Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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VII.

Das Jahr 1858 ging zur Neige.

Die Gräfin hatte in dem Schleicherschen Hause ihr behagliches Heim eingerichtet, der Lassallesche Kreis hatte sich ihr längst freundschaftlich erschlossen.

Marie Kraffts Verlobung war gefeiert worden, zu Weihnachten sollte die Hochzeit sein.

Im Herbst hatte der grimme Lächler Varnhagen von Ense dem fast neunzigjährigen Freunde Humboldt sanft lächelnd den letzten grimmigen Schritt vorausgetan und seiner Nichte Ludmilla das verpflichtende Vermächtnis der Veröffentlichung seiner Schriften hinterlassen. Ihre Klugheit und Kenntnis war dieser Aufgabe gewachsen. Doch sie erbat Lassalles Beistand.

Jeden Nachmittag schloß er gegen fünf Uhr die Folianten, über die er seit dem frühen Morgen gebeugt saß. Dann hob die Gräfin den Kopf von der Stickerei, einen stechenden Schmerz in der Brust. Jeden Mittag erschien sie in der Potsdamer Straße, nahm dort das Mittagsmahl ein, das Lassalle jetzt zuhause genoß, und blieb bis zum späten Abend bei dem Freunde. Er las und studierte, und sie las oder stickte. Und ab und zu hob er das Gesicht von dem Buche und lächelte zu ihr hinüber und fühlte sich treu behütet und geborgen in ihrer Nähe. Und ab und zu sprang er auf und sprach die Ausbeute seiner Studien vor ihr zur Klarheit durch. Ihr heller Verstand faßte und begriff und ward beschlagen und kundig in allen dunklen Irrwegen der schwierigen ökonomischen Wissenschaft.

Wenn er das Buch zuschlug und sagte: »Nun werde ich zu Ludmilla gehen und ihr ein bißchen helfen,« hob sie den grauen Kopf, empfand den bösen Stich am Herzen und lächelte: »Ja – geh.«

Dann saß sie mit verzerrtem Munde in dem weiten schattenhaften Bibliothekzimmer, die Eifersucht grub tiefe Runen in die weiße glatte Haut um den Mund und die Augen und das Kinn. Sie ordnete das Hauswesen, besprach den Küchenzettel wie ehedem in Düsseldorf mit der alten Johanna, bewachte das Decken des Abendbrottisches und lauschte, lauschte, bis sein Schritt am Abend wieder im Korridor erklang. Dann trat sie ihm mütterlich lächelnd entgegen und fragte mit bezwungener Milde: »Nun, seid Ihr schön vorwärts gekommen?« Er nickte und erzählte und lachte bissig über den devoten kongenialen Spötter Varnhagen von Ense.

Das Entzünden dieser heimlich gelegten Pulverminen des geistvollen Mannes gewährte ihm eine aufstachelnde Freude. Wie ein Maulwurf wühlte er in dieser kritzligen Schrift der feinen Greisenhand.

Dicht an seiner Seite saß Ludmilla Assing. Doch sie verstand kein Wort von dem, was Lassalle aus diesen tausend Papieren und Papierchen entzifferte. Sie hatte auch schon am Morgen alles allein durchgearbeitet. Jetzt saß sie da, scheinbar in das Manuskript vertieft, und sah nichts als die schönen scharfgeschnittenen Züge des Mannes an ihrer Seite. Und hörte das Rauschen seiner Stimme, hörte es wie bestrickende Musik. Doch verstand sie kein Wort. Ihre Gedanken hasteten anderen Fragen nach. Warum sagte er nie wieder: »Wie schön Sie heute sind, Ludmilla!!« Nie wieder hatte er es gesagt. Das Schwarz des Trauerkleides stand ihr nicht. Sie wußte es ja, und ihr Spiegel, ach, der wußte es auch. Was half es, daß sie stundenlang in der Kälte draußen in den Straßen umherlief, ehe er kam! Er sah ja nicht mehr die Frische des Winters auf ihren bleichen Wangen und in ihren grauen Augen. Er gab ihr höflich liebenswürdig die Hand und ging sofort an die Arbeit. Und wenn die alte Standuhr im Salon nebenan acht schlug, stand er auf, gab ihr wieder liebenswürdig höflich die Hand und ging. Und sie rannte zum Fenster und sah mit brennenden Augen seine elastische Gestalt um die Ecke in die Leipziger Straße hinein verschwinden.

Dann grub sie die Nägel in das Fenstergesims und dachte voll Harm, daß er nun zu der »guten Gräfin« heimeilte. Wie sie diese Frau haßte! Diese Frau, die soviel älter war als sie und soviel verblühter. Und die, die, die lockte und reizte sein Verlangen, diese Alte! Ahnte er denn nicht, wieviel unverbrauchte Kraft und Sehnsucht in ihr auf den Erwecker harrte! Ahnte er nichts von den Schätzen ungehobener Weibesleidenschaft, die in ihrem Körper nach dem Schatzgräber schrien! Und sie warf sich nieder vor dem Sessel, auf dem er gesessen hatte, und schmiegte das heiße Gesicht in das sanft streichelnde kühle Lederpolster. Und wenn es in den alten Möbeln knackte oder im Salon nebenan in den Saiten des alten Spinetts erinnerungträumend aufsang, packte sie ein Grausen vor dieser flüsternden Stätte der Vergangenheit, in der ihre lebendige Wirklichkeit eingesargt versteinte. Furchtgehetzt lief sie hinaus in die Küche zur alten Dore. Die sagte nichts. Sie hatte in ihrem reichen langen Leben so viel gesehen, daß sie nun ohne Staunen, ohne Worte alles begriff. Sie wischte mit ihrer blauen Schürze über den harten Küchenstuhl und schob ihn Fräulein Ludmilla zu. Und während das Wasser auf dem Herde seine Märchen brodelte, erzählte sie sänftigend von den guten alten Tagen.

»Und eines Tages, als Frau Rahel schon recht krank war, bat ich sie, doch etwas Tee zu nehmen. Sie sträubte sich. Da sagte ich dringend: ›aber, gnädige Frau!‹ Da lachte Frau Rahel so hell, wie nur sie lachen konnte, und sagte: ›Ach, meine liebe gute Dore, jetzt hat es sich ausgegnädigefraut. Nun kommt bald der große Gleichmacher‹.« –

Und der Teekessel sang sein Lied, und Ludmilla dachte an den Liebsten und an ihr Leben, das hier sacht versickerte wie die alten Geschichten der alten Dore. – –

Und Neujahr kam in Frostglanz und tiefem Schnee. Ganz Europa hob plötzlich den Kopf und horchte. Wie Donnerhall dröhnte es von Paris herüber. Bei der Neujahrsgratulation in den Tuilerien hatte Napoleon zum österreichischen Gesandten mit hochgezogenen Brauen gesprochen: »Ich bedauere, daß die Beziehungen zwischen unseren Regierungen nicht mehr so gut sind wie früher.« Wer Ohren hatte zu hören und Verständnis für diplomatische Brüskierung, der wußte: das war der Krieg. Das war das Eingreifen Frankreichs in die Freiheitsbestrebungen Italiens. Die sieche Halbinsel reckte sich wieder auf ihrem Krankenlager.

Im allgemeinen Völkersturm von 1848 hatten auch die oberitalienischen Stämme sich gegen die österreichische Herrschaft empört, unter der sie stöhnten. Der König von Sardinien stand an ihrer Seite. Österreich hatte den Aufstand blutig unterdrückt. Unter der Asche äußerer Entsagung glühte es weiter. Jetzt hatte Sardiniens Thron der junge tatkräftige Victor Emanuel bestiegen. Cavour, die energische Klugheit, war sein Berater. Ihm gelang es, den Groll, den Napoleon seit dem Krimkriege gegen Österreich hegte, zu einem Bündnis umzuschmieden. Frankreich sollte mit Sardinien im Bunde die Lombardei und Venetien von der österreichischen Herrschaft befreien. Als Lohn winkte Nizza und Savoyen.

Mit diesem Bündnis im Rücken sprach Napoleon jene friedenzertrümmernden Neujahrsworte.

Der Mann in der Potsdamer Straße zu Berlin hob das Antlitz von seinen ökonomischen Werken. Auf stand er und klappte sie resolut zu. Was sollte in dem ausbrechenden Sturm der Gegenwart die Arbeit für die Zukunft! All die alten trauten langgehegten, wirr verschwommenen Pläne vom Kampfe um die politische Freiheit seines Volkes, vom Kampfe um die Einigkeit Deutschlands flammten hervor aus der einlullenden Dämmerung. Jetzt war seine Zeit gekommen. Die Fanfaren riefen.

Der Krieg Italiens war der Kampf eines Volkes um seine politische Freiheit. Das war Bruders Sache. Es ging gegen Österreich, den Feind der deutschen Einigkeit. Jetzt lag Deutschlands Einheit in Preußens Hand. Was würde Prinz Wilhelm, der jetzt die Regentschaft für den geisteskranken König übernommen hatte, tun? Wem würde er sich anschließen? Würde er dem Buhlen Österreichs folgen, das den Erzherzog Albrecht nach Berlin entsandt hatte, den Regenten zu einem Schutz- und Trutzbündnis zu gewinnen?

Lassalle fieberte. Er lief bei den Freunden umher, bei Duncker und bei den anderen Demokraten.

»Es muß etwas geschehen!« ging er empor wie eine Rakete, »es muß auf die Regierung ein Druck ausgeübt werden, damit das Bündnis mit Österreich scheitert. Jetzt ist die Zeit zu Deutschlands Befreiung und Einigkeit reif. Wir müssen Italien helfen, schon deshalb, weil dort ein Volk um seine Freiheit ringt. Aber auch für unsere eigene Freiheit. Österreich hält die Reaktion mit eisernen Händen. Es ist seit Jahrhunderten eine kulturfeindliche Macht. Darum muß es zerdrückt, zerfetzt, vernichtet, zermalmt werden. Unterliegt dort die Militärgewalt, so wird das Volk aufstehen. Das Beispiel wird zünden und übergreifen. Österreich hindert aber auch die Einigung Deutschlands. Es muß hinausgeworfen werden aus dem deutschen Bunde. Dann wird Preußen die übrigen deutschen Staaten als neues junges Kaisertum einen. Also: Kampf gegen Österreich an Frankreichs und Italiens Seite. Helft, Freunde, helft, die Regierung auf den rechten Weg zu drängen.«

»Ja,« wandte Duncker sorgenvoll ein, »die Entscheidung ist nicht so leicht, wie es Ihnen scheint, lieber Freund. Gewiß, jeder demokratisch oder auch nur liberal denkende Kopf kann den Italienern seine Sympathie nicht versagen, die für das Recht ihres Volkes auf freie Selbstbestimmung kämpfen.«

»Aber,« fiel Dohm ein, »kein Demokrat kann an die Seite Napoleons treten, dieses Mannes, der 1848 durch Freiheitsschwüre zur Macht gelangte und durch den Staatsstreich 1851 die Republik eidbündig erdrosselt hat. Und dann –«

Hitzig unterbrach Lassalle: »Glauben Sie nicht, daß in mir ein Funken Neigung für diesen ›Dezembermann‹ glüht! Aber ich seihe weiter. Er ist wider Willen ahnungslos das Werkzeug des Weltgeistes zur Befreiung der Menschheit geworden. Er wird an diesem Widerspruch zugrunde gehen.«

Doch die Freunde schüttelten den Kopf. Und die von Duncker herausgegebene Volkszeitung brachte franzosenfeindliche Kampfartikel.

Da griff Lassalle zu seiner starken Waffe, der Feder. Schreien wollte er, der Regierung seine Mahnung und Warnung zuschreien, laut, laut, mit der ganzen Kraft seiner Lungen und seines funkenschlagenden Geistes. In wenigen Nächten warf er seine Schrift: »Der Italienische Krieg und die Aufgabe Preußens« nieder. »Eine Stimme aus der Demokratie« nannte er als Verfasser. Mit der feurigen eindringlichen Kraft seiner überzeugenden Logik wies er nach, daß die Hetze gegen Napoleon ein kindischer Fehler sei. Wohl wäre er mit Recht verhaßt, aber zwischen der Person und dem Staatswesen sei zu unterscheiden. Die italienische Erhebung sei darum eine nicht weniger gute Sache, weil ein schlechter Mann sie aus erbärmlichen politischen Motiven in die Hand nähme. Louis Napoleons Regierungssystem stehe im Widerspruch mit den Prinzipien, die er selbst verkündet habe. Er müsse an diesem Widerspruche, der zu ewigen Reibungen führe, scheitern und sei daher weit weniger gefährlich, als das in sich gefestete und seinem innersten Wesen nach reaktionäre Regierungssystem Österreichs.

»Louis Napoleon mag noch so sehr alle Schriften konfiszieren, welche man von London und Jersey aus in Frankreich zu kolportieren sucht. Wer konfisziert ihm aber seine eigenen Manifeste, Moniteur-Artikel und Proklamationen?« Schon zeigten die Dinge in Frankreich die Folgen jenes Widerspruchs. »Die französischen Orgeln spielen plötzlich wieder die revolutionären Lieder, die Regimenter singen die Marseillaise, durch die Arbeiter geht eine ungeheure Gärung.« In einem solchen Augenblick Frankreich entgegenzutreten und ihm zu verbieten, den Italienern beizustehen, sei der größte Fehler, den die Demokratie in Deutschland begehen könne.

Und nun Preußens Aufgabe! »Ein Friedrich der Große würde den Moment für den geeignetsten halten, in Österreich einzurücken, das deutsche Kaisertum zu proklamieren und der habsburgischen Dynastie zu überlassen, ob und wie sie sich in ihren außerdeutschen Ländern behaupten kann. Ja, noch einmal liegt die deutsche Kaiserkrone auf der Straße. Sie wird nicht aufgehoben werden. Es wäre unbillig von jedermann zu verlangen, daß er ein Friedrich der Große sei.« Aber welche Haltung könne man dem preußischen Kabinett zutrauen? In jedem Falle sei von der Regierung zu verlangen, daß sie zunächst neutral bleibe, aber ihre Truppen mit der Erklärung bereit halte: »Revidiert Napoleon die europäische Karte nach dem Prinzip der Nationalitäten im Süden, gut, so tun wir dasselbe im Norden. Befreit Napoleon Italien, gut, so nehmen wir Schleswig-Holstein. Mit dieser Proklamation unsere Heere gegen Dänemark gesendet!«

Die Broschüre mit dem Motto: »Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo« – kann ich die Höhen nicht bewegen, so werde ich die Niederung in Wallung bringen – fand reißenden Absatz. Auf dem Titelblatt der zweiten Auflage bekannte sich Lassalle als Verfasser.

Mit Spannung erwartete er die Wirkung des mutigen Mahnrufs. Wie würde der Prinzregent, dem die Prinzessin Viktoria soeben den ersten Enkel geboren hatte, sich entscheiden?!

Inzwischen drängte Österreich zum Kriege. Am 23. April erschien ein habsburgischer Offizier beim König Viktor Emanuel in Turin und stellte ein Ultimatum dahin: entweder vollständige Entwaffnung oder Krieg. Cavour wählte gierig den Krieg.

Lassalles Stolz und Freude kannte keine Grenzen, als die preußische Regierung die von ihm empfohlene abwartende Haltung einnahm. Die Armee wurde zwar mobilisiert, doch nur, wie das am 26. April an die deutschen und auswärtigen Mächte erlassene Rundschreiben kundtat, »zur Beschützung des Bundesgebietes«.

Mit entnervender Unrast folgte Lassalle den Vorgängen auf dem Kriegsschauplatze.

Sein Sehnen, sein Fürchten, sein Hoffen war bei den französisch-italienischen Scharen. Kaum berührt wurde er von der Ablehnung seines Dramas durch die Intendanz des Schauspielhauses, kaum hineingezogen in den Streit, der in Berlin um Richard Wagner in grandioser Heftigkeit entbrannte.

Am Sonntag, den 23. Januar, war in Berlin zum ersten Male der »Lohengrin« aufgeführt worden. Wohl saß er mit der Gräfin in der Loge. Doch seine Seele war nicht bei den Kämpfen um den Erfolg des Werkes. Sie flatterte in weiter Ferne bei gewaltigerem Ringen der Freiheit. In Berlin aber sprach man in allen Kreisen lange Zeit von nichts anderem als dieser Aufführung, von Tauberts vortrefflicher Leitung, von Formes' Schönheit und Stimmkraft als Lohengrin, von Fräulein Wipperns lieblicher Elsa, von Fräulein Wagners Ortrud und Pfisters Heerrufer. Und wie das Publikum von der Schönheit des ersten Aktes eingenommen gewesen, dann aber von »den Längen« und der »teilweisen musikalischen Zerfahrenheit« des zweiten Aufzuges zu ermüdet und abgespannt worden sei, als daß es hoch für die Schönheiten des Schlußaktes habe empfänglich sein können.

Und man stritt für und wieder. Antiwagnerianer hoben höhnend ihr Haupt, Philowagnerianer tobten unter Bülows Fahne. Lassalle spähte über die Alpen. – Im Mai starb Alexander von Humboldt, der Weise, an den Lassalle einst Heines kurzen Empfehlungsbrief mit dem traurig-langen Inhalt gebracht hatte: »Dem großen Alexandros sendet die letzten Grüße der sterbende H. Heine.«

Nun hatte auch der große weltumsegelnde Alexandros die letzte große Reise angetreten. Für Lassalle gab es in dieser Zeit keinen Tod. Seine Sinne hingen an dem wild erwachten Leben dort unten im Süden.

Da – da am 4. Juni – donnerten die Kanonen von Magenta, wenige Tage später am 24. Juni knatterte das Gewehrfeuer von Solferino herüber. Italien siegte, die Freiheit triumphierte! Österreich wurde zerfetzt! Machtlos stand es nun bald dem Drängen seiner Völker nach Freiheit gegenüber, kräftelos hing es im deutschen Bunde, seines Übergewichts und seiner Führerrolle beraubt. Frei ward der Weg für Freiheit und Einheit. – –

Am Abend des 11. Juli verließ Lassalle das Haus. Er wohnte seit dem 28. März in der Bellevuestraße. Jetzt, da sein Aufenthalt in Berlin gesichert war, hatte er sich ein noch geräumigeres und noch üppigeres Heim geschaffen.

Er eilte fieberheiß dahin, dem Heislerschen Lokale an der Potsdamer Brücke zu, in dem die neuesten Zeitungen auslagen. Vielleicht war eine dritte Schlacht geschlagen! Wer weiß, am Ende hatte Mac Mahon die Österreicher aufgerieben, während er hier spazierte. Wer weiß!

Er schlug den nächsten Pfad ein, diesen Sommerlinden, schwül duftenden »Kanonenweg«, der zwischen den Gärten der Potsdamer Straßenhäuser und der dunkellaubigen Pracht des Bendemannschen Parkes und dem Garten des Kemperhofes sich dahinschlängelte. Jetzt, in dem sinkenden blauen Sommerabend war dieser schmale, rechts und links von alten verwitterten Staketenzäunen eingefriedete Weg eine blumenträumende Unwirklichkeit, dicht vor den Toren der werdenden Großstadt. Weit über die Zäune segneten zu beiden Seiten die Fliederbüsche ihre letzte Blütenherrlichkeit über den Wandelnden hin, und Jasmin und Schlehdorn atmeten betäubend und wollüstig dem einsamen Wanderer ihre nächtliche Sehnsucht zu. Und die Finken schlugen ihr nachtgedämpftes Lied, und die Nachtigallen entlasteten in süßem Flöten ihr kleines seligkeitswehes Herz.

Nein, durch diese belebte Blumennacht eilte niemand hastigen Schrittes der Zeitung zu. Hier schwieg der Lärm der Stadt, hier sänftigte sich mild die Unrast des Lebens.

Ganz langsam schritt Lassalle zwischen dem Duft und Vogelsang und dem wehenden Atem der Natur, trat leise auf den weichen Sand des Weges, die heilige Stille nicht zu stören.

Dicht vor der Brücke mündete dieser Blumenweg in die Potsdamer Straße. Auch hier war noch Gartenwelt und Einsamkeit. Doch hier hatte das Leben schon seine ersten Furchen gezogen.

Lassalle blieb sekundenlang stehen und blickte zurück auf den dunklen flüsternden Weg. »Dort ist das Berliner Nachtleben,« dachte er lächelnd und eilte hurtig über den einsamen Fahrweg, auf dem bei Tage alle zwanzig Minuten der Omnibus vom Alexanderplatz in seiner unbenutzten Würde dahintrottete. Durch die kleine Tür des niedrigen Plankenzaunes trat er in den Garten. Hier war Menschengetriebe. Denn an solch weichen Sommerabenden versammelte sich dort alles, was zwischen der Potsdamer Brücke, dem Brandenburger und Anhaltischen Tore wohnte. Nirgends schien ein Platz frei. Doch Lieschen, die jüngste der vier frischen Töchter der Witwe Heisler, hatte sofort den schönen Gast erspäht. Rasch eilte sie ihm entgegen, durch das lange grünende Gewölbe, das die zusammengebogenen kurzgeschorenen Kronen der Linden bauten.

»Guten Abend, Herr Doktor,« grüßte sie, zutraulich und verehrend zugleich, »ich habe Ihnen einen schönen Platz auf dem Belvedere reserviert, ganz hinten, wo es einsam ist. Und die neuesten Zeitungen habe ich auch für Sie versteckt.«

Lassalle lachte. »Sie sind die Krone aller deutschen Wirtstöchterlein, Fräulein Lieschen. Wenn ich ein Dichter wäre, würde ich Sie in hundert fröhlichen Burschenliedern anmutig verewigen.«

Er folgte ihr die engen Wege durch dichtes Fliedergebüsch, schritt vorbei an den weißen dichtbesetzten Holztischchen, an dem Bierausschank in tiefem Schatten einer Laube ging es hin; dann erklomm er auf der alten wackeligen Holzstiege die Plattform, die sich an den Zaun der Grabenstraße schmiegte. Das war das »Belvedere«. Und vor ihm her raschelte das prächtige braunlockige Lieschen in ihrem frischgestärkten knatternden blumigen Kattunkleide und plauderte lebhaft und meinte, der Herr Doktor sei doch ein Dichter, denn sie habe ja das schöne Stück gelesen, das eben bei Herrn Duncker erschienen sei. Frau Lina habe es ihr geliehen. Also stände ihrer Verewigung im Liede eigentlich nichts entgegen. Und sie kicherte, daß die weiße Gesundheit ihrer Zähne aufglänzte im Lichte der Öllampen auf ihren grünen Pfählen: »Ich habe Sie expreß durch die Gebüsche geführt, damit Dunckers und die andern Sie nicht sehen. Die sitzen drüben am Hause. Ich weiß doch, der Herr Doktor will erst die Zeitung lesen.«

»Sie sind nicht nur die Krone aller Wirtstöchterlein, Fräulein Lieschen,« erwog Lassalle, »Sie sind ein Engel, der den Verschmachtenden zur Quelle im Blätterparadiese führt. Ah, wohl dort hinten? Sehr schön. Vielen Dank.« Und er setzte sich und griff gierig nach den Journalen.

Schwarzglänzend wie Lack floß lautlos das Wasser des Kanals jenseits der Grabenstraße, Gespräch und Gelächter schwirrte aus den dichten Laubgängen, und von der anspruchslosen kleinen Kegelbahn an der anderen Seite des Gartens rollte das ratternde erwartungsvolle Kollern der Kugel, klang ihre Vernichtung des Kegelstaates hell schmetternd herüber.

Lassalle entfaltete mit behenden Fingern die Dunckersche Volkszeitung und suchte mit stürmenden Augen die Ecke, in der die letzteingetroffenen Depeschen im Moment des Redaktionsschlusses eingeschoben wurden. Ob da nicht die Kunde eines neuen Waffenerfolges der italienisch-französischen Alliance –? Was –?! Wie?!!! Er riß das Blatt dem flackernden Lichte des Öllämpchens entgegen. W–a–as??!!

Da brachte Lieschen den Bierkrug. Lassalles Arme sanken herab, das Blatt zerknitterte auf seinen Knien. Mit aufgerissenen Augen starrte er das Mädchen an.

»Mein Gott, Herr Doktor!« verschüttete sie in gelindem Schrecken den Schaum des Bieres, »was ist Ihnen?!«

»Unmöglich – das ist ja nicht menschenmöglich?!« gurgelte er hervor – und preßte die Nationalzeitung gegen die Augen. Doch sofort flatterte sie hilflos zur Erde aus seinen haltversagenden Fingern.

»Was ist denn?« bangte Lieschen wieder.

»Frieden!« schrie Lassalle ihr zu, daß alle Blicke zu ihm hinüberschreckten. »Frieden!«

»Ach so,« beruhigte Lieschen sich sichtlich. »Politik! Ja, sowas kommt vor. Sie können sich ja auch nicht immer raufen. Heldentum ist ja ganz was Schönes. Besser ist doch aber, wenn die jungen Menschen nicht sterben müssen. Deswegen brauchen Sie sich doch aber nicht so aufzuregen, Herr Doktor.«

Der Doktor aber regte sich auf, regte sich ganz erschrecklich auf. Er sprang empor, stob an dem verdutzten Lieschen Heisler vorbei und verschwand wie ein rasend gewordener Schatten im dichten Gebüsch. Kopfschüttelnd nahm Lieschen den Bierkrug wieder vom Tische und brachte den Trank einem weniger eruptiven Gaste.

Lassalle stürmte geradeaus, die Grabenstraße hinab. Er mußte laufen, wüten, toben. Er gestikulierte wild mit den Armen in die einsame Gasse hinaus. Das war Verrat – Verrat! Mitten im Siege, im unerhörtesten Erfolge hatte Frankreich mit Österreich Frieden geschlossen! Das war blutiger Verrat an der italienischen Sache, Verrat an der Sache der Freiheit.

Er rannte, rannte, vorbei an der Matthäikirchstraße, vorbei an der Bendlerstraße, vorbei an dem Garten des Hofjägeretablissements, aus dem die Musik eines Monstrekonzerts herüberschmetterte. Ach, er wußte es, wußte es in erbarmungsloser Hellseherei: diese blutige Schmach von Villafranca zertrümmerte mit einem mörderischen Schlage alle deutschen und preußischen Hoffnungen. Was half es, wenn Österreich zwei italienische Provinzen verlor? Was half das der Freiheit und der deutschen Einheit! Ungeschwächt stand in Wien die österreichische Macht der eisernen Reaktion! Alle hochstürmenden Hoffnungen waren tot! Alle kühnen Erwartungen lagen auf der Bahre. Es war aus – aus. –

Er lief, bis hinter dem ländlichen Wirtshaus des Moritzhofes der »Graben« ihm den Weg versperrte. Er stand und blickte ohne klares Bewußtsein auf das heitere Abendtreiben hinab. Eine Flotte von Gondeln und Ruderbooten trieb dort auf der trüben Flut, befrachtet mit weißen Sommerkleidern und ausgelassenem schönen Lachen.

Nein, nein, jetzt war alles aus. Trügerisch war alles Hoffen gewesen. Umsonst hatte im verflossenen Jahre der Komet seinen glühenden Schweif über den Himmel gepeitscht. Er starrte auf die sanft schaukelnden, lustig getriebenen Nachen und dachte daran, wie oft er im vorigen Sommer zu dem nächtlichen Himmel hinaufgeblickt und das flammende Wahrzeichen als gute Vorbedeutung für all das Kampfesfrohe in seiner Brust genommen hatte. Und als das Jahr waffenrauschend anbrach, hatte er erkenntnislächelnd des Kometen von 1858 gedacht! Ach, der Komet hatte gelogen, das Waffengerassel hatte gelogen, der Kanonendonner von Magenta hatte gelogen!

Das Kinn sank dem Manne zur Brust nieder. Jäh hatte ihn die Anklage ins Hirn gebrannt, daß er um dieser lächerlichen Phantastereien jenes andere Ureigene zurückgesetzt hatte: den Kampf um das Recht der Enterbten. Eine heftige Sehnsucht nach seinen ökonomischen Büchern faßte ihn, ein Heimverlangen in sein Bestes, Stillstes. Sacht löste er sich von dem Eisengitter, das den »Graben« einhegte, eilte mit schnellen Schritten an dem Wasser entlang bis dorthin, wo er in die Seeparks des Tiergartens mündete.Er floß durch die heutige Kaiserin Augusta-, Rauch-, Hitzig-, Stülerstraße. Dann hastete er durch die Tiergartenstraße seiner Wohnung zu.

Bis zum frühen Morgen saß er über der »Kritik der politischen Ökonomie« von Marx. –

Und nun arbeitete er ohne Aufschauen Monat um Monat.

Die Feier des hundertsten Geburtstages Schillers rauschte an dem Arbeitenden vorüber. Trotz seiner glühenden Verehrung für den Dichter, dessen philosophische Verstandespoesie sein dialektischer Sinn weit über Goethes Lyrik stellte, wohnte er der Grundsteinlegung des Denkmals vor Schinkels Schauspielhause auf dem Gendarmenmarkt durch den Prinzregenten nicht bei. Doch einer seiner Feinde sandte ihm an diesem 10. November 1859 eine Zeitung ins Haus, mit einer höhnischen Anspielung auf seinen Franz von Sickingen.

An der Spitze des Blattes stand folgendes Patent:

»Im Namen Seiner Majestät des Königs!

Wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden Prinz von Preußen, Regent, thun kund und fügen hiermit zu wissen:

Die hundertjährige Geburtstagsfeier Friedrichs von Schiller hat in Uns den Wunsch hervorgerufen, das Andenken des großen Dichters durch eine zur Förderung des geistigen Lebens in Deutschland geeignete Stiftung zu ehren. Deshalb haben Wir beschlossen:

Für das beste in dem Zeitraum von je drei Jahren hervorgetretene Werk der deutschen dramatischen Dichtkunst einen Preis ..... zu bestimmen.«

Lassalle warf Schreiben und Zeitung in den Papierkorb.

Ein gewaltiger wissenschaftlicher Plan war gerade in diesen Tagen seinen Studien entkeimt. –

Lassalle bekannte sich, daß er Schritt vor Schritt auf den Spuren des Freundes Karl Marx wandle. Denn das war ihm längst klar geworden: den Enterbten helfen, hieß Kampf gegen die Besitzenden. Jenen geben, bedeutete diesen nehmen. Immer tiefer geriet er hinein in sozialistische Spekulationen. Der Kommunismus, die Aufhebung des Sondereigentums, die Aufteilung des Kapitals, das mußte das letzte Ziel sein.

Er wußte, daß er hier dicht hinter Karl Marx und seinem kommunistischen Manifest von 1848 marschierte.

Doch da bäumte sich Lassalles nüchtern praktischer Wirklichkeitssinn auf. Auflösung des Kapitals, ja, gewiß: das Ziel. Ein zartes violettes Gebirge am fernen, fernen Gestade der Seligen. Wohl mußte der Kiel auf dieses traumweite Eiland gerichtet werden. Doch das erkannte sein hellsichtiger Verstand: er würde in jenen Glückshafen als Lotse nicht mehr einfahren. Nein, er nicht und seine Kindeskinder nicht. Jahrhunderte würde die Fahrt währen.

An dieser Gedankenecke sprang er stets vom Schreibpult empor und rannte einher in dem Arbeitszimmer. Er wollte den Anker niederrasseln hören im glücklichen Hafen, er wollte wirken, sein Ehrgeiz wollte noch vollenden. Bald, bald wollte er helfen und retten. Nicht noch bleiche Generationen zähneknirschender Lohnsklaven ihr menschenunwürdiges Dasein hinkeuchen lassen. Nähere Ziele finden, einen anderen Port ausspähen, fort, fort aus dem Kurse des Kommunistenmeisters Marx, der nach jahrhundertfernen Häfen strebte. Heute wirken, morgen spätestens! Seine Ungeduld summte. Doch noch lastete niederbeugend auf der Selbständigkeit seines Denkens Karl Marxens gewichtige wissenschaftliche Wucht.

Da eines Tages, als er wieder seinen Weg suchte, baute sich ihm ein Hemmnis sperrend in den Weg. Er lehnte sich tief im Stuhle zurück. Ja – wie denn? Hm! Wo nun immer auch der Weg ging, ob zum extremsten Kommunismus oder zu einem anderen Ziele: ohne Umwälzungen, ohne tiefgreifende ökonomische Revolutionen keine Rettungstat! Wenn er geben wollte, mußte er nehmen. Von denen nehmen, die es hatten. Das Endziel war also in jedem Falle ein neuer Besitzstand, ein neuer Rechtszustand. Lassalle trat zu den Bildern der Revolutionsmänner an der Wand. Ein neuer Zustand des Rechts? Ja, was war Recht? Er sah in Robespierres verkniffene spießige Advokatenzüge. Recht bedeutete Macht. Ein absolutes Recht gibt es im Volksleben nicht. Nur ein relatives, das am Bügel der herrschenden Machtverhältnisse hängt. Hm. Es galt demnach den Besitzlosen, die heute entrechtet waren, die Macht in die Hand zu spielen und auf der Plattform dieser neuen Macht ein neues Recht der Enterbten aufzupflanzen. Gut, das hatte er hundertmal durchdacht. Doch nun regte sich der tiefgründige Wissenschaftler in ihm. Er, den Boeckh und Humboldt und hundert andere einen der Ihren nannten, er konnte nicht wie irgendein Wildling hineinpatzen in das Bestehende. Seine Stellung in der wissenschaftlichen Welt forderte ihre Verpflichtung. Er mußte das, was er für seine Arbeiter tat, vor dem Richtstuhle der Wissenschaft verantworten können. Er kniff scharfdenkend die Augen zusammen. Wie ließ es sich wissenschaftlich begründen, daß dieses neue Recht nun in der Welt galt? Daß es das alte Recht der Besitzenden entrechtete? Die Macht schuf das neue Recht. Gewiß. Aber dieses neue Recht galt doch erst von heute an, da es entstanden war. Es galt doch erst für die Zukunft. Entraffte es dem Nachbar aber auch das, was er gestern noch kraft seines alten Rechts besessen hatte?

Das war die große Frage, die sich vor seinem wissenschaftlichen Gewissen auftürmte. Wirkt das neue, von der Revolution geschaffene Recht zurück auf das alte Recht, das vor der neuen Machtkatastrophe gegolten hat? Oder galt es nur für die neuen Tage? Durfte das neue Recht nur Erwerb von Sondereigentum für die Zukunft verpönen, mußte es aber haltmachen vor dem bereits erworbenen Eigentum und mußte der kraft alten erworbenen Rechts Besitzende, wenn er enteignet wurde, entschädigt werden? Mußte das neue Recht vor den »erworbenen Rechten« ohnmächtig die Hände sinken lassen?

Das waren die Fragen, die jählings aufragten. Wie ein Gebirge verbauten sie ihm den Weg. Und mit der alten wissenschaftlichen Heftigkeit ging er daran, sich durch diesen sperrenden Wall seinen Tunnel zu graben.

Er mußte eine befriedigende Lösung finden, ehe er wieder freien Weg zu einem Ziele sah.

Am Mittage, als die Gräfin kam, hatte er die verworrenen Gelände schon soweit durchforscht, daß er erkannte, es würde ein Eintauchen in alle Rechtsmaterien nötig sein. Sein alter juridischer Eifer flammte hell auf.

»Es bleibt nichts übrig,« sagte er bei Tisch, »ich muß die gesamte Theorie der erworbenen Rechte schreiben und hierzu das gesamte Rechtssystem durchgehen und die einzelnen Rechtsinstitute in ihren philosophischen Begriff auflösen. Es wird eine Gigantenarbeit. Doch ich muß mich hineinstürzen, ich muß, wenn auch meine praktische Messiastat hierdurch verzögert wird.«

»Es ist doch eine Arbeit für jenes Ziel,« tröstete die Gräfin.

Er nickte grübelnd. »Ja, es ist meine wissenschaftliche Rückendeckung. Ich fürchte nur, es kann Jahre dauern, ehe ich dieses Meer von Schwierigkeiten durchschwimme.«

Doch Sophie Hatzfeld lächelte ihr ermutigendes mütterliches Lächeln. »Du durchschwimmst es in kurzer Zeit, mein delischer Schwimmer.«

»Delischer Schwimmer?« fragte er.

»Ja,« erläuterte sie, »neulich erzählte mir Boeckh, während er auf dich wartete, Sokrates habe einmal zu seinen Schülern über Heraklit geäußert: ›Es ist vortrefflich, was ich aus dem Werke des Herakleitos verstanden habe; deshalb glaube ich auch, daß auch gleich vortrefflich sein wird, was ich nicht verstanden habe. Aber um sich durch das Werk des Ephesiers hindurchzuarbeiten, müßte man ein delischer Schwimmer sein.‹ Nun, du bist der delische Schwimmer gewesen, der es gewagt und das andere Ufer erschwommen hat.«

Da reichte ihr Lassalle stolz die Hand über den Tisch hinweg. »Ich werde auch dieses Meer juristischen Wagens durchschwimmen.«

Und er stürzte sich kopfüber in den wirbelnden Strudel. Er schuf sein großes Werk: »Das System der erworbenen Rechte. Eine Versöhnung des positiven Rechts und der Rechtsphilosophie.« Er schuf es unter dem Banne seines Zieles. Von den Dekreten der Nacht vom 4. August 1789 nahm er seinen Ausgang, durch die einst die Konstituierende Versammlung die Vorrechte des Adels abgeschafft hatte. So zimmerte er, wie er kraftbewußt sagte, die feste Burg eines wissenschaftlichen Rechtssystems für Revolution und Sozialismus. Und er beantwortete die einstürmenden Fragen im Sinne seines Lebenszieles.

Wieder kam Neujahr. Lassalle saß an seinem juristischen Werke. Und wieder trieb der Lenz die Knospen, und die würzige Kraft der frühlingstaumeligen Erde duftete süß erregend in sein Arbeitszimmer herein. Er grub seinen Tunnel. Doch da hob er aufhorchend den Kopf. Lauschte er auf das quellende Rieseln in seinem Garten? Nein. Fern jenseits der Alpen brauste der Frühlingssturm. Italien erwachte wieder. Ein Frühlingswunder blaute der Welt. Garibaldi war mit seinen »Tausend« in Marsala gelandet und hatte die Truppen König »Bombas« von Neapel und Sizilien in der blutigen Schlacht von Calatafimi aufs Haupt geschlagen.

Lassalle sah hinauf in den blauen Maihimmel, in dessen zartem Hauch einige kleine blasse Wölkchen segelten, sah lange schmerzlich hinauf – und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er hoffte nicht mehr auf eine deutsche Wendung durch italienische Kämpfe. Nein, nein. Hier, an seinem Schreibtisch schmiedete er die Waffen für seinen Kampf.

Im August brach seine Gesundheit zusammen. Das Hirn war erschöpft, ein schmerzlicher Rheumatismus riß in den Gliedern. Professor Frerichs gebot eine Badekur in Aachen. Die Gräfin wollte ihn begleiten. Er sehnte sich nach Alleinsein. Sie fügte sich entsagend. Fürsorglich packte sie seine Koffer, er reiste ab. In der Lade des Schreibtisches ruhte vollendet das große Werk.


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