Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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XVI.

Am 8. Oktober 1863 traf Lassalle wieder in Berlin ein. Jetzt galt es, die Früchte der rheinischen Heerschau im Palais des Ministerpräsidenten in der Wilhelmstraße zu ernten.

Doch vorher mußte er noch vor dem Kammergericht gegen jenes Urteil kämpfen, das ihn wegen des Arbeiterprogramms zu vier Monaten Gefängnis verurteilt hatte. Er benutzte den Anlaß zu einer flammenden Agitationsrede. Am 12. Oktober hielt er den Kammergerichtsräten eine wissenschaftliche Vorlesung über »die indirekten Steuern und die Lage der arbeitenden Klasse« und errang einen glänzenden Sieg über die ersten Richter und den Staatsanwalt Schelling, der die Anklage gezimmert hatte. Die Gefängnisstrafe wurde in eine geringfügige Geldstrafe gewandelt.

Auch jetzt noch vertagte er den Weg in die Wilhelmstraße. Unmittelbar unter Bismarcks Augen wollte er erst seine Macht entfalten. Jetzt wollte er Berlin erstürmen. Mit den Berliner Arbeitern unter seinen Fahnen wollte er vor Bismarcks Palais ziehen.

In Berlin hatte der Verein trotz Klingbeils und Loewes unermüdlichem Werben so gut wie gar keine Anhänger. Fest standen sie hier zu Schulze-Delitzsch und der Fortschrittspartei.

Die erste öffentliche Versammlung, die in Klingbeils Wohnung stattfand, hatte das Ergebnis, daß gerade ein Arbeiter erschien. Und der hatte so konfuse Ansichten, daß Klingbeil es vorzog, ihn nicht in die Mitgliederliste einzutragen.

Jetzt, bei seiner Rückkehr nach Berlin, schrieb Lassalle eine neue öffentliche Versammlung aus. Sie tagte im Saale des Admiralgartens in der Friedrichstraße. Etwa dreißig Personen waren erschienen, davon die Hälfte des Spaßes wegen, trotz des Eintrittsgeldes, das zur Fernhaltung feindlicher Elemente gefordert wurde.

Gleich zu Beginn der Versammlung erhob sich ein Mann und stellte Anträge.

Lassalle suchte ihn zu unterbrechen, doch er stellte seine Anträge, in einem nicht niederzuringenden Antragsfuror.

»Ich beantrage,« beharrte er unerschütterlich, »der Verein soll an die Regierung Petitionen einreichen.«

»Worüber?« fragte Lassalle ergeben.

»Über die Gewerbefreiheit, Freizügigkeit und überhaupt.«

Die Spaßvögel lachten und riefen: »Jawohl. Jawohl. Petitionen und überhaupt!«

»Unsinn,« bekämpfte Lassalle den Antrag, »das Petitionieren wollen wir den Fortschrittlern überlassen. Unser Prinzip ist, daß sich die Arbeiter durch das allgemeine gleiche Wahlrecht die Herrschaft im Staate erringen. Um Almosen petitioniert man, nicht um die Herrschaft.«

Doch der Mann hatte seine Grundsätze. Er stellte seine Anträge.

»Ich will petitionieren,« rief er trunken von der Wichtigkeit des dicken Wortes. »Wenn ich aber petitionieren will!«

Auch die Spaßvögel wollten es johlend.

Da schrie Lassalle in maßloser Wut: »Klingbeil, streichen Sie den Menschen aus der Liste. Und wer von Ihnen die gleiche Ansicht hat wie dieser Mensch oder sonst durch Mißverständnis in diese Versammlung geraten ist, der trete vor und lasse sich sein Eintrittsgeld zurückzahlen!«

Da lief fast die ganze Versammlung lachend und lärmend zur Kasse.

Jetzt erkannte Lassalle, daß er in Berlin andere Wege einschlagen müsse. Der nüchterne skeptische Berliner Arbeiter war nicht durch enthusiastisch gesprochene Reden fortzureißen und zu begeistern, wie der leicht entzündliche Rheinländer und Maingauer. Ihm mußte man etwas zu ruhigem Bedenken in die Hand geben. Am 14. Oktober ließ Lassalle in 16 000 Exemplaren ein Flugblatt auf den Straßen verteilen. In dieser »Ansprache an die Arbeiter Berlins« legte er wieder sein Programm dar und schilderte in übertriebener Darstellung die Erfolge des Vereins in der Provinz. Er sprach von der Messerstecherei in Solingen. Die Arbeiter seien durch die Fabrikanten terrorisiert und zu diesem Mißgriff gereizt worden. »Ohne Leidenschaft wird in der Geschichte kein Stein vom andern gerückt! Ohne Leidenschaft ist keine einzige jener gewaltigen Befreiungen ausgeführt worden, deren Aufeinanderfolge die Weltgeschichte bildet!«

Und er schloß mit der eindringlichen Mahnung: »Arbeiter Berlins! Der zu euch spricht, führt vor euch nicht seine Sache, sondern eure eigene! Der zu euch spricht, spricht nicht zu euch als einzelner Mann, sondern als der Repräsentant vieler Tausende von Arbeitern, und mit dem ganzen Ansehen, das es ihm bei euch geben muß, so viele Tausende eurer Klasse vor euch zu verkörpern!

Durch meinen Mund sprechen zu euch euere Brüder vom Rhein und vom Main, von der Elbe und von der Nordsee. Sie strecken euch die schwieligen Fäuste hin und verlangen, daß ihr einschlagt in ihre Bruderhand!

Sie rufen euch zu: Erwachet aus eurer Teilnahmslosigkeit und tretet ein in unseren Bruderbund!

Sie rufen euch zu: Wie könntet ihr hinter den Fortschrittlern herlaufen oder in trägem Indifferentismus verharren, hier wo es sich um die politische Freiheit, um die Wiedererhebung der Demokratie und um die materiellen Interessen eurer Klasse, um die Befreiung der Arbeit von dem Tribut an das Kapital überhaupt handelt?

Sie rufen euch zu: Denket eurer großen Toten vom März 1848! Wollet ihr, die Söhne und Brüder jener, welche mit die ersten waren in der Bewegung von damals, die letzten sein in der Bewegung von heute?

Faksimile

Und damals handelte es sich bloß um die politische Freiheit! Heute handelt es sich um die politische Freiheit und um die Arbeitsinteressen zugleich.

Und damals handelte es sich darum, Barrikaden zu bauen – heute handelt es sich zunächst nur darum, durch den gesetzlich vollkommen erlaubten Eintritt in unseren Verein, durch eine imposante Entfaltung unserer Zahl und Einmütigkeit eine Stellung einzunehmen, welche einen immensen Druck auf Regierung wie Fortschrittler zugleich ausüben und eine neue Wendung in der Entwicklung unseres Volkes herbeiführen muß!

Auf also, Arbeiter Berlins! Zeichnet euch ein in die Listen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins!

Bedenket die Verantwortlichkeit, Arbeiter Berlins, die ihr durch fortgesetztes Zaudern vor euren Brüdern, vor euch selbst, vor der gesamten Geschichte auf euch laden würdet! Die wichtigsten Zentren Deutschlands sind gewonnen. Leipzig und die Fabrikgegenden Sachsens sind für uns. Hamburg und Frankfurt a. M. marschieren unter unserer Fahne.

Das preußische Rheinland geht bereits im vollen Sturmschritt voran!

Mit Berlin wird die Bewegung unwiderstehlich.

Wollt ihr, Arbeiter Berlins, die Verantwortung auf euch laden, durch eure Haltung diese große deutsche Bewegung, den Triumph eurer gemeinsamen Sache zurückgeworfen zu haben?

Wollt ihr, die Arbeiter der Hauptstadt, welche die Verpflichtung hätten, allen voranzumarschieren, den Vorwurf auf euch laden, die Letzten gewesen zu sein, die sich der Bewegung anschlossen?

Bedenket die auseinanderreißenden Folgen, die es für euren eigenen Stand haben muß, wenn ihr euch feindlich oder teilnahmslos verhaltet gegen eine Bewegung, welche den Arbeiterstand in so vielen deutschen Städten und Provinzen mit Begeisterung und Enthusiasmus ergriffen hat!

Die Uneinigkeit der deutschen Fürsten und Stämme, dieser traurige Charakterzug unserer bisherigen Geschichte – soll sie sich sogar auch noch im deutschen Arbeiterstande wiederfinden und unsere nationale Entwicklung vereiteln?

Fern sei das von euch! Fern von mir, es zu glauben!

Also, Arbeiter Berlins, – erwachet und – die Besten von euch voran – zeichnet euch ein in die Listen unseres Vereins!

Im Namen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins!

Berlin, den 14. Oktober 1863.

Der Präsident:
Ferdinand Lassalle.«

Am nächsten Tage war das Flugblatt von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt und Lassalle unter die Anklage des Hochverrats gestellt.

Da zögerte er nicht länger.

Am hellen Vormittage ließ er sich von dem erstaunten Diener den Frack bringen.

»Haben Herr Doktor wieder einen Termin?« fragte er in der Vertraulichkeit des alten Faktotums. »Mir ist doch davon nichts bewußt.«

»Nein, Friedrich. Um solch eine Lappalie handelt es sich heute nicht. Heute gehe ich zu der Zusammenkunft zweier Könige.«

Und er stülpte den Zylinder verwegen aufs Haupt, faßte fest den Bastillenstock und ging zur Tür hinaus.

»Nanu?« dachte Friedrich, »sollte die Volkszeitung recht haben, daß er sich der Regierung verkauft hat. Und gleich zwei Könige!! Ich muß ihm doch mal ein bißchen auf die Finger sehen.«

Durch das Tor des Hauses Nr. 76 in der Wilhelmstraße trat der elegante Herr. Er schritt die breite Einfahrt hinan, an deren Ende zwischen zwei gewaltigen ruhenden Löwen die Treppe ins Innere des Hauses emporstieg. Da öffnete sich ein Fenster der Portierloge, ein Mann steckte den Kopf mit der Dienstmütze heraus und erkundete gleichgültig: »Wohin?«

»Ist der Herr Ministerpräsident zu Hause?« fragte der elegante Herr nachlässig, mit der Miene eines mittleren Kaisers.

Der Mann sprang aus der Loge und öffnete weit das Glastor.

»Zu Befehl. Ex –« Da besann er sich und berichtete devot: »Exzellenz Graf Eulenburg sind soeben fortgegangen. Jetzt ist niemand drin.« Und er geleitete den vornehmen Besucher hinauf in das erste Stockwerk.

In einem Vorzimmer übergab er den Gast einem Kammerdiener unter der hochachtungsvollen Weisung: »Melden Sie Seine Hoheit Seiner Exzellenz.« Dann grüßte er mit der Strammheit des alten Soldaten und stieg wieder in seine Loge hinab.

»Wen darf ich melden?« bat der Lakai.

Mit großartiger Gebärde reichte ihm Lassalle seine Karte. Der Diener ging rasch, heimlich den Namen entziffernd.

Nach weniger Sekunden kam er zurück: »Exzellenz lassen bitten.« Dann schritt er durch den weiten Vorsaal voran, öffnete eine Tür, meldete hinein: »Herr Dr. Lassalle« und gab dem Besucher den Weg frei.

Lassalle stand im Kabinett des Ministers. Bei seinem Eintritt saß Bismarck an dem großen, aktenbedeckten Schreibtisch in der Mitte des Zimmers. Doch sofort erhob er sich zu seiner schlanken Reckenhaftigkeit, kam dem Gast bis an die Tür entgegen, reichte ihm die Hand und sagte mit gewinnendstem Lächeln: »Ich freue mich, Sie einmal von Angesicht zu sehen, Herr Doktor.«

»Auch ich bin glücklich«, verbeugte sich Lassalle, »den einzigen Mann in Preußen zu begrüßen.« Bismarck lächelte fein und rückte dem Besuch einen Sessel zurecht. »Darf ich bitten, Herr Doktor.« Und zu einem Wandschränkchen hinübergehend, fragte er: »Sie rauchen doch?«

»Wenn ich darf, mit bestem Danke.«

Dann saßen die beiden Männer einander gegenüber. Blauer Rauch ringelte sich in die Helle des Zimmers empor. Und sie sprachen, freundlich, scherzend, bitter ernst. Jeder fühlte die Größe des andern, jeder wußte: »Dort sitzt dein ebenbürtiger Feind.«

Lächelnd, in der bestrickenden Liebenswürdigkeit des Diplomaten und Hofmannes, leitete der Minister das Gespräch, vorsichtig und mit seiner verblüffenden Kühnheit. Lässig saß seine sinnenfrohe Germanengestalt vor dem schmächtigen, bleichen, um zehn Jahre jüngeren Manne mit der von Arbeit und Denken herausgemeißelten Stirn, mit den leidenschaftlichen, willensstarken Augen und Worten.

Zwei Große der Weltgeschichte saßen sich gegenüber, jeder eine noch ungeborene Welt im Hirne tragend: der eine das Deutsche Reich, der andere die deutsche Sozialdemokratie, zwei Mächte, deren Kampf der Kampf der Zeit werden sollte.

In seiner chevaleresken Ungeniertheit, die jede Förmlichkeit sofort bannte, fragte jetzt der Minister: »Was verschafft mir die Annehmlichkeit Ihres Besuches?«

Da erwiderte Lassalle: »Ich wollte mich bei Eurer Exzellenz über die rasche Erledigung meiner Solinger Depesche bedanken.«

Überrascht warf Bismarck den mächtigen Kopf zurück. »Rasche Erledigung? Ich habe sie lediglich der zuständigen Instanz, der Königlichen Regierung in Düsseldorf, überwiesen.«

»Dafür wollte ich mich bedanken,« entgegnete Lassalle keck.

Bismarck lachte kurz auf. »Den Dank kann ich nun allerdings nicht annehmen. Doch den Vorwand akzeptiere ich gern.«

»Ich sehe, wir verstehen uns,« scherzte Lassalle. »Zwischen verständigen Männern gibt es immer eine Verständigung,« nickte Bismarck und schlug behaglich ein Bein über das andere. »Ja, ja,« scherzte er, »unsere Polizei ist sehr eifrig. Mir selbst könnte es ergehen, daß irgendein Bürgermeister mich arretieren läßt. Hören Sie, mein lieber Herr Doktor, Sie haben es aber auch ein bißchen arg getrieben. Unsere liebe Fortschrittspartei schätzt es nicht, wenn man ihr den Spiegel so nahe vors Gesicht hält.«

Dabei blätterte er unter den Aktenstücken auf dem Tisch und zog Lassalles Solinger Rede hervor. Wie absichtslos spielten seine Finger mit der Broschüre.

Lassalle sah es wohl. »Exzellenz,« gestand er, »ich habe die Fortschrittspartei nicht aus bloßer Prinzipienreiterei angegriffen, sondern deshalb, weil ich mich überzeugt habe, daß sie ganz und gar zu jeder Klärung der Verhältnisse unfähig ist und keinen Nutzen oder Vorteil irgendwelcher Art für das Volk herbeiführen kann. Sie wird es vielmehr nur möglichst lange in Halbheit und Unklarheit erhalten.«

»Ich weiß,« ließ Bismarck die Hand auf den Tisch sinken, »es sind viele eitle Schwätzer darunter. Es ist oft kein Vergnügen, ihnen im Abgeordnetenhaus zu lauschen. Doch sie können es nun einmal nicht besser. Aber Sie« – er schlug auf den Deckel der Broschüre – »Sie können es besser. Sie sind neben Robert Blum und Friedrich List der größte Volksagitator des Jahrhunderts.«

Lassalle verbeugte sich lächelnd. »Dieses Lob aus solchem Munde ist der schönste Ehrenkranz meines Lebens,« bekannte er ehrlich.

»Auch Ihr Flugblatt an die Berliner Arbeiter gefällt mir.«

»Exzellenz besitzen es?« fragte Lassalle aufglühend.

»Pst!« machte der Minister und hob das Heftchen vom Tisch. »Sagen Sie dem Untersuchungsrichter nichts davon, sonst läßt er es mir wegnehmen.«

Und ernst werdend, daß die ausgeprägten Züge noch schärfer heraustraten, sagte er: »Ich habe Ihre gesamte Tätigkeit verfolgt.«

»Und was halten Sie davon?« fragte Lassalle hitzig.

Bismarck lächelte vorsichtig. »Hm – sehr interessant, lieber Herr Doktor. Sehr interessant.«

»Was halten Exzellenz von dem allgemeinen direkten Wahlrecht?« versuchte Lassalle.

»Viel. Ich stehe ihm durchaus sympathisch gegenüber. Zumal für die Zukunft, wenn wir ein einiges Deutschland haben werden.« In seiner kühnen Offenheit ließ er eine Tür des Geheimtresors, in dem er die kostbaren Gedanken seiner Zukunft bewahrte, weit vor dem Besucher aufspringen. »Als eiserne Klammer für die Einigung Deutschlands unter Preußen, gegen den Partikularismus der Dynastien und Stämme ist es unentbehrlich. Nur eine auf Grund des allgemeinen direkten Wahlrechtes berufene Volksvertretung wird für Preußen die Sicherheit gewähren, daß es nichts zu opfern hat, was nicht dem ganzen Deutschland zugute kommt. Kein noch so künstlich ausgedachter Organismus von Bundesbehörden kann das Spiel und Widerspiel dynastischer und partikularistischer Interessen ausschließen, welches sein Gegengewicht und seine Korrektion daher allein in der Nationalvertretung finden muß. In einer Versammlung, die aus dem ganzen Deutschland nach dem Maßstab der Bevölkerung durch direkte Wahlen hervorgeht, wird der Schwerpunkt, so wenig wie außer Deutschland, so auch nie in einen einzelnen, von dem Ganzen sich innerlich loslösenden Teil fallen.«

Lassalle hatte ihn mit äußerer Aufmerksamkeit, doch innerer Ungeduld aussprechen lassen. Er wollte den Mann in andere Richtung treiben.

»Ich pflichte Ihnen vollständig bei,« sagte er jetzt. »Exzellenz werden vielleicht wissen, daß mir Zeit meines Lebens alles Kleindeutsche verhaßt gewesen ist, daß ich stets für ein einiges großes Deutschland gekämpft habe.«

»Ich weiß,« stieß Bismarck den Rauch zur Decke.

»Doch,« bog Lassalle in seine Fährte ein, »mir scheint zurzeit das allgemeine und direkte Wahlrecht eine dringendere Aufgabe im Innern Preußens als im zukünftigen Deutschland zu haben.«

Bismarck rauchte freundlich ermunternd.

Da entschloß sich Lassalle. »Mit Hilfe des allgemeinen und direkten Wahlrechtes ist in Monatsfrist der Konflikt erledigt.«

»Ja,« lachte Bismarck auf, »aber wie kriegen wir's?«

Lassalle beugte sich vor, seine Augen funkelten. »Oktroyieren Sie es!«

Bismarck wurde sekundenlang steinern ernst. Doch sofort hatte er sich wieder in seiner lächelnden Gewalt. »Das hieße den Eid brechen, den der König auf die Verfassung geschworen hat.«

Lassalle erhob sich heftig. »Scheuen Sie davor zurück!«

»Ich vielleicht nicht, doch Seine Majestät. Aber behalten Sie doch Platz, Herr Doktor.«

Lassalle überhörte die Einladung. »So bestimmen Sie Seine Majestät!«

Bismarck zuckte die breiten Schultern. »Der König sieht sich gebunden und wird nie seine Zustimmung zu einem Verfassungsbruch geben. Aber setzen Sie sich doch, Herr Doktor. Ihre Zigarre brennt wohl nicht recht? Bitte, nehmen Sie eine andere.«

Mechanisch griff Lassalle in das Kistchen.

»Ist es kein Verfassungsbruch,« hielt er verwegen dem Minister entgegen, »ohne Bewilligung der Kammer die Kosten der Heeresreform zu verausgaben?!«

»Sie werden nicht erwarten,« lächelte Bismarck, »diese Frage von mir bejaht zu hören.«

Da riß Lassalle die ganze Kraft seines Geistes zusammen, dem Manne da, an dessen liebenswürdiger Heiterkeit er immer wieder abprallte, mit der überzeugenden Eindringlichkeit seiner Dialektik zu beweisen, daß die Oktroyierung des allgemeinen, direkten Wahlrechtes keinen Verfassungsbruch bedeute.

»Sie werden es einführen müssen, Exzellenz,« rief er überlegen lächelnd. »Wir können mit offenen Karten spielen. Es ist die stärkste Diplomatie, die ihre Berechnungen mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil sie auf erzene Notwendigkeit gegründet sind. Und so sage ich Ihnen denn: ehe ein Jahr vergangen ist, werden Eure Exzellenz die Rolle Robert Peels gespielt und das allgemeine direkte Wahlrecht oktroyiert haben.«

Er warf den Kopf stolz zurück.

Bismarck rückte näher an den Tisch, stützte den Ellenbogen auf die Tischplatte, legte das Ohr in die Hand und horchte gespannt auf diese beherzte Sprache, die er nie in seiner Welt noch gehört.

»Die Staatsregierung,« sprach Lassalle mit gut gespielter Nonchalance weiter, »wird die Rolle Sir Robert Peels spielen, sage ich, und zwar aus dem sehr einfachen Grunde, weil ihr gar nichts anderes übrig bleibt.«

Bismarck rückte den Kopf noch weiter vor.

»Nichts anderes,« erhärtete Lassalle lächelnd. »Ein nicht beizulegender, tödlicher Kampf ist zwischen dem Königtum und der Bourgeoisie entbrannt. Wer von beiden weicht, ist verloren! Das Königtum kann einer Clique nicht weichen, aber ebensowenig kann es andererseits die unregelmäßigen Zustände verewigen, die wir jetzt haben.«

»Weiter,« bat Bismarck mitgerissen.

»Es ist daher,« erklärte Lassalle mit immer echterer Überlegenheit, »ein Kampf ohne Ausweg und Ende, denn es ist ein Kampf von zwei Gegnern, von denen jeder unbesiegbar ist für den andern in seinem eigenen Lager!«

Bismarck warf sich im Sessel zurück, kreuzte die Arme über der Brust und sog dem sprechenden Manne die Worte vom Munde.

»In diesem Kampf ohne scheinbaren Ausweg ist der einzig mögliche Ausweg, der überhaupt denkbar ist, der, das Volk selbst auf die Bühne zu führen und sein Recht herzustellen. Ein Ausweg von der höchsten rechtlichen und historischen Weihe. Und diesen Ausweg wird Eure Exzellenz wählen.«

»Bitte, fahren Sie fort,« forderte Bismarck.

»Mit der Notwendigkeit der Naturgesetze drängt der Druck des unmittelbaren Volksgefühls und der Intelligenz der Höchstbesitzenden im Reiche des Geistes nach jener Öffnung, die in den fatalistischen Kreis gebrochen ist.

Hinzukommen die großen auswärtigen Konflikte –«

Bismarck horchte gespannt –

»die Auseinandersetzung mit Österreich, die schleswig-holsteinsche Frage, die es unmöglich machen, das Volk zu ignorieren, und Sie zwingen, das, was Sie tun müssen, zu tun, gestützt auf das Volk und getragen vom Volke.«

»Hm,« machte Bismarck.

»Im Prinzip,« fuhr Lassalle fort, »werden Sie mir zugeben, daß das Königtum, ohne sich etwas zu vergeben, das Volk auf die Bühne rufen und sich darauf stützen kann. Es braucht sich hierzu nur bewußt zu werden, welches die Säule ist, auf der es steht. Das Volk, nicht die Bourgeoisie zahlt die Steuern! Das Volk, nicht die Bourgeoisie schlägt die Schlachten! Es braucht sich endlich nur seines Ursprungs zu erinnern, denn alles Königtum ist ursprünglich Volkskönigtum gewesen. Ein Louisphilippsches Königtum, ein Königtum von der Schöpfung der Bourgeoisie, könnte dies freilich nicht.

Aber ein Königtum, das noch aus seinem ursprünglichen Teige geknetet dasteht, auf den Knauf des Schwertes gestützt, könnte das vollkommen wohl, wenn es entschlossen ist, wahrhaft große nationale und volksgemäße Ziele zu verfolgen.«

Er blickte dem Minister Zustimmung heischend in die lebhaften Augen.

»Sehr interessant,« murmelte Bismarck. »Sprechen Sie, bitte, weiter!«

»Also der Ausweg ist da,« lächelte Lassalle. »Es handelt sich nur darum, ihn für Ihren königlichen Herrn recht verlockend auszuschmücken. Auch dafür habe ich einige hübsche historische Fähnchen. Eure Exzellenz wissen, daß die preußische Verfassung noch nicht einen einzigen Tag lang zu Recht bestanden hat.«

»Sie haben es in Ihren Reden immer wieder behauptet.«

»Mit Recht,« ereiferte sich Lassalle. »Friedrich Wilhelm IV. hatte nicht die Machtbefugnis, das Dreiklassenwahlrecht zu oktroyieren.«

»Hm,« machte Bismarck wieder.

»Die Bourgeoisie aber hat sich 1849 die Vernichtung des 1848 gesetzlich eingeführten allgemeinen Wahlrechts gefallen lassen. Ja, sie hat diese Verkümmerung des Volksrechtes als eine königliche Gunst mit Jubel begrüßt, die brave Bourgeoisie. Keine einzige Kammerverhandlung seit 1849 hat dagegen protestiert. Jetzt aber, da sie mit dem Königtum über die Auslegung jener königlichen Gunst in Streit geraten ist, will die Bourgeoisie das Königtum im Namen des Rechts bekämpfen, während sie doch gar nicht auf dem Boden des Rechts, sondern seiner – gebilligten Verletzung steht. Und das rächt sich jetzt, Exzellenz, wie sich jeder Fehler hienieden rächt.«

Bismarck horchte.

»Jetzt, da das Königtum in einem fort angegriffen, eingeschüchtert und zu Boden gerannt wird im Namen des »Rechts«, erscheint mir doch der Augenblick gekommen, in dem das Königtum sich dieses ›Recht‹ einmal etwas näher ansieht. Jedermann muß das Recht respektieren. Gewiß. Aber niemand läßt sich gern aus seiner eigenen Gunst ein Halsband drehen, an welchem er erwürgt wird.«

Bismarck lächelte leise unter dem dichten Schnurrbart. »Sehr geistreich. Ich verstehe Sie vollkommen. Bitte weiter.«

»Das Königtum kann also die mißbrauchte Gunst wieder zurücknehmen. Tut es dies und oktroyiert es das allgemeine und direkte Wahlrecht, so ist es statt der Vernichter des Rechts, vielmehr nur der Wiederhersteller des Rechts, das 1848 gegolten hat. Von einem Verfassungsbruche kann also keine Rede sein. Und wenn der König etwa einwenden sollte, daß im Jahre 1848 nur das allgemeine, nicht aber das allgemeine und direkte Wahlrecht eingeführt worden sei, so werden Eure Exzellenz ihn an die Worte des Herrn von Vincke erinnern, die Sie selbst auf dem Vereinigten Landtage von 1847 gehört haben: »Die Freiheiten eines Volkes sind ein Majorat, das im Laufe der Zeit niemals vermindert, immer aber vermehrt werden kann.«

Er schwieg überzeugungsfroh.

Da stand Bismarck in seiner ganzen Stattlichkeit. »Sehr geistvoll,« wiederholte er ernst. »Außerordentlich geistvolle Deduktion, mein lieber Herr Doktor. Ich danke Ihnen aufrichtig für Ihre Anregung. Sie war mir sehr wertvoll.«

»Ich bitte Eure Exzellenz auch zu bedenken,« schlug Lassalle im Übermut des Erfolges einen neuen Hieb, »daß das Volk durchaus keine rohe, undisziplinierte Masse ist. Tausende und aber Tausende stehen gehorsam unter dem Wirbelzeichen meiner Werbetrommel.«

Da fiel ihm Bismarck flugs in die Parade. Der Mann führte ihm zu selbstbewußt die blitzende Klinge. »Nach den Zeitungsnotizen,« lächelte er, »haben Sie im Rheinlande ja ganz schöne Erfolge gehabt. Wie steht es denn mit Berlin?«

Lassalle fühlte den Stich. »Berlin werde ich jetzt erobern,« tat er zukunftssicher. »Exzellenz werden es sehen.« Und wieder einbiegend, versuchte er es in seiner angeborenen Eindringlichkeit von neuem: »Ich hoffe Exzellenz überzeugt zu haben, daß die Einführung des allgemeinen direkten Wahlrechts im Interesse der Monarchie liegt, wie im Interesse des Volkes.«

Bismarck nickte. »Das ist auch meine Überzeugung, daß das künstliche System indirekter und Klassenwahlen ein viel gefährlicheres ist, indem es die Berührung der höchsten Gewalt mit den gesunden Elementen, die den Kern und die Masse des Volkes bilden, verhindert. In einem Lande mit monarchischen Traditionen und loyaler Gesinnung wird das allgemeine Stimmrecht auch zu monarchischen Wahlen führen.«

Lassalle unterdrückte mit Mühe den aufglimmenden Triumph. Der Mann dort hatte angebissen. Und wie er sich über die Wirkung des allgemeinen direkten Wahlrechtes täuschte! Jetzt vorsichtig weiter! Er preßte die Hände zusammen, die vor Erregung feucht waren, und zwang sich zur Ruhe.

»In Preußen,« sprach Bismarck nachdenkend fort, »sind neun Zehntel des Volkes dem Könige treu und nur durch den künstlichen Mechanismus der Wahl um den Ausdruck ihrer Meinung gebracht.«

»Dann würde ich,« lächelte Lassalle beherrscht, während jeder Nerv an ihm zuckte, »an Eurer Exzellenz Stelle die Konsequenzen dieser Einsicht ziehen.«

»Ja,« hob Bismarck die Arme, »man kann nicht jeder Einsicht folgen.«

»Jede Einsicht trägt die eingeborene Kraft des Sieges in sich,« versicherte Lassalle.

»Gut,« lächelte Bismarck, »dann wollen wir darauf hoffen, daß dieser Sieg einmal eintritt.« Und Lassalles weitere Entgegnung abschneidend, sagte er: »Ich möchte gern eins wissen, Herr Doktor, was uns im Moment näher liegt. In Ihrer Solinger Rede haben Sie über die bevorstehenden Wahlen zum Landtag gesprochen. Eins ist mir nicht ganz klar geworden. Warum befehlen Sie Ihrer Gefolgschaft nicht, mit der konservativen Partei zu stimmen, dort wo Sie keine Aussicht haben, Ihren eigenen Kandidaten durchzubringen? Diese Konsequenz vermisse ich in Ihrer Rede. Unsere Interessen sind doch – wie Sie selbst vorhin richtig bemerkten – gemeinschaftliche. Sie kämpfen von Ihrem wie wir von unserem Standpunkte gegen das Bestreben der Bourgeoisie, die Herrschaft an sich zu reißen.«

Da spürte Lassalle den Versucher. Und jetzt lächelte er: »Es käme ja nur auf ein Bündnis an. Geben Sie das allgemeine direkte Wahlrecht, so gebe ich die Stimmen meiner Arbeiter.«

Da lachte Bismarck in seinem ungenierten Freimut heraus: »Das möchte Ihnen so passen, mein lieber Doktor. Nee, is nich! Damit Sie ein Stückchen Wegs mit uns gehen und uns dann um so bitterer bekämpfen.«

»Aber Exzellenz,« beteuerte Lassalle, »sagten doch eben selbst, das gleiche direkte Wahlrecht würde monarchische Wahlen geben.«

»Stimmt, lieber Doktor. Aber trotzdem stehe ich nicht gern – nicht einmal scheinbar – als der Übertölpelte da. Nichts für ungut, lieber Doktor. Jeder tut, was er kann. Im Grunde kommt es zwischen uns beiden ja nur darauf an, wer der Mann ist, der mit dem Teufel Kirschen essen kann. Nous verrons.«

Er erhob sich. »Aber dieses Kirschenessen ist mir recht lehrreich. Ich bitte Sie, recht bald wiederzukommen. Für heute ist meine Zeit leider erschöpft. Wir haben noch manches zu besprechen. Ihre Assoziationen mit Staatshilfe interessieren mich sehr. Also, bitte, recht bald wieder!« –

Als kurze Zeit darauf Herr von Keudell eintrat, einige Unterschriften des Chefs zu erbitten, lächelte Bismarck beim Schreiben vor sich hin: »Heute war der Dr. Lassalle bei mir, lieber Keudell. Wollte mich für seine Bewegung ködern. Prachtvolle Idee, die ihm ähnlich sieht. Hat mir viel Vergnügen gemacht. Ist ein Mann, der ehrgeizig im großen Stile ist. Ein energischer, geistreicher Mensch, mit dem zu sprechen sehr lehrreich war. Ich hoffe, er wird den Eindruck gehabt haben, daß ich ein intelligenter und bereitwilliger Hörer bin. Schade, daß seine politische Stellung und die meinige mir nicht gestattet, viel mit ihm zu verkehren. Aber ich würde mich freuen, einen Mann von dieser Begabung und geistreichen Natur als Gutsnachbar zu haben.«

Und mit splitterndem Kiele warf er seinen Namen unter die Urkunden. –

Lassalle aber ging hoch erhobenen Hauptes an dem verblüfften Kammerdiener und dem strammstehenden Portier vorbei, mit wohlwollend herablassendem Gruße. Dann sprang er in eine Droschke. Heim, heim zur guten Gräfin, die fieberhaft des Ergebnisses harrte! Ah, sie würde staunen. Wie er auf seine Ausführungen gehorcht hatte! Sapperment ja, das war ein Zuhörer. Wie die dichten Brauen zuckten im Begreifen!

Er warf dem Droschkenkutscher einen Taler hin und rannte ins Haus. Der Mann besah das Geldstück, besah den Rücken des davoneilenden Fahrgastes, schüttelte den Kopf und fragte seine treue Lebensgefährtin, die alte Schimmelstute: »Verstehste det, Laura?« Die schüttelte den greisen Schweif.

Lassalle stürzte ins Arbeitszimmer, schwenkte den Zylinder und rief: »Ein entzückender Mensch, dieser Bismarck. So etwas burschikos Liebenswürdiges! Es war die unterhaltsamste Stunde meines Lebens.«

»Und der Erfolg?« drängte Sophie Hatzfeld. »Die Festung hat noch nicht kapituliert,« berichtete er freudebetört. »Das wäre auch etwas zu viel verlangt. Aber breite Breschen habe ich in die Umfassungsmauern geschossen. Beim nächsten Sturm wird sie sich ergeben und das sieghafte Banner des allgemeinen gleichen direkten Wahlrechts auf der Zitadelle hissen.«


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