gegen den »Knecht der Reaktion« verlohte unter dem Feuerbrand, der aus diesem leidenschaftlichen Munde niedersengte.

Wenige versuchten, einen Wasserstrahl in das heiße Aufglimmen der Begeisterung zu schütten. Sie wurden drohend zur Ruhe gemurrt. »Weiter – weiter!« drängte das aufflackernde Verstehen dort unten.

Niederglutete die alte aufpeitschende Enthüllung des großen Geheimnisses vom ehernen Lohngesetz, von dem gesetzmäßigen Hinsterben ihrer Kinder, von der in alle Ewigkeit unentrinnbaren Verzweiflung ihrer Sklaverei. Sie horchten, sie nickten, sie starrten mit wutentzündeten Augen. Brände, Brände, immer neue zischende Brände schleuderte er nieder auf ihre Häupter. »Ihr meint, Bedürfnislosigkeit ist eure Tugend! Zum Teufel eure Tugend! Warum ist der russische Kosak so weit zurück in der Kultur? Weil er Talglichte frißt und froh ist, wenn er sein Elend in schlechtem Fusel ertränkt. Möglichst viel Bedürfnisse haben, aber sie auf ehrliche und anständige Art befriedigen, das ist die Tugend der heutigen national-ökonomischen Zeit. Lernt endlich eure Bedürfnisse haben! Hört endlich auf, gezähmte Haustiere zu sein. Gehet ab von dieser Widernatürlichkeit, von dieser Schmach, die so erbärmlich ist, daß ich rot werde für euch und in eure Seelen hinein, wenn ich nur daran denke.«

In dem großen Saale war es weihevoll still wie in einem Dome. Nur das schwere Atmen der aufgewühlten Menge keuchte zur Decke wie dicker massiger Dunst.

Da ging der Redner zu unerhörten Angriffen auf die Führer der Fortschrittspartei über.

Einige erwachten aus dem Rausche. »Hoch Schulze-Delitzsch!« schrie eine Stimme aus der Mitte. Und sofort zerriß der Bann. »Hoch Schulze-Delitzsch! Hoch – Hoch!« brüllte das jäh aufgewirbelte Chaos.

Ohne Bewegung stand der Mann auf der Kanzel und wartete. Heute sprach er zu Ende.

Den weißglühendsten Funken trug er noch in der Brust. Der würde zünden.

Mit seinen großen stahlharten Augen blickte er auf die erregten Gesichter nieder. Und wieder wirkte die zwingende Kraft dieser blauen Lichter. Die johlend erhobenen Arme sanken in zaudernd eckigen Bewegungen, die Schreie verröchelten gurgelnd in den aufgerissenen Rachen – die drohend aufgerichteten Leiber duckten kraftentseelt nieder auf die Stühle.

Er hob den Arm. »Arbeiter Berlins,« begann er wieder in lautlose Stille hinein mit aufstachelndem Glühen in der Stimme: »Schon höre ich in der Ferne den dumpfen Massenschritt der Arbeiterbataillone! Rettet – rettet – rettet euch aus den Banden des Produktionszustandes, der euch zur Ware entmenscht! Rettet – rettet – rettet den deutschen Geist vom geistigen Untergange! Schon zuckt in den Höhen der Blitz des allgemeinen direkten Wahlrechts! Bald fährt er zischend hernieder. Bald –«

Da klirrte und stampfte es an der Tür, – Säbel blitzten – ein Leutnant mit einer Eskorte von 25 Schutzleuten stürmte durch den Mittelgang. Den »Kranken« erreichte das Geschick vom Morgen.

Ehe man recht zur Besinnung kam, war die Tribüne umzingelt, Lassalle mit roher Gewalt von der Kanzel herabgezerrt, von den Polizisten in die Mitte genommen, man hörte einzelne wutgellende Schreie aus seinem Munde, sah seine erhobenen fuchtelnden Arme über den Helmspitzen emporirren, – dann war er aus dem Saale hinausgeschleift.

Die Verzauberung wich von der Versammlung. Ein großer schwarzer Kerl sprang auf das Podium und brüllte in das brausende Erwachen: »Genossen! Sie haben den Schurken verhaftet, diesen Knecht der Reaktion, der unsere Sache verrät und uns verführen will. Hoch Schulze-Delitzsch!«

Und die aufgesammelte Erregung tobte sich aus in wutgeifernden Hochrufen auf Lassalles tödlichsten Feind.

Lassalle war wie ein Stück Vieh, das man zur Schlachtbank reißt, in eine Droschke geworfen und nach der Stadtvogtei am Molkenmarkt geschleppt worden.

Brutal warf man den kranken Mann in ein kaltes feuchtes Loch.

Wie ein Tiger lief er in der Dunkelheit umher, raufte sein Haar, schlug mit den Fäusten gegen die Eisentür, schrie die blutigsten Drohungen gegen die Regierung an die stumpfen Wände, schwur der infamen Gewalttat der Polizei die unmenschlichste Rache. Keiner hörte ihn. Endlich gegen Morgen brach er auf der Pritsche bewußtlos zusammen. – Nach drei Tagen wurde er gegen eine Kaution entlassen. Entstellt, verzerrt, fieberschlotternd saß er neben der Gräfin in der Droschke. Aber graniten raffte er sich zusammen. Jetzt wollte er nicht zusammenbrechen. Der »Sturm auf Berlin« war abgeschlagen. Ja. Aber nicht kraft des Geistes der Gegner, sondern durch heimtückische Gewalt. Das war nicht seine Niederlage, das war eine Schmach für die andern. Die Berliner Arbeiter würde er nicht gewinnen, das erkannte er. Das waren keine leicht entflammbaren Söhne des Rheinlandes.

An ihrer Spitze würde er nicht vor das Palais des Ministerpräsidenten ziehen. Gut, dann ging er auch fernerhin allein, nur auf sich und seine Kraft gestellt, in die Wilhelmstraße.

Bald darauf war er wieder dort. Die Zeit drängte. Die Schleswig-Holsteinsche Frage war eine Forderung des Tages geworden. Kein Wort über seine Mißhandlung durch die Polizei sprach er zu Bismarck; keine persönlichen Klagen führte er. Immer das gleiche Thema umbrandeten die stundenlangen Debatten: das allgemeine Wahlrecht und die Staatsassoziationen.

Als er heute eintrat, rief ihm der Ministerpräsident entgegen: »Ich habe eine gute Nachricht für Sie, Herr Doktor. Ihre Idee der Gewährung von Staatsmitteln an Produktivgenossenschaften hat mich erobert.«

»Ei!« machte Lassalle.

»Ich habe es mir eingehend durchdacht,« lächelte Bismarck über die offenkundige kindliche Freude dieses klugen Mannes. »Das Hundertmillionenprojekt erscheint mir eine durchaus diskutable Sache. Freilich nicht ganz von Ihrem Standpunkt aus.«

Lassalle stellte sich töricht.

»Sie sehen in diesen Staatsassoziationen,« sagte Bismarck in seiner lächelnden Rücksichtslosigkeit, »einen Anfang vom Ende. Einen Handgriff zur Erringung des sozialistischen Zukunftsstaates.«

»Ja,« bekannte Lassalle kühn in dem Gefühl, daß ein Versteckspielen mit diesem Gegner verächtlich sei.

Bismarck schmunzelte: »Nun, ich sehe darin ein Mittel des Staates, seine Einflußsphäre zu erweitern. Mit einigem Geschick kann daraus eine neue starke Stütze des Königtums gezimmert werden.«

»Die Entscheidung dieser Frage überlasse ich der Zukunft,« verbeugte sich Lassalle, »und der Staatskunst Eurer Exzellenz. Die Hauptsache ist mir, daß die Assoziationen werden.«

»Das übrige wird Ihr Ehrgeiz dann schon besorgen,« neckte Bismarck. »Nun, der Kampf mit Ihnen ist spannend genug, ihn zu riskieren. Ich werde die Angelegenheit dem Staatsministerium zur Beratung unterbreiten.«

Lassalles Hirn schmerzte vor Freude.

Dann erörterte Bismarck einige Details der Wahltechnik und hörte gespannt auf Lassalles weitschauende Vorschläge.

Und beim Abschied sagte er: »Und wie denken Sie sich die Entwicklung der Schleswig-Holsteinschen Frage?«

»Ehe vier Wochen vergehen, rücken die preußischen Truppen in Schleswig-Holstein ein,« entschied Lassalle bündig.

»Und dann?«

»Nach der Niederzwingung Dänemarks muß Schleswig-Holstein preußische Provinz werden. Ich habe das bereits im Jahre 1859 in meiner Schrift ›Der Italienische Krieg und die Aufgabe Preußens‹ dargetan.«

»Ich weiß,« sann Bismarck. »Die Annexion wird nur sehr schwer sein, alles ist dagegen: die Kronprinzlichen wegen der Verwandtschaft, Majestät selbst, die Liberalen, die auf einmal das Fürstenrecht für wichtig halten, und last not least Österreich. Das hat das größte Interesse, dort einen neuen deutschen Kleinstaat zu gründen, und bewacht unsere Politik mit Argwohn.«

»Dann müssen Sie gegen den Willen Österreichs annektieren,« begehrte Lassalle auf.

»Das wäre der Krieg,« bedachte Bismarck.

»Der ist unvermeidlich.«

»Wohl möglich. Aber jetzt ist er noch zu früh. Erst muß der Frieden im Innern gesichert sein.«

Hier platzte Lassalle wieder mit seinem Ceterum censeo herein: »Oktroyieren Sie das allgemeine direkte Wahlrecht, und die Fortschrittspartei und der Konflikt ist gewesen.«

Da gab ihm Bismarck lachend die Hand. »Sie kann man werfen, wie man will, Sie fallen immer wieder auf Ihr Wahlrecht. Nun, vielleicht fall' auch ich einmal darauf – hinein.«

»Jedenfalls,« sagte Lassalle, »werde ich die Annexion Schleswig-Holsteins in mein Programm aufnehmen.«

»Schön,« nickte der Ministerpräsident. »Ich glaube sogar, daß dieser Punkt Ihres Programms in Erfüllung gehen wird, wenn auch nicht jetzt, so doch später.«

Am nächsten Tage schrieb Lassalle, auf das Gespräch über die Wahltechnik zurückkommend, an Bismarck:

»Was die Wahltechnik betrifft, so habe ich noch gestern Nacht die gesamte französische Gesetzgebungsgeschichte nachgelesen und da allerdings wenig Zweckmäßiges gefunden. Aber ich habe auch nachgedacht und bin nunmehr allerdings wohl in der Lage, Ew. Exzellenz die gewünschten Zauberrezepte zur Verhütung der Wahlenthaltung wie der Stimmenzerbröcklung vorlegen zu können. An der durchgreifenden Wirkung derselben wäre nicht im geringsten zu zweifeln! Ich erwarte demnach die Fixierung eines Abends seitens Ew. Exzellenz. Ich bitte aber dringend, den Abend so zu wählen, daß wir nicht gestört werden. Ich habe viel über die Wahltechnik und noch mehr über anderes mit Ew. Exzellenz zu reden, und eine ungestörte und erschöpfende Besprechung ist bei dem dringenden Charakter der Situation wirklich unumgängliches Bedürfnis.«

Am nächsten Tage erging die Kriegserklärung an Dänemark. Wichtigeres hielt Bismarcks Gedanken umfesselt.

Als Freitag eine Antwort nicht eingegangen war, schrieb Lassalle abermals:

»Ich würde nicht drängen, aber die äußeren Ereignisse drängen gewaltig, und somit bitte ich, mein Drängen zu entschuldigen. Ich schrieb Ihnen bereits Mittwoch, daß ich die gewünschten Zauberrezepte – Zauberrezepte von der durchgreifendsten Wirkung – gefunden habe. Unsere nächste Unterredung wird, wie ich glaube, endlich von entscheidenden Beschlüssen gefolgt sein, und da, wie ich ebenso glaube, diese entscheidenden Beschlüsse unmöglich länger zu verschieben sind, so werde ich mir erlauben, morgen, (Sonnabend) abends 8 ½ Uhr bei Ihnen vorzusprechen.«

Darauf traf ein Schreiben Bismarcks ein, das Lassalles Besuch am Sonntag erbat. Doch zu »entscheidenden Beschlüssen« kam es nicht. Bismarck hatte seine eigenen weltgestaltenden Pläne und ließ sich von keiner Macht des Himmels und der Erden aus seiner Bahn drängen, auch nicht von dem weltvernichtungsbeseelten Kometen Ferdinand Lassalle.

Bedrückt erkannte es allmählich der stürmische Mann. –

Das Jahr 1864 war eingezogen. Die Verhandlungen blieben immer auf demselben toten Punkt verankert.

Eines Sonntags vormittags zogen die ersten, Wagenkolonnen des Train aus dem Brandenburger Tor auf der hartgefrorenen Charlottenburger Chaussee auf Spandau zu, hinaus in den Dänischen Krieg. Lassalle traf den Zug auf einem Spaziergang im Tiergarten. Er ballte ungeduldig die Fäuste. Die Zeit drängte, die äußeren Konflikte riefen nach der Tat des Ministerpräsidenten. Warum zögerte er? Warum handelte er nicht? Warum faßte er nicht den Mut der Oktroyierung? Warum? Warum bloß?!

Mit einer wütenden Enttäuschung schäumte in ihm ein ohnmächtiger, zähneknirschender Haß gegen den Mann mit der eisernen Hartnäckigkeit empor.

Doch am Tage darauf stieg das Barometer seiner Zuversicht wieder auf Sonnenschein.

Er begegnete Bismarck in der Leipziger Straße. Der Minister blieb stehen. »Ah, lieber Doktor, wieder eine gute Nachricht für Sie.« Und burschikos schob er die Hand unter Lassalles Arm und schritt mit ihm Arm in Arm die Leipziger Straße hinab, der Wilhelmstraße zu. Die Passanten grinsten: Aha, also doch! Sie hatten es ja immer gewußt, daß er von der Regierung bestochen war.

»Sie haben von der Weberdeputation gehört?« fragte Bismarck Lassalle.

Lassalle bestätigte.

»Ich habe Seine Majestät bewogen, ihnen 7000 Taler aus der Privatschatulle zur versuchsweisen Begründung einer Produktivgenossenschaft zur Verfügung zu stellen.«

Bismarck fühlte den Arm des Begleiters vor übermannender Freude zucken. »Das ist – das ist ja herrlich!« stieß Lassalle mühselig hervor. »Ich danke Ihnen.«

»Bitte, bitte,« lächelte Bismarck. »Ich tat es des Staats und der Weber wegen. Es ist ein Experiment. Ich weiß. Auch der Betrag ist vielleicht zu klein. Aber es ist immerhin ein Anfang.«

»Es ist herrlich,« wiederholte Lassalle trunken. Die Kunde überwältigte ihn so stark, daß sein ökonomischer Verstand gar nicht daran dachte, welch unmögliches Ding diese Probe in solch kleinem Rahmen war. Er sah nur das Eingehen der Staatsleitung auf seine Pläne.

Im Überschwang des Glückes preßte er Bismarcks Arm dankbar an seine Brust. Da ward dem Minister die seltsame Lage bewußt. Lächelnd zog er den Arm zurück. »Wenn uns jetzt ein Mitglied der Fortschrittspartei begegnet,« scherzte er, »steht morgen unsere angebliche Allianz in allen Zeitungen. Nun, mir kann's nicht schaden.«

»Mir auch nicht,« strahlten Lassalles blaue Augen wie Saphire.

Und noch ein letzter großer Triumph war ihm beschieden. Am 12. März stand er vor dem Staatsgerichtshofe zu Berlin. Nie feierte seine Schlagfertigkeit, sein gewandter, dialektisch geschulter Geist höhere Erfolge, als wenn er auf der Anklagebank seine Freiheit verteidigte. Den Ruhm, den er als Zwanzigjähriger sich vor den Assisen in Köln errungen hatte, einer der besten forensischen Redner seiner Zeit zu sein, hat er durch all seine zahllosen Verteidigungsreden zu neuem Glanze erhoben.

Im Sitzungssaale Nr. 1 des Kammergerichtsgebäudes, Lindenstraße 15, tagte der Staatsgerichtshof. Der zweite Präsident des Kammergerichts Büchtemann führte den Vorsitz unter den neun Richtern. Die Anklage vertrat der Oberstaatsanwalt am Kammergerichte, Adelung, selbst. Punkt zehn Uhr wurde die Sache »wider den Privatmann Lassalle« aufgerufen. Er erschien im Frack an der Seite seines Verteidigers Holthoff und nahm neben ihm am Tische der Verteidigung Platz. Im Zuschauerraum war ein zahlreiches Publikum versammelt: Abgeordnete, Mitglieder des Vereins, Freunde, unter ihnen auch Lothar Bucher, mit dem Bülow vor kurzem die Versöhnung vermittelt hatte.

Der Gerichtsschreiber verlas die zuchthausumwitterte Anklage, die Lassalle beschuldigte, in der »Ansprache an die Arbeiter Berlins«, »ein auf gewaltsame Änderung der Preußischen Staatsverfassung gerichtetes Unternehmen vorbereitet, die Staatseinrichtungen durch öffentliche Verhöhnung der Verachtung ausgesetzt, die Mitglieder des Königlichen Staatsministeriums mit Bezug auf deren Beruf beleidigt zu haben.«

Am Schlusse seines Plädoyers beantragte Adelung eine Strafe von drei Jahren Zuchthaus, 100 Taler Geldbuße und fünf Jahre Polizeiaufsicht.

Da stürmte Lassalle ins Feuer. Mit Hohn, mit Pathos, mit dem Genie seiner Widerlegungskunst rang er um seine bürgerliche Ehre. Und keck rief er: »Der Staatsanwalt beschuldigt mich, das allgemeine und direkte Wahlrecht herstellen und somit die Verfassung stürzen zu wollen! Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher ›Privatmann‹, kann ich Ihnen sagen, ich will nicht nur die Verfassung stürzen, sondern es vergeht vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie gestürzt! Aber wie? Ohne daß ein Tropfen Blutes geflossen, ohne daß eine Faust zur Gewalt sich geballt hat! Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr mehr, so ist in der friedlichsten Weise von der Welt das allgemeine und direkte Wahlrecht oktroyiert.«

Er dachte an den Mann in der Wilhelmstraße, der schon den ersten Schritt getan hatte, seine Staatsassoziationen zur Tat werden zu lassen. Der würde auch das allgemeine direkte Wahlrecht oktroyieren. Und in stolzem Gedenken seines ersten Gespräches mit Bismarck rief er den Richtern dieselben Worte zu, die er damals dem Minister entgegengeworfen hatte: »Die starken Spiele, meine Herren, können gespielt werden, die Karten auf dem Tisch. Es ist die stärkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil sie auf erzene Notwendigkeit gegründet sind. Und so verkünde ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte: es wird kein Jahr mehr vergehen – und Herr von Bismarck hat die Rolle Robert Peels gespielt und das allgemeine und direkte Wahlrecht ist oktroyiert!«

Und alles, Wort für Wort, was er damals zur Überredung Otto von Bismarcks gesprochen, rief er heute zur Überzeugung seiner Richter in diesen alten drohenden Saal des Kammergerichts zu Berlin.

Seine Richter haben ihn freigesprochen. – Das war sein letzter großer Erfolg. Dann kam der tragische Niedergang.

Sein neues Werk »Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian, oder Kapital und Arbeit« war erschienen. Er sandte zwei Exemplare an Bismarck mit einem Briefe, in dem er überheblich versicherte, Bismarck würde aus diesem Holze Kernbolzen schneiden können zu tödlichem Gebrauche. Auch wäre es sehr nützlich, wenn der König einige Abschnitte des Buches läse, dann würde er erkennen, welches Königtum noch eine Zukunft habe, und klar sehen, wo seine Freunde, wo seine wirklichen Feinde ständen.«

Bismarck lächelte über das Schreiben und erteilte Keudell den Auftrag, in seinem Namen Lassalle zu danken.

Faksimile

Gerade in diesen Tagen sah es schwarz aus in des Volksbeglückers Seele. Der Verein hatte an Mitgliedern kaum gewonnen. Der war keine Wucht und keine Waffe. Die einzige Hoffnung seines Werkes war Bismarck. Trotz der großen Worte seiner Verteidigung, trotz des Erfolges seiner Idee der Staatsassoziationen, war eine raunende Stimme in seiner Brust, die ihn ängstigte und quälte. Eine zermürbende Ahnung in ihm empfand das klugfreundliche Zurückweichen des Ministers. In Stunden, in denen diese Angst Macht über ihn gewann, saß Lassalle mit verzerrten Zügen an seinem Schreibtisch, dachte an die Tausende, denen er den Funken der Hoffnung in die darbende Brust gesenkt, wo er jetzt aufzüngelte zu flammendem Begehren; die Bürde der Verantwortung beugte seine stolze Stirn zu Boden und die Verzweiflung starrte ihm weiß aus den Augen.

In einer solchen tiefen Bedrücktheit traf ihn Keudells kühl formeller Dankesbrief. Da zuckte die Angst vor dem Abgrund in dem Manne auf und all der Groll, den er seit langem gegen den Unbesieglichen in der Wilhelmstraße im Herzen trug. Er griff zur Feder und schleuderte in törichtem, unbesonnenem Hasse die Worte hin:

»Eurer Exzellenz muß ich mich bitter darüber beklagen, daß mir für die große Mühe, die ich auf das Buch verwendet habe, das ich Ihnen kürzlich übersandte, nur durch das trockene Billet eines Rats aus dem Ministerium gelohnt wird. Ein Mann von meinen Geistesgaben kann doch wohl ein sachliches Eingehen auf sein Werk verlangen. Ich verlange es von Ihnen! Ich muß Sie unbedingt bald sprechen und bitte um Angabe einer Zeit.

Lassalle.«

Bismarck las den Brief, die Brauen gingen gesträubt buschig zur Stirn empor, dann klingelte er kurz, scharf. »Herr von Keudell,« befahl er.

Als der Legationsrat eintrat, reichte er ihm wortlos den Brief.

Keudell las, wurde blaß und blickte fragend auf den Chef.

»Schade,« sagte Bismarck. »Aber das geht denn doch zu weit. Früher oder später wäre es ja allerdings doch zum Bruche gekommen. Der Mann muß sich durchsetzen oder seine Stirn am Widerstände zerschellen. Bei mir hätte er sich die Stirn eingerannt, wenn er nicht vorzeitig dieses Ende provoziert haben würde. Schreiben Sie dem Mann, daß ich für ihn nicht mehr zu sprechen bin.«


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