Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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XVII.

In Vater Klingbeils niedriger Stube brodelte die Öllampe. Schweigend saßen der Alte und Loewe in schwere Gedanken und dichte Rauchwolken gehüllt. Mutter Klingbeil strickte ihren unendlichen grauen Strumpf. Hedwig las.

Lange wurde kein Wort gesprochen. Da hob Hedwig den hübschen braunen Kopf, wandte das lebhafte Gesicht dem jungen Fabrikanten zu und rief: »Nein, solch oller Quatschkopf, dieser Schulze-Delitzsch!«

Loewe lachte, der Mutter entfielen vor Schreck über das dreiste Wort zwei Maschen, der Vater aber brummte: »So'n rabiates Mädel! Was schmökerst du denn da schon wieder, he?«

»Schulze-Delitzschens Arbeitervorträge. ›Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus‹,« gab sie leichthin Bescheid.

»Wo haste die denn her?« fragte erstaunt der Vater.

»Von meiner Freundin Elli,« kam forsch die begehrte Auskunft.

»Das muß ja ein ganz besonders kluges Mädel sein, diese Elli, die da seit einiger Zeit bei euch im Geschäft ist,« bewunderte der Vater. »Aber weißte, schön von ihr finde ich's nicht, daß sie dich nie besuchen kommt. Das schickt sich nicht, daß du immer hinläufst.«

»Ich habe dir doch schon hundertmal die Gründe gesagt,« verwies Hedwig mit der Strenge des verwöhnten Kindes. »Sie kann ihre kranke Mutter nicht allein lassen. Was du nur immer wieder hast!« Die Mutter blickte sie scharf von der Seite an.

»Jotte doch,« gab Klingbeil klein bei, »verzeihen Sie nur gütigst, Mamsellchen, daß ich mir herausnehme, was zu bemerken! Nee, diese Weibsleute!« Und in seiner väterlichen Ahnungslosigkeit wandte er sich gutmütig bedächtig an Loewe: »Da sehen Sie, wie Lassalle seine Agitation schon wirkt. Selbst die Ladenfräuleins lesen die Arbeiterschriften!«

Loewe schwieg. Sein scharfer Blick hatte längst die Quellen der überraschenden Wandlung in Hedwig Klingbeils Seelenleben entdeckt. Er kannte die Frauen gut genug, um zu wissen, daß solche jähe geistige Knospen nur aufspringen unter der Bestrahlung eines Liebesgestirns. Und er ahnte, welches Himmelslicht an Hedwig Klingbeils Horizont aufgegangen war. Doch er wußte auch, daß es nicht seines Amtes war, hierüber zu sinnen und zu sprechen.

Er schwieg. Und Hedwig vergrub ihr Gesicht in den Blättern des Buches. Denn die Mutter, deren Weibesinstinkt schon lange Verdacht hegte, blickte scharf forschend zu ihr herüber.

Wieder rauchten die Männer in schweren Gedanken. Nur dann und wann klang das Umblättern einer Seite und das leise Klirren der Stricknadeln verloren durch die sinnende Stille.

Endlich seufzte Loewe: »Es wird hier in Berlin nichts werden. Das ist mir gestern klar geworden. Dieser Radau in der Versammlung! Die Leute stehen zu fest zu Schulze-Delitzsch. Und dann diese häufigen Besuche bei Bismarck. Das sickert doch durch und macht Lassalle den Arbeitern verdächtig.«

Klingbeil klopfte andächtig die kurze Tonpfeife aus. »Lassen Sie man, Herr Loewe –«

»Nanu, seit wann nennen Sie mich ›Herr‹!«, lachte der junge Fabrikant.

»Sie sind doch nu ein Herr. Wo Sie schon zwanzig Arbeiter haben.«

»Ih!« machte Loewe eine wegwerfende Geste, »das lassen Sie nur. Ich bleib' immer, der ich war.«

»Desto besser,« nickte Klingbeil. »Ja, was ich sagen wollte. Lassen Sie man Lassalle bloß machen! Da können wir gar nichts drein reden. Ich nicht und Sie nicht, Loewe, wenn Sie auch noch so'n feiner Kerl sind, und keiner nich. Wir sind man alle bloß Menschen. Aber Lassalle – das habe ich gleich am ersten Abend, wo Sie'n damals hergebracht haben, gemerkt, das ist kein Mensch wie unsereiner, das is 'n – ja, Sie können mir's glauben, der hat so was, wie man sich den Messias vorstellt. Das is kein Mensch wie unsereiner.«

Loewe schwieg beklommen. Hedwig lächelte leise vor sich hin. Ach, sie wußte, wie menschlich der Messias war! Der Alte sah es.

»Was grienst du Jöhre?« schalt er bärbeißig, »was verstehst du davon! Steck' die Nase in deinen ollen Schulze!« Die Mutter spähte scharf.

Loewe sog heftig an der Zigarre. »Ich will Ihnen Ihren schönen Glauben nicht nehmen, lieber Klingbeil. Ich wünschte wahrhaftig, es hätten noch einige Dutzend diesen Enthusiasmus in Berlin, dann ständen andere Erfolge da. Aber mir gefällt diese Sache mit Bismarck nicht. Lassalle verrennt sich da in eine Sackgasse. Ich kann mir denken, was er von ihm will. Er soll das allgemeine direkte Wahlrecht als Kampfmittel gegen die Fortschrittler oktroyieren. Aber –« er zog die gedankenreine Stirn kraus, und aus ihm sprach der tüchtige Parlamentarier, der er später wurde – »Bismarck denkt nicht daran, das allgemeine direkte Wahlrecht aufzuzwingen. Er hält Lassalle hin. Bismarck hat ganz andere Pläne. Sie werden sehen, die Zukunft wird mir recht geben. Der Mann will Deutschlands Einheit schmieden. Das ist sein großes Ziel. Und das sage ich Ihnen: mit dem allgemeinen direkten Wahlrecht wird er Deutschland zusammenkitten. Aber er denkt nicht daran, es für diesen Kampf mit den Liberalen, der ihm im Vergleich zu seiner Lebenspolitik eine Bagatelle ist, zu vergeuden.«

Hedwig starrte ihn angstvoll an. »Dann wäre Lassalle doch auf ganz falschem Wege!« brach die Sorge um den Geliebten aus ihr hervor.

Der Vater lachte: »Sieh einer die Bange von der Jöhre an! Reg' dir man nich auf, Mädel, der Mann is nich auf falschem Wege, der kennt seine Richtung ganz genau!«

Die Mutter prüfte wieder heimlich und sah ihre schreiende Angst um den Mann. Und wußte fast alles. Loewe aber sagte ernst: »Ja, Fräulein Hedwig. Er ist auf falschem Wege. Er verrennt sich auf einen Holzweg. Und verliert dadurch jede Fühlung mit dem Empfinden der Arbeiter. Und seine Gegner beuten den regen Verdacht gegen ihn weidlich aus. Ich habe es ihm schon mehrmals gesagt. Er hat mich verlacht. Sein Selbstbewußtsein will es nicht wahrhaben, daß Bismarck seinem Einfluß überlegen ist. Vielleicht –« er sah ihr fest in die Augen – »könnte ein anderer es ihm immer und immer wieder sagen.«

Hedwig barg das blutunterströmte Gesicht in den Blättern des Buches. Die Mutter hatte ihre schmerzliche Gewißheit.

Der brave Alte aber faltete die Arme über dem blauen Kittel und beharrte in seinem felsenharten Vertrauen. »Reden Sie keinen Unsinn, Loewe! Der Mann weiß, was er tut. Wenn es jetzt hier in Berlin auch schlecht geht. Am Rhein haben sie ihn doch als richtigen Messias gefeiert. Sie selbst haben uns doch die ›Düsseldorfer Zeitung‹ vorgelesen, wo alles drin stand. Hauptsache sage ich ist: an ihn glauben. Ich glaube an ihn. Er ist meine Zuversicht!« Er faltete unwillkürlich fromm die Hände. »Ich sag' nur immer wieder: wäre er ein Mensch wie du und Sie und alle, schön, dann könnte man schwanken. Aber er is zu unserm Messias bestimmt. Das fühle ich. Und das haben die am Rheine auch gefühlt. Und darum kann auch kein Bismarck und keiner nich gegen ihn an. Und Sie werden ja am 22. sehen, wie er da die Berliner packt. Gestern nach der Radauversammlung hat er zu mir gesagt: ›Klingbeil,‹ sagt er, ›nu erst recht. Jetzt werde ich den Stier bei den Hörnern fassen.‹ Und er tut's, darauf können Sie Ihnen verlassen.«

Loewe kaute stumm an seiner Zigarre. Er hatte seine bösen Ahnungen.

Da rief Klingbeil: »Nu wollen wir nicht Trübsal blasen, Kinder. Hede, hol' mal das schöne Lied aus der Lade, das er uns gestern in der Versammlung gegeben hat. Wir wollen's noch mal singen. Das gibt Mut!«

Und Hedwig holte das Arbeiterlied, das Herwegh auf Lassalles Drängen dem Verein gestiftet und Bülow vertont hatte.

Jeder erhielt ein Blatt. Und andächtig sangen die beiden Männerstimmen, begleitet von Frau Klingbeils schüchternem Sopran und Hedwigs mutigem Alt, das blutaufpeitschende Arbeiterlied:

»Bet' und arbeit'! ruft die Welt.
Bete kurz! Denn Zeit ist Geld,
An die Türe pocht die Not;
Bete kurz! Denn Zeit ist Brot.

Und du ackerst und du säst,
Und du nietest und du nähst,
Und du hämmerst und du spinnst,
Sag', o Volk, was du gewinnst!

Wirkst am Webstuhl Tag und Nacht,
Schürfst im Erz- und Kohlenschacht,
Füllst des Überflusses Horn,
Füllst es hoch mit Wein und Korn.

Doch wo ist dein Mahl bereit?
Doch wo ist dein Feierkleid?
Doch wo ist dein warmer Herd?
Doch wo ist dein scharfes Schwert?

Mann der Arbeit, aufgewacht
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will!

Brecht das Doppeljoch entzwei!
Brecht die Not der Sklaverei!
Brecht die Sklaverei der Not!
Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!«

Mächtig dröhnte Klingbeils führender Baß an der niedrigen Decke wieder.

»Da liegt Marks drin,« wischte er sich befriedigt über die Lippen. »Donnerwetter ja, da liegt Marks drin!«

»Das ist mit Eisen geschrieben!« lobte Loewe und stand auf.

»Gute Nacht, denn,« sagte er sorgenvoll, »auf bessere Zeiten!«

Kaum war er aus der Tür, da stand Hedwig vor dem Spiegel.

»Wo willst du denn jetzt noch hin?« fuhr der Vater sie an. »Gleich halb zehne ist's.«

»Zu Elli, natürlich,« versetzte sie harmlos gelassen. »Ich spring' noch auf'n Augenblick zu ihr herum. Jetzt kann ich doch noch nicht schlafen. Das Lied macht einen ordentlich heiß. Ich hab' ihr auch versprochen, es ihr noch heute abend zu bringen.«

»Daß du aber bald wiederkommst,« gab der Vater gutmütig nach. »Um sechse mußt du aus den Federn.«

»Ja, ja,« lachte sie, sagte gute Nacht und war draußen. Rasch eilte sie durch den Feldweg zum Kanal.

Sie durfte jetzt nie vor halb zehn zu ihm kommen, er arbeitete in dieser Zeit über alle menschliche Kraft. Betrieb wieder allein die ganze Kleinarbeit des Werbens für den Verein, schrieb ein großes ökonomisches Werk gegen Schulze-Delitzschens »Kapitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus«, arbeitete seine Verteidigungsreden aus in dem Hochverratsprozeß, der wegen der Ansprache an die Arbeiter Berlins gegen ihn schwebte, und in den Strafprozessen, die ihm zwei Agitationsreden wegen Aufreizung zum Klassenhaß eingebracht hatten, und schlug sich in nimmermüden Eingaben, Beschwerdeschriften, Rekursen mit Polizeibehörden, Gerichten und Ministerien wegen Beschlagnahme seiner Schriften, Verhaftungsbedrohungen und Belästigungen seiner Anhänger herum. Der Verkehr mit Bismarck half ihm da weiß Gott nicht. Er mußte sich wacker seiner Haut wehren und tat es mit fast übermenschlicher Stärke.

Nein, vor halb zehn hatte er für Liebesgetändel keine Zeit!

Als das Mädchen die Stube verlassen hatte, geschah etwas nie Geschehenes. Frau Klingbeil legte den Strickstrumpf beiseite, ehe es Schlafenszeit war! Sie legte ihn geradezu endgültig für heute in den Arbeitskorb. Der Alte, der für sich noch einmal mit halblauter Stimme das Lied brummte, ließ baff das Blatt sinken und fragte:

»Is dir nicht gut, Mutter?«

»Ich hab' so 'ne Angst,« flüsterte sie.

»Angst? Nanu! Wovor denn?«

»Von wegen dem Mädel. Die geht zu keiner Freundin.«

Dem Alten entfiel das Blatt. »Was sagst du da?!!«

»Ich fürchte, sie hat'n Verhältnis,« grauste der Frau.

Der Mann stand auf beiden Füßen. »Was sagst du da!! Die Jöhre! Unsere Hede! Bei dir rappelt's wohl!«

»Mir is so,« beharrte die Frau verstockt. Der Arbeiter sah sich mit blutunterlaufenen Augen im Zimmer um, als suche er eine handfeste Waffe. »Das – das –« ächzte er – »wenn das –« Doch schnell beruhigte er sich. »Unfug, Alte, siehst Gespenster. Unsere Hede! Ne, so was tut die nich. So 'n propperes Mädchen wie die is. Bist ja übergeschnappt.« Und er setzte sich wieder schwer in den stöhnenden Stuhl. »Ordentlich bange kannst du einem machen.«

»Ich hab' sie schon lange beobachtet. Sie is so anders geworden im letzten Jahr. Und immer diese Freundin! Und all die Bücher. Da steckt wer dahinter,« blieb die Mutter fest.

»Wer soll denn da dahinter stecken!« lachte er großartig, wieder ganz im Banne seiner vernarrten Vaterliebe.

»Lassalle,« flüsterte die Mutter und starrte angstvoll zu dem Manne hin.

Ganz langsam, wie eine Dampfsäge, kam der Oberkörper des Alten nach vorn. »Wa-a-s!« riß er die Zähne auseinander.

»Sie hat ein Verhältnis mit Dr. Lassalle,« sprach die Frau in seltener Lebhaftigkeit. »So gewiß wir zwei hier sitzen.«

Der Mann lehnte sich im Stuhle zurück. »Geh schlafen, Alte,« murrte er, »du träumst.«

»Man muß sie von ihm losreißen,« drängte besorgt die Frau. »Ehe es zu spät ist. Nachher läßt er sie sitzen, und dann haben wir die Bescherung. Du müßtest mal mit ihr sprechen. Auf mich hört sie ja doch nicht.«

»Ist ja Unsinn,« räkelte sich der Mann im Stuhle. »Ist ja heller Unsinn. Lassalle unser Mädel verführen! Unser Messias! Geh schlafen, Alte!«

Da rief die verängstigte Frau: »Geh doch mal hin zu ihm! Jetzt. Eine Ausrede findest du. Da wirst du ja sehen.«

»Laß mich in Frieden,« fuhr er da auf, »laß mich mit deinem verdrehten Frauenkram in Frieden.«

Er hob das Blatt von der Erde.

Doch die Frau ruhte nicht. Sie bat und bettelte und drängte, bis er endlich die Mütze vom Riegel nahm. Noch in der Tür knurrte er: »Solch'n Blödsinn! So 'n hanebüchener Blödsinn! Wenn so 'n Weib sich was in'n Bregen gesetzt hat!«

Und ärgerlich schritt er der Potsdamer Straße zu. Denn Lassalle war wieder einmal umgezogen.

Aber bald siegte seine Gutmütigkeit über den Grimm auf die Frau, die ihn im Grunde trotz ihrer scheinbaren Sanftmut kräftig beherrschte. Es war ja alles Unsinn. Aber wenn er ihr nicht die Gewißheit brachte, gab sie die ganze Nacht keine Ruhe. Er kannte das. Na, er würde Lassalle wegen der Versammlung vom 22. fragen. Ausreden gab es ja genug. Schön. Die Alte sollte wieder mal ihren Willen durchsetzen. Wie übrigens immer.

Ergeben ging er rasch dahin, um noch vor Toresschluß das Haus zu erreichen, und sang laut in die Stille der Winternacht vor sich hin:

»Mann der Arbeit, aufgewacht
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will!« – –

»Sie haben heute wieder den ganzen Abend von dir gesprochen,« erzählte Hedwig, sich auf seinen Knien schaukelnd. »Und Loewe meinte, mit Bismarck das würde nichts.«

»So,« lachte Lassalle und wiegte sie sorglos in den Armen. »So? Also mit Bismarck ist nichts? Nun, Loewe muß es ja wissen. Aber, weißt du, Kindchen, sprechen wir von was anderem! Du bist doch meine frohe Ruhepause im Sturm meiner Arbeit. Erzähl' mir was Lustiges. Mach' noch mal euren Reisenden Stein nach. Das machst du zu drollig.« Gefügig stellte sie sich in Positur. Doch plötzlich schwand ihr die Lust. »Ich bin nicht in Stimmung. Ich sing' dir lieber was. Das Arbeiterlied. Ja?«

»Sehr gut.«

»Ich kann es schon auswendig,« tat sie stolz und sang mit ihrem schönen frischen ungeschulten Alt. Lassalle lauschte überwachend und schlug ein wenig pedantisch den Takt mit dem Zeigefinger. Plötzlich stand die Hand steil in der Luft. Draußen im Korridor polterte lauter Wortwechsel.

Friedrich suchte gerade Klingbeil begreiflich zu machen, daß Herr Dr. Lassalle nicht zu sprechen sei. Da spitzte der Mann die Ohren, den Diener warf eine mächtige Schmiedefaust gegen die Wand. Der Vater stand im Zimmer.

Grell riß das Lied ab.

»Va–« schrie Hedwig und flüchtete in die dunkelste Ecke der Stube.

Lassalle starrte auf den Mann, dessen Kehle im Ausschnitt des Arbeiterkittels furchtbar arbeitete. Doch schnell meisterte er seine Überraschung. »Sie sind erstaunt, Ihre Tochter hier zu finden, Klingbeil,« sagte er ruhig. »Ja, sie kommt bisweilen abends zu mir. Sie sang mir eben unser Arbeiterlied.«

Der Alte rang nach Luft.

Da hatte Hedwig die unverwüstliche Berliner Dreistigkeit wiedergefunden. »Vater,« rief sie keck, »du brauchst nicht glauben, daß hier irgendwas passiert oder so. Der Herr Doktor ist nur so freundlich, mich in seine Lehre einzuweihen.«

Da machte der große Mann eine müde traurige Bewegung mit der Hand. »Laß,« sagte er leise, »laß das!«

»Nein wirklich,« suchte sie ihn zu überzeugen.

»Zieh dich an. Komm mit,« gebot er heiser.

Sie rührte sich nicht und blickte ängstlich auf den Geliebten.

»Sie müssen es richtig sehen, Klingbeil,« griff Lassalle ein. »Das Mädchen war mir eine große Hilfe. Ihr verständiger Sinn, ihre echte rechte Berliner Munterkeit war mir eine erfrischende Erholung nach des Tages Arbeit.«

»Lassen Sie,« machte der Mann. »Komm, Hedwig, du brauchst keine Bange zu haben, ich tu' dir nichts. Du kannst wohl nichts dafür. Der da hat noch ganz andere benebelt, als so 'nen dummen unerfahrenen Mädchenkopf.«

Da kam sie näher und griff zum Hute. Mit Vatern würde sie schon fertig werden. Die Sache lief ja ganz gut ab.

Währenddessen sprach Lassalle emsig auf den schweigenden Mann ein. Wie sie ihn in seiner Arbeit gefördert habe, wie er alles mit ihr habe besprechen können, wie ihre Gegenwart der gesamten Arbeitersache genützt habe. »Sie ist mir wahrhaftig mehr gewesen als manche Bourgeoisdame, die mich geliebt hat.« Der Mann hörte wortlos zu. Als Hedwig in Hut und Jacke dastand, sagte er: »Geh.« An der Tür wandte er sich noch einmal zurück: »Sie haben mir mehr genommen, Herr Doktor, als den Glauben an mein Kind. Loewe hat recht: auch Sie sind nur ein Mensch.«

Damit ging er hinaus, das Mädchen vor sich hertreibend.

Lassalle sah ihnen betroffen nach. Dann setzte er sich langsam an den Tisch. »Schade,« sagte er laut vor sich hin. Und meinte den Verlust der lustig klaren Liebsten und seines treuesten Anhängers.

Dann tauchte er die Feder ein und arbeitete weiter an seinem »Herrn Bastiat-Schulze von Delitzsch.«

Stumm rannte Hedwig neben den Siebenmeilenschritten des Vaters her. Er schwieg. Nur einmal warf er ihr bitter hin: »Das also war diese Freundin Elli!«

Sie wagte kein Wort. Zu Hause lief sie sofort in ihre Kammer und verriegelte die Tür. Morgen würde wieder klareres Wetter sein. Sie kannte den Vater. Vor der Mutter hatte sie keine Angst.

Die beiden Klingbeils saßen noch lange bei der Lampe, der Mann erschüttert, die Frau verstört, aber doch ein wenig triumphierend ob ihrer klugen Nase. Da klang es aus der Tochter Verschlag sorglos und markig:

»Bet' und arbeit'! ruft die Welt.
Bete kurz! Denn Zeit ist Geld.
An die Türe pocht die Not;
Bete kurz! Denn Zeit ist Brot.«

»Da singt sie schon wieder, ganz munter!« entsetzte sich die Mutter.

Der Alte aber murmelte mit zerbrochener Zärtlichkeit: »so 'n rabiates Mädel!! –«


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