Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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X.

»Hm,« brummte Karl Marx in den gewaltigen wallenden schwarzen Bart, »soweit wäre ja alles ganz schön und gut. Die Idee gefällt mir. Fehlen nur noch zwei unerläßliche Voraussetzungen: das Kapital und meine Amnestie.«

»Das Kapital, lieber Mohr,« nannte Lassalle den großen Führer mit dem Schmeichelnamen seiner Vertrauten, »das werde ich aufbringen. Ich nehme einen großen Teil der Aktien, ebenso die Gräfin, auch mein Vater, den Rest wird Brockhaus schon nehmen. Ich bin jetzt recht liiert mit ihm. Mein System der erworbenen Rechte kommt dieser Tage bei ihm heraus.«

»Nanu, nicht bei Duncker?« Marx hob das Haupt mit der schwarzen Löwenmähne.

»Nein. Er hat es abgelehnt. War ihm zu revolutionär.«

»So, so,« machte Marx. »Offen gesagt, hat mir seine ganze Art nicht gefallen. Ich bin überzeugt, er hat die Herausgabe meiner ›Kritik der öffentlichen Ökonomie‹ absichtlich verschleppt.«

»Nein,« wehrte Lassalle. »Das hat er nicht. Dazu ist er zu vornehm. Langsam und phlegmatisch ist er. Und gerät immer mehr ins seichte Fahrwasser dieser schönen neuen Fortschrittspartei. Reden wir nicht darüber! Zwischen ihm und seinesgleichen wird es ja doch zum öffentlichen Bruche kommen, wenn wir unsere Zeitung gründen. Um die Männer tut es mir nicht sonderlich leid, nur schade, daß ich dann auch die Frauen verliere. Lina Duncker und Hedwig Dohm waren ein recht angenehmer Umgang.«

»Na,« scherzte Marx, »vielleicht kann meine holde Weiblichkeit dir die Damen ersetzen. Meine Frau ist tapfer, lieb und schön wie in ihren jüngsten Tagen, trotz allen Leides, das sie in England erfahren hat. Dem Hunger hat sie immer ins hohle Gesicht gelacht. Aber daß ihr die beiden Jungen gestorben sind –!« Er wischte sich hastig über die Augen. »Nun, die Mädel sind ja noch da. Auch bald Damen. Die Zeit vergeht, alter Knabe. Wir sind nicht mehr anno 48. Die schwarze Jenny und die blonde Laura werden allmählich Dämchen, und meine kleine Tussy eilt ihnen nach. Auch Lenchen, das gute Lenchen, ist noch bei uns und führt stramm das Szepter im Haus, die treue Seele.«

»Ich freue mich darauf, euch alle hier zu haben,« sagte Lassalle innig.

»Ja, Lieber, aber mit der Amnestie scheint es doch zu hapern,« zweifelte Marx.

»Laß mich nur machen!« sprach Lassalle groß. Doch es ließ sich nichts machen. –

Der kranke König war gestorben. Mit der Thronbesteigung König Wilhelms erfolgte am 12. Januar 1861 die Amnestie der politischen »Verbrecher« von 1848. Sofort entkeimte Lassalles grübelndem Hirn ein Plan. Er hatte gesonnen und gesonnen und mit Loewe und Klingbeil in langen erregten Stunden nach einer Gelegenheit getastet, mit der Arbeiterpropaganda einzusetzen. Er empfand deutlich, das Schicksal, die Zeitgeschichte mußte einen Angriffsring zum Einhaken bieten. Plötzlich, ohne äußeren Anlaß, mit seiner Idee der Staatsassoziationen hervorzutreten, war ein Schlag ins fließende Wasser. Da befruchtete der Erlaß der Amnestie sein Zaudern. Das war es! Mit den Freunden von 1848, die damals als Redakteure die Neue Rheinische Zeitung zur wirbelnden Trommel der Revolution gemacht hatten, eine große demokratische Zeitung gründen. In ihr die kommunistische Lehre von Marx und ihre Anwendung auf seine Arbeiterbewegung propagieren; durch sie den Boden vorbereiten, die Massen bearbeiten, das Feld zur Tat düngen. Wohl zögerte er noch. Er wußte, wie weit er sich innerlich von der Lehre des Freundes entfernt hatte. Doch er wußte auch, daß er jetzt dem Meister von ehedem nicht mehr als folgsamer Lehrling gegenüberstand. Gleichberechtigung, völlige Gleichberechtigung, mußte herrschen unter den Gebietern der Zeitung. Dann konnte er für seine Idee kämpfen. Die Lehre des Freundes konnte ihr als wissenschaftliche Basis nur dienlich sein.

Und er schrieb an Marx, ob er geneigt sei, mit Friedrich Engels und ihm ein großes, echt demokratisches Blatt in Berlin zu gründen, jetzt, da die Amnestie seine und Engels' Rückkehr gestatte. Mit Freuden ergriff Marx die rettende Hand, die ihn herausreißen wollte aus dem Elend und der bitteren Not des Exils. Er kam sofort und ward Lassalles Gast in der Bellevuestraße.

Sie sprachen von den vergangenen Zeiten gemeinsamer Kämpfe und von den kommenden Tagen gemeinsamen Wagens, und eine innige frische Herzlichkeit blühte zwischen den beiden Männern empor, trotz des etwas lehrhaften Tones, den der ältere dem einstigen Jünger gegenüber anzuschlagen liebte.

Da bereitete die Regierung unerwartete Schwierigkeiten. Sie machte gegen Marx geltend, daß er durch seinen mehr als zehnjährigen Aufenthalt im Auslande das Bürgerrecht in Preußen verloren habe, daß er daher nicht als Amnestierter, sondern als Ausländer anzusehen sei, der auf Naturalisation antrage. Seine Naturalisation aber lehnte der Polizeipräsident von Zedlitz-Neukirch wegen seiner politischen »Bescholtenheit« ab. Da rannte Lassalle mit gewohntem Eifer vom Minister des Inneren zum Präsidenten, vom Präsidenten zum Minister, agitierte in den Blättern, die sich ihm nicht, wie die Dunckersche Volkszeitung, verschlossen, und setzte in alter Leidenschaftlichkeit Himmel und Hölle für den Freund in Bewegung. Und hoffte in eingewurzeltem Selbstvertrauen auf den sicheren Erfolg. –

Schon war Marx fast eine Woche bei ihm zu Gaste, und immer noch hatte Lassalle kein Wort von seinen wahren Plänen gesprochen. Immer wieder zögerte er, in dem instinktiven Bangen, daß Marx sich seiner praktischen Beglückungstat feindlich entgegenstellen würde. Doch eines Nachmittags, ganz unvermutet, erzählte er von seinen Plänen. Als sie bei der Zigarre im Arbeitszimmer saßen und eine Zeitlang geschwiegen hatten, sagte Lassalle plötzlich:

»Mohr. Ich beabsichtige, nächstens einen großen Coup zu machen.«

»So,« schmauchte Marx. »An der Börse?«

»Nein. In der Arbeiterbewegung.«

»Ach,« richtete Marx sich lässig in seinem Sessel auf, »was du nicht sagst! Was wirst du denn Großes verrichten?«

»Ich werde das Ricardosche Lohngesetz aufheben.«

»Sieh mal einer an,« sagte der Freund und schnellte die Asche von der Zigarre. »Mit Kleinigkeiten hast du dich ja nie abgegeben.«

»Du brauchst nicht so ex cathedra zu spötteln, mein lieber Mohr,« zürnte Lassalle. »Ich rede ernst. Überhaupt brauchst du nicht so groß zu tun, mein lieber Mohr. In unserer Differenz über die Politik 1859, als du und Engels durchaus gegen Napoleon losziehen wolltet, habe doch schließlich ich recht behalten.«

»Bis jetzt, ja. Aber wir werden ja weiter sehen. Noch ist die Frage nicht erledigt. Doch, bitte, lege mir deinen Coup dar. Du scheinst wirklich ernst zu sprechen.«

»Allerdings, mein lieber Mohr, sehr ernst. Ich spreche von den ernstesten Dingen meines Lebens.«

»Bitte,« forderte Marx auf und setzte sich mit übergeschlagenen Armen erwartungsvoll im Stuhle zurück.

»Ich habe die Absicht, Assoziationen der Arbeiter zu propagieren.«

»A la Schulze-Delitzsch?«

»Nein. Assoziationen im fabrikmäßigen Großbetriebe.«

»Und das dazu erforderliche Kapital?«

»Soll der Staat geben.«

Marx warf ärgerlich den Zigarrenstummel in die Schale, daß die Asche grau aufstäubte.

»Laß die Narreteien, wenn du vorgibst, ernst zu reden,« schalt er.

»Es ist mein heiliger Ernst.«

»Was?!« Marx richtete sich rasch im Sessel empor.

»Ich kann deine Taktik nicht mehr befolgen, lieber Mohr. So schmerzlich es mir ankommt, dir die Gefolgschaft zu kündigen. Ich weiß sehr wohl und bin dir ewig dafür dankbar: mein wissenschaftliches Rüstzeug bist du. Praktisch aber muß ich jetzt meine eigenen Wege wandeln.«

»Habe ich recht verstanden,« fragte Marx langsam, »du willst das Ricardosche Lohngesetz dadurch beseitigen, daß du mit Staatshilfe die Arbeiter zu ihren eigenen Unternehmern machst?«

»Ja,« sagte Lassalle fest.

Da wanderte der Mann mit großen Schritten schnaubend durchs Zimmer. Seine Augen waren hinter den borstigen Brauen verschwunden. Sein Gesicht war nichts als ein schwarzer Haarwulst. Endlich blieb er vor Lassalle stehen und sagte hart: »Von der Unausführbarkeit dieser unsinnigen Idee will ich nicht reden. Dazu ist mir meine Zeit zu kostbar. Staatshilfe ist eine Utopie. Aber der Gedanke scheint mir eines Wortes wert. Du hast eben angedeutet, du seiest mein Schüler. Ich verbitte mir das. Ich habe mit diesem Unfug nichts gemein.«

Lassalle wollte unterbrechen, doch Marx hob gebieterisch die Hand und sprach fort: »Deine ›Idee‹ hat mit meiner Lehre nichts zu schaffen. Ich schüttele dich ab. Du bist kein Kommunist.«

»Ich bin Kommunist,« begehrte Lassalle auf. »Nur dein internationaler Standpunkt ist nicht der meine. Ich bin Deutscher mit jeder Faser meines Empfindens. Mein Ziel ist die Befreiung der deutschen Arbeiter.«

»Darin liegt eben der Widersinn. Gibt es ein deutsches Proletariat, oder ist das Proletariat allen Ländern gemein?«

»Ich arbeite nur für das deutsche.«

»Dann ist das Tuch zwischen uns zerschnitten,« schrie ihm der Mann feindselig entgegen. »Damit setzest du dich in direkten Gegensatz zu meinen Bestrebungen. Mensch, siehst du nicht ein, wie du unserer Sache schadest!« Er kam dicht an ihn heran. »Nicht als ob ich deinen Sieg fürchte. Ach, wenn du siegtest, würde ich gern meine Fahne einziehen. Dein Sieg aber ist unmöglich. Du jagst einem Phantom nach. Was ich fürchte, ist, daß du bei der überzeugenden Kraft deiner Dialektik bodenlose Verwirrung und unabsehbares Unheil stiften wirst. Glaub' mir, Lassalle, der Sozialismus und die Arbeiterbewegung kann nur dadurch siegen, daß durch Jahrzehnte, ja, durch Generationen hindurch durch eiserne Organisation das Proletariat aller Länder zu einem ungeheuren Ganzen zusammengeschweißt wird.«

»Das ist deine Ansicht,« entgegnete Lassalle. »Mein Glaube aber ist, daß dem deutschen Arbeiter durch Assoziationen mit Staatshilfe geholfen werden kann. Die andern interessieren mich augenblicklich nicht.«

»Damit verläßt du die Fahne des Kommunismus,« schleuderte Marx ihm entgegen.

»Nein. Mein Ziel ist genau wie das eure: Sturz der Bourgeoisie, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, Abschaffung des Kapitals.«

»So? Und glaubst du, der Staat wird deinen famosen Assoziationen die Mittel umsonst geben?«

»Nein. Gegen Zinsen.«

»Du willst also Kapitaleigentum dadurch abschaffen, daß du Kapitalien gegen Zinsen entleihst. Ausgezeichnet!«

»Meine Assoziationen sollen die Lage der Arbeiter nur verbessern. Eine Lösung der sozialen Frage sollen sie nicht sein. Ich will den Arbeitern nur etwas Bestimmtes, Greifbares geben, um sie für meine Idee zu interessieren. Es handelt sich zunächst lediglich um eine praktische Übergangsmaßregel, nicht um eine prinzipielle Lösung. Daß diese Lösung durch die Assoziationen erstaunlich erleichtert und herbeigeführt wird, erscheint mir unbestreitbar.«

»So?«

»Ja. Denn mit den Zinsen, die für das Staatskapital gezahlt werden, erhält der Staat die Mittel, die Ausgaben für Schulunterricht, für die Wissenschaft und Kunst, für öffentliche Arbeiten jeder Art zu bestreiten, und so hätte denn niemand oder hätten vielmehr alle gleichmäßig die Zinsen.

Die Assoziationen haben also durchaus bahnbrechenden wegbahnenden Charakter, der zur definitiven Lösung der sozialen Frage allmählich – vielleicht in 100, 300 oder erst 500 Jahren führen muß. Im übrigen gestehe ich gern zu, daß diese Assoziationsidee eine Verlegenheitsidee ist. Wenn du etwas Besseres weißt für den Augenblick, bin ich gern bereit, es anzunehmen.«

Marx räusperte sich und fragte: »Bist du fertig?«

»Vorläufig ja.«

»Schön. Dann habe ich ja wohl das Wort. Aus dem vielen, was du da geschwätzt hast, habe ich nur eins herausgehört: du willst wirken ›für den Augenblick‹, wie du so schön sagst. Dich willst du hervorkehren. Laß mich jetzt reden! Und greifst einfach zu der ersten besten Nachtwächteridee, die dir kommt. Ein besseres Mittel willst du wissen? Lies das kommunistische Manifest, mein Sohn. Da steht's. Glaubst du, wir wollen nicht wirken! Glaubst du, wir wollen unsere Lehre in dicken Büchern ausschließlich der gelehrten Welt zuflüstern! Arbeiten wir nicht propagandistisch! Freilich, wir wollen nicht unsere Person in rosige bengalische Beleuchtung stellen. Wir wollen nicht morgen fertig sein. Wir wissen, daß große historische Bewegungen ihre Äonen brauchen wie geologische Epochen. Laß mich ausreden! Du verwischst die Ziele. Hauptsache bei jeder großen Bewegung sind die Ziele. Ohne Ziele keine Organisation. Nur das gemeinsame Ziel kann die verschiedenen Individuen zu einer großen Organisation vereinen. Das Ziel ist die ökonomische Befreiung der Proletarier. Der Weg dahin ist der ökonomische und politische Klassenkampf. Er kann zu dem Ziele nur führen durch die Zusammenfassung der Gesamtmasse der Proletarier aller Länder in gewaltigen selbständigen, von allen bürgerlichen Einflüssen freien Organisationen. Diese Organisationen sind die Gewerkschaften.«

»Von Gewerkschaften halte ich nichts,« wehrte sich Lassalle. »Schon deshalb nicht, weil sie das Lohnsystem nicht antasten. Aber gerade das System des Lohnes muß durch das System des Arbeitsertrages ersetzt werden. Und dann haben wir ja 1852 in England beim Streik der Maschinenbauer gesehen, wie ohnmächtig die Gewerkschaft ist. Nach unsäglichen Opfern ist der Streik unterlegen. Für mich sind die Gewerkschaften nur Versuche der Ware Arbeit, sich als Mensch zu gebärden.«

»Du übersiehst,« belehrte Marx gelassen, »daß gerade in jenem Kampfe der Maschinenbauer die Gewerkschaft, trotz der augenblicklichen Niederlage, ihre wunderbare Elastizität bewiesen hat. Aber ganz abgesehen davon – die Gewerkschaft ist der Erziehungsmittelpunkt der ganzen Bewegung. In ihr sollen die Proletarier mit dem Geist des Klassenkampfes erfüllt und zum Verständnis der Bedingungen herangebildet werden, unter denen die Befreiung des Proletariats möglich ist. Also Erziehungsanstalten sind sie in erster Linie, mein Gutester. Aber weiter! Ist dir nicht klar, daß nur in der Masse das Element des Erfolges der Proletarier liegt? Daß diese Masse nur dann schwer ins Gewicht fällt, wenn es die durch eine internationale Organisation vereinigte Masse der Proletarier aller Länder ist?«

»Das ist eben der Punkt, an dem unsere Ansichten klaffend auseinanderstreben,« rief Lassalle. »Du bist internationaler Kommunist, ich nationaler Sozialdemokrat. Deine internationale Propaganda birgt nach meiner Ansicht eine totale Verkennung dessen, wie fest begründet in Europa noch die Nationen sind. Noch lange werden nationale Ideen eine sehr bedeutende Macht ausüben, noch Jahrhunderte werden sie Faktoren sein, mit denen zu rechnen ist. Deshalb sehe ich einen Erfolg nur in der nationalen Arbeit. Und wenn du mir vorwirfst, daß ich wirken will heute, morgen schon. Ja doch, das gebe ich zu. Für mich heißt Politik treiben: aktuelle momentane Wirksamkeit. Alles andere kann man auch von der Wissenschaft aus besorgen. Nun, in erster Reihe treiben wir Sozialisten doch wohl Politik.«

»Ich verzichte auf jede weitere Erörterung,« schloß Marx da scharf ab, »es ist aussichtslos. Aber das rate ich dir: nenne dich in meiner Gegenwart nie wieder einen Kommunisten. Wir haben nichts mehr miteinander gemein.«

Mit diesem Gespräch war der Bruch zwischen den Begründern der Sozialdemokratie unhaltbar vollzogen. Von der Zeitung war nicht mehr die Rede. Der Plan scheiterte äußerlich an der Starrheit der Regierung. So kehrte Marx nach London zurück und buchte die Versagung der Heimkehr ins Vaterland in das große Enttäuschungskonto seines tapferen, entbehrungsreichen Lebens. –

Auch Lassalle blieb um eine Hoffnung ärmer zurück. Wieder war der Weg, der zur Tat führen sollte, im Gehölz verirrt. Denn allein wagte er die Gründung der Zeitung nicht. Die praktische Erfahrung der Marx und Engels hatten dem technischen Teile des Unternehmens die Hauptpfeiler bieten sollen.

Und wieder hoben die langen Beratungen mit dem jungen Loewe und dem alten Klingbeil an, und Lassalle blickte sinnend in Hedwigs braune kluge Augen und beratschlagte mit der Gräfin und fand keinen Pfad zur Verwirklichung seiner reifen Pläne. Da, eines Nachts, als er ruhelos, von Tatendurst überschäumend, im Arbeitszimmer auf- und niederging, zuckte wie eine Rakete eine Idee in seinem Hirne auf, eine echte rechte Tollhausidee der bleichen Verzweiflung.

Garibaldi!

Der alte Bandenführer saß jetzt, seiner großen Siege froh, auf dem kleinen Gute, das er sich auf dem felsigen Inselchen Caprera erworben hatte. Der mußte helfen! Garibaldi mußte sein Mitstreiter werden. So irrsinnig die Idee war, so fest verbiß sich Lassalles Wahllosigkeit darein. Ja, hin zu ihm nach Caprera! Ihn mit der ganzen Glut seiner Überredungskunst aufhetzen, in Österreich einzufallen. In Dalmatien. Ja. Die slawische Bevölkerung der habsburgischen Dynastie durch die Tat auf die Beine bringen gegen Österreich. Es so im voraus lendenlahm machen. Bisher hatte seine Widerstandskraft vor allem auf den Slawen beruht, die es der ungarischen, deutschen, italienischen Revolution entgegenwarf. Auf sie konnte es aber nicht mehr rechnen, sobald das slawische Element selber in Aufruhr tobte. Ja, das war ein Weg!

Der Erhebung in Dalmatien würde sofort die Revolution in Ungarn folgen. Revolution in Pest war Revolution in Wien, Revolution in Wien aber war Revolution in Berlin! Revolution in Berlin war Sieg seiner Pläne. Mitten in das entstehende Chaos würde er dann hineinspringen, das allgemeine direkte Wahlrecht proklamieren, und mit seiner Einführung waren die Assoziationen mit Staatshilfe begründet. Das war der Weg – das allein war der klare richtige, endlich gefundene Weg!

Eine toll-freudige Triumphstimmung riß ihn fort. Zwei Tage später war er mit der Gräfin unterwegs. Zunächst wollte er sich bei den Revolutionsfreunden in der Schweiz Empfehlungen an Garibaldi verschaffen. Zu dem ehemaligen preußischen Offizier Wilhelm Rüstow, der als Oberst unter Garibaldis Siegesfahnen gekämpft hatte und jetzt in Zürich wohnte, mußte der Freund Georg Herwegh den Weg bahnen.

Sommerhelle glückliche Tage verlebten Lassalle und die Gräfin bei der »eisernen Lerche« und ihrem prächtigen Weibchen Emma Herwegh.

Aus Florenz, wohin sie in kraftvollem Entschlüsse gezogen war, wurde Ludmilla Assing herbeigerufen. Und jetzt in seiner siegesgeschwellten Stimmung erfuhr sie viel Gutes von ihrem bösen, lieben, offen-heimlich vergötterten Freunde. Er war in diesen Tagen der Erwartung in einer ausgelassenen Jubellaune.

Eines Abends saß man – Lassalle, die Gräfin, Ludmilla, Herwegh, Frau Emma, Rüstow und noch einige Bekannte – im Gasthaus beim Sekte.

Lassalle trieb seine Possen und wollte Ludmilla hypnotisieren. Er sprang vom Stuhle auf, trat vor sie hin, strich ihr mit gespreizten Fingern über die Schläfen, hüpfte zurück, fuhr auf sie mit gespenstisch vorgestreckten Händen zu, schnaufte stiermäßig durch die Nase und tat, als spritze aus den Fingerspitzen schmerzhaft das magnetische Fluidum.

Da brach, von dem närrischen Treiben angewidert, ein kleiner dicker Mann hinter seinem Weinglase hervor, packte mit starken Fäusten einen Stuhl, drang damit auf den verdutzten Magier ein und brüllte: »Jetzt ist mir's zu dick, ihr Lumpenpack, ihr Gauner!« In gewohnter Praxis der Abwehr jäher Überfälle schlug Lassalle den Stuhl beiseite, griff den kleinen, grausig zappelnden bärtigen Gesellen am Kragen, stieß ihn zur Tür und expedierte ihn auf die Straße. Dort nahm ihn ein Wachtmann in seine Hut und geleitete ihn heim aufs »Bergl«.

Dann erkundigte Lassalle sich beim Wirt nach dem bullenbeißerischen Gaste. »Das ist unser neu gewählter Staatsschreiber, Herr Gottfried Keller,« gab der Züricher Bescheid. »Er soll auch so was wie ein Dichter sein.«

Da wurde Lassalles sekt- und kampferhitztes Gesicht sehr lang. Er dachte an sein Lieblingsbuch, den »grünen Heinrich«. Flugs setzte er sich an den Tisch und schrieb dem Dichter: »Wundersam ist Bacchus' Gabe. Das weiß ich sehr gut. Niemand könne daher bereiter sein, über eine Weinlaune zur Tagesordnung überzugehen.« Der frischgebackene Staatsschreiber aber, der am nächsten Tage sein neues Amt antreten sollte, war von den weinseligen Begegnungen der Nacht so benommen, daß er gleich am ersten Tage einen hohen Rat des Kantons Zürich vergeblich auf den Protokollführer harren ließ. – –

In ungetrübter Laune ging es an den oberitalienischen Seen hin nach Florenz und Rom. Dort trennte Lassalle sich von den andern, bestieg einen Dampfer und fuhr nach Sardinien. Dicht vor der Insel liegt das Felsenriff Caprera.

Rüstows Schreiben öffnete dem Gaste weit die hölzerne Tür der Feldsteinhütte, darin der alte Degen und Seemann der kurzen wohlverdienten Ruhe pflegte. Er hörte mit verstehendem Lächeln Lassalles geistesverwandten Plan und schüttelte den grauen strapazen-zerwühlten Kopf.

»Es ist noch so viel in meinem Lande zu tun!« wich er aus. Doch Lassalle bestürmte und bestürmte. Er hatte seit dem Aufblitzen der Idee mit eiserner Energie Italienisch gelernt und beherrschte die Sprache dank seines Talentes und Gedächtnisses leidlich.

»Ich will es mir durchdenken,« ergab sich der kühne Condottiere.

Mit der Gastfreundschaft des einsamen Inselbewohners hielt er den Fremden fünf Tage zurück.

Des Abends saßen sie in den milden Novembertagen des Südens am prasselnden Kaminfeuer, und der Held ließ die klingende Flut rinnen aus dem unversieglichen Quell seiner ruhmreichen Erinnerung. Und draußen, vor der weitgeöffneten Tür, brauste das Meer die markige Begleitung zu dieser leidenschaftlichen Eroica.

Garibaldi erzählte von seinen Kämpfen im Dienste der südamerikanischen Republiken, von der Rückkehr nach der Heimat auf der Brigantine Speranza, als das Vaterland zur Freiheit rief, von den Kämpfen um Rom im Jahre 1848, von der Verzweiflung über den Verrat von Villafranka, von dem Siegeszug der Tausend im Jahre 1860.

Lassalle erlebte die wagemutige Fahrt der Rothemden nach Marsala auf den in Genua mit Gewalt genommenen Dampfern »Lombardo« und »Piemonte«. Und dann stürmte an ihm die erste blutige sieghafte Schlacht von Calatafimi vom 15. Mai 1860 hin, in der diese »Tausend« die Braven König Bombas wie die Hasen gehetzt hatten.historisch »Der Feind rückte heran. Auf unserer Seite hatte ich den Befehl gegeben, nicht zu feuern, bis die Feinde ganz in der Nähe wären. Ein Hornsignal, eine amerikanische Reveille blasend, brachte, wie durch Zauber, den Feind zum Stillstand. Jetzt begann der Angriff der Tausend, voran die genuesischen Schützen, mit ihnen aber eine erlesene Schar von Jünglingen, die ungeduldig waren, an den Feind zu gelangen. Der Zweck des Vorstoßes war, die feindliche Vorhut in die Flucht zu schlagen. Keineswegs aber war es meine Absicht, die von den Bourbonischen mit starken Streitkräften besetzte furchtbare Bergstellung anzugreifen. Allein wer vermochte jene feurigen hochgemuten Freiwilligen aufzuhalten, nachdem sie sich einmal auf den Feind gestürzt hatten?! Vergebens bliesen die Hörner das Haltsignal, die Unsrigen hörten es nicht und verfuhren wie Nelson in der Schlacht bei Kopenhagen.« Er blickte fragend auf den aufmerksamen Hörer.

Lassalle nickte. »Admiral Parker gab Nelson das Signal, zurückzugehen. Als seine Offiziere ihn hierauf aufmerksam machten, setzte er das Fernrohr an das Auge, das er bei Calvi verloren hatte, und sagte: ›Ich sehe nichts‹. Er kämpfte weiter und errang den Sieg.«

Garibaldi lachte dumpf. »So taten es die Unsrigen. Jetzt war keine Zeit zu verlieren, sonst wäre jene hochgemute Schar dem Untergange geweiht gewesen. Ich ließ also sofort zum Angriff blasen, und das ganze Korps der Tausend ging vor, die Vorhut herauszuhauen.

Der Feind hatte sich auf den Römerberg zurückgezogen und verteidigte seine Stellung mit Tapferkeit und Zähigkeit. Die Lage war kritisch: wir mußten siegen! Mit diesem festen Entschluß begannen wir unter einem Hagel von Geschossen die erste Stufe des Berges zu ersteigen. Ich weiß nicht mehr die Zahl, aber es waren sicherlich mehrere Stufen zu überwinden. Und jedesmal, wenn wir von einem Absatz zum folgenden emporkletterten, was fast stets ohne Deckung geschehen mußte, empfing uns ein mörderisches Feuer. Der Befehl, den ich den Unsrigen gegeben hatte, selten zu feuern, paßte sich der Beschaffenheit der Flinten, mit denen uns die sardinische Regierung beschenkt hatte, aufs beste an, da sie nämlich fast immer versagten.«

Er schwieg sinnend. Das Feuer im Kamin zuckte blutig auf, draußen tobte das Meer heulend gegen die Klippen.

Da sprach er leise vor sich hin: »Calatafimi! Wenn ich, der Überlebende aus hundert Schlachten, in meinen letzten Zügen liege und meine Freunde zum letzten Male ein Lächeln des Stolzes auf meinem Antlitz wahrnehmen, dann wird es die Erinnerung an dich sein, die dieses Lächeln hervorbringt. Denn ich erinnere mich keiner Schlacht, die ruhmvoller gewesen wäre!«

So spann er die Erinnerungen bis in den grauen Meeresmorgen.

Und als Lassalle am fünften Tage schied, gab er ihm ermunternd die Hand und lächelte: »Wir wollen sehen, was uns der Frühling bringt.«

Eine bestimmte Zusage hatte des Deutschen Beredsamkeit nicht erzwungen!


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