Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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IX.

Am nächsten Morgen stand Ludmilla Assing verlegen und schüchtern vor dem Diener Friedrich.

»Ist Herr Doktor allein?« fragte sie scheu. Friedrich, der Weise, verstand. »Unsere Gräfin kommt immer erst zu Mittag,« belehrte er.

»Dann melden Sie mich, bitte, dem Herrn Doktor.«

In freudiger Herzlichkeit kam Lassalle der Freundin entgegen. »Guten Morgen, das ist aber mal eine Überraschung! Wie geht es denn? Wir haben uns ja eine halbe Ewigkeit nicht gesehen!«

Sie betrachtete mit liebevoller Besorgnis seine eingesunkenen gelben Wangen. Die Backenknochen standen schrecklich hervor. »Wie geht es Ihnen denn?« fragte sie bekümmert, »hat Ihnen die Kur gutgetan?«

»Wenig. Ich leide noch sehr. Aber setzen Sie sich doch, Ludmilla.«

»Setzen Sie sich nur erst.« Sie sah sich mütterlich besorgt im Zimmer um. – »Ist da nicht eine Decke oder sonst etwas zum Einhüllen? Sie müssen sich doch sicher recht warm halten.«

»Aber nein,« lachte er, »es ist ja ganz warmes Oktoberwetter. Ich habe, wie Sie sehen, sogar die Fenster weit offen. Nun erzählen Sie! Sind die Briefe schon heraus?«

»Das wissen Sie nicht!« rief Ludmilla erstaunt.

»Nein. Ich habe keine Zeitung gelesen, die ganze Zeit über. Absichtlich nicht. Wollte ausruhen.«

»Oh, dann hören Sie nur. Als Humboldts Briefe an Varnhagen in Leipzig erschienen, hat das hier einen wahren Aufruhr gegeben. Sämtliche Bourgeoisblätter, mit Ausnahme der Dunckerschen Volkszeitung, und natürlich auch die Kreuzzeitung haben mich wie eine Meute toller Hunde angefallen.«

»Aber – Ludmilla – das erfahre ich erst jetzt! Sowas schreiben Sie mir nicht sofort?«

»Ich wußte ja Ihre Adresse nicht. Sie haben mir ja all die Monate über nicht einmal geschrieben.« Das kam sehr bitter.

»Sie hätten meine Adresse doch von der Gräfin erfahren können,« erregte er sich. »Oder ihr die Zeitungen zuschicken.«

Ludmilla schwieg und blickte zum Fenster hinaus.

»Nein, das erfahre ich erst jetzt! Weiter, erzählen Sie weiter.«

»Zuerst erfolgte eine Beschlagnahme –«

Lassalle sprang auf.

»Setzen Sie sich, Lassalle. Wer weiß, ob Ihnen das Stehen gut ist. Man ließ die Konfiskation von oben herab sofort aufheben, weil man einen um so größeren Lärm fürchtete.«

»Köstlich,« rieb Lassalle sich schadenfroh die Hände, »ganz köstlich. Das habe ich mir gedacht, daß die bitterbösen Enthüllungen dieser beiden großen stacheligen Ehrerbietigkeiten wie Skorpionenstiche wirken würden. Es gibt ja auch gar kein Buch dieser Art, das so nützlich in unserm demokratischen Sinne wirken wird wie dieses. Diese Briefe des Königsfreundes Humboldt blasen ja mit vollen Backen in die Posaune der Revolution. Haha,« er lachte schabernack-froh, »auf solche Hilfe war man da oben nicht gefaßt, was?«

»Nein,« erwiderte sie, »das Buch ist reißend gegangen. Die zweite Auflage ist bereits vergriffen.«

»Sehen Sie. Was sagte ich Ihnen damals gleich? Und diese demokratisch sein wollenden Blätter und Leutchen schnauben natürlich Wut. Diese Limonadenseelen. Wie ich sie kenne!«

»Bei Hofe hier und in Weimar hat man fast Trauer angelegt,« berichtete Ludmilla fort. »Und die Kreuzzeitung hat, natürlich ohne Sie zu nennen, mit allerlei giftigen Anschuldigungen auf Sie hingedeutet und Sie für die Herausgabe verantwortlich gemacht.«

»Ha, sie hat eine gute Nase. Aber, Ludmilla, das muß ich sofort alles lesen. Sie haben doch die Blätter aufgehoben?«

»Alles,« beruhigte sie. »Wann wollen Sie zu mir kommen? Sie gehen doch aus.«

»Ja, gewiß. Heute nachmittag natürlich.«

»Ich wohne jetzt Potsdamer Straße,« lächelte sie zutraulich.

»Wie? Sie sind umgezogen?!«

»Es war mir zu einsam in dem leeren großen Hause. Jetzt habe ich eine kleine gemütliche Wohnung, gleich hier um die Ecke.«

»Also ich komme heute. Und dann wollen wir tüchtig weiterarbeiten. Den braven Weibern männlichen Geschlechts soll der Sturm noch pfeifend um die Nase blasen und manche alte Bourgeoisperücke tüchtig zausen. Ich komme dann gleich nach dem Essen –«

Es klopfte, Friedrich brachte einen Brief. –

Lassalle erkannte sofort Sophie Adrianownas Handschrift, schnellte empor, sagte: »Entschuldigen Sie einen Augenblick, Ludmilla, es ist sehr leicht möglich, daß ich heute nachmittag nicht kommen kann, ich erwarte eine wichtige Nachricht –« und erbrach mit erwartungsvollen Fingern das Siegel »Semper idem«. Dann flogen seine Augen über die Schrift.

Ludmilla war gewiß nicht indiskret. Nein. Doch sie war ein armes, mit der letzten verschüchterten Leidenschaft des Alterns liebendes Weib. Sie sah die große selbstbewußte Damenhandschrift, und sie sah das beglückte Aufglimmen in Lassalles blauen Augen. Und sie sank haltlos in sich zusammen und dachte an diese schwarzen letzten Monate mit ihrer ungebärdigen Sehnsucht und dem aufreibenden Harren auf seine Rückkehr und das tägliche bange Anfragen bei Lina Duncker, ob sie etwas wisse, und das Zittern der Glieder, als sie gestern die atemraubende Nachricht von seiner Heimkehr erhalten hatte, und an diese letzte schlaflos durchfieberte Nacht. – Und nun saß er da vor ihr und las den Liebesbrief einer andern. Sie sank armselig in sich zusammen und war eine alte verzweifelte Frau.

Lassalle war aufgesprungen und lief in kopfloser Aufregung irr im Zimmer umher. Er öffnete die Tür, wollte dem Diener etwas sagen, schloß sie wieder, kam zu Ludmilla zurück, lächelte töricht und sprudelte hervor: »Ja, Ludmilla, heute wird es nun nichts. Ich bekomme Besuch von außerhalb.«

»Wohl eine Badebekanntschaft?« heuchelte sie Gleichgültigkeit. Doch es wurde eine grausame Grimasse.

»Ja, eine Badebekanntschaft,« tat er leichthin, »wie man sie so macht.«

»Ist sie jung und hübsch?« forschte da weh die dumme Eifersucht aus ihr hervor.

»Woher wissen Sie es denn?« fragte er schroff.

»Ich weiß ja nichts,« weidete ihr Schmerz sich boshaft an seiner Verlegenheit. »Ich weiß nur, daß die klügsten Männer oft sehr dumm sind.« Damit stand sie auf und griff zu ihrer Pompadour.

»Ich glaube, es lohnt nicht recht, Herr Doktor, daß Sie sich mit der Herausgabe des weiteren Nachlasses meines Onkels bemühen,« sagte sie scharf. »Ich werde sehen, allein damit fertig zu werden. Ich ziehe nun bald nach Florenz.«

Lassalle blickte ohne Begreifen drein. »Wie? Sie wollen von Berlin fortgehen?«

»Ja.«

»Aber Ludmilla, davon haben Sie doch nie ein Wort gesagt! Weshalb auf einmal?«

»Weil – weil –« Da verließ sie die Kraft. Mit keuchendem Schluchzen rannte sie zur Tür hinaus, durch den Korridor, durch den Garten, durch die Straße, bis sie in ihr Zimmer kam. Dort lag sie und wand sich in Eifersucht und Wut und Gram und beschloß, nun endlich zu tun, was sie so oft beschlossen hatte, wenn er höflich und liebenswürdig von ihr gegangen war. Zu entfliehen, weit fort, dorthin, wo es keine Versuchung, ihn zu sehen, gab, wo er die Wunden nicht immer wieder blutig aufriß, wo er sie nicht immer wieder schmachvoll erniedrigte mit seiner höflichen Liebenswürdigkeit, wo nur der vernichtende Schmerz des Entsagens war. Ja, jetzt ging sie nach Florenz!

Lassalle sah der Davoneilenden verblüfft nach, schüttelte den Kopf, murrte: »Ja, ja, die alten Jungfern,« und nahm wieder mit zärtlicher Verehrung den Brief seiner jungen Liebe auf. Doch abermals wurde er in der schwärmerischen Lektüre unterbrochen. Es läutete draußen. Er hörte es nicht in seiner verschwärmten Versunkenheit. Dann sprach draußen eine laute tiefe Stimme mit dem Diener. Zurück warf Lassalle den Kopf, der Brief entfiel seiner Hand – er war an der Tür und hing am Halse des schönen stattlichen Mannes.

»Vater, Vater!« stammelte er. »Aber, Vater!«

Der Alte preßte ihn mit starken Armen an die breite Brust. Dann trat er von ihm zurück, Tränen der Freude in den schönen, guten, klaren Augen und sagte: »Laß dich anschauen, mein Junge!« Und ihm die Backe tätschelnd, fragte er besorgt: »Na, wie geht es denn?«

»Ganz gut, Vater. Aber komm doch in die Stube. Friedrich, nehmen Sie den Reisesack.« Und er legte den Arm um die Schulter des Mannes und führte ihn ins Zimmer.

»Das ist eine Überraschung! Warum hast du die Mutter nicht mitgebracht?«

»Es ging nicht recht. Du weißt ja, das alte Leiden.«

»Ärgert sie dich noch tüchtig?« lachte Lassalle zutraulich. Der alte Heymann Lassal (das »le« des Schlusses hatte der Sohn autokratisch in Paris angenommen) hob die Hände: »O ja, habe unberufen nicht zu klagen. Sie macht einem das Leben ganz hübsch sauer. Aber, weißt du, Ferdinand, unter uns im Vertrauen, wenn sie mal einen ganzen Tag bei guter Laune ist, fehlt mir was. Aber daß du mich nicht verrätst!«

»Parole d'honneur!« versprach der Sohn.

»Aber, mein Kind,« sagte der Alte ernst, »was ist das mit deiner Krankheit? Wir sind sehr besorgt. Als gestern dein Brief kam, in dem du schreibst, die Kur habe dir nicht geholfen, bekamen wir einen solchen Schreck, daß ich mich sofort auf die Bahn setzte.«

»Ihr Geliebten!« strahlte Lassalle gerührt. »Na, nun siehst du ja, noch stehe ich so ziemlich aufrecht. Und nun komm, Vater, du wirst dich nach der Reise ein wenig ausruhen wollen.«

»Ausruhen! Nein, mein Junge. So schlapp sind wir noch nicht. Du glaubst wohl, ich bin alt. Noch nicht, mein Junge, mit meinen lumpigen etlichen Sechzig. Aber ein bißchen waschen möchte ich mich.«

Später saßen sie behaglich einander gegenüber im Speisezimmer beim Frühstück, und des alten Lassals blaue Augen blickten mit mannhafter Zärtlichkeit aus dem feinen Gesicht voller Verstand und Güte auf den geliebten einzigen Sohn. Und Lassalle fragte nach dem Seidengeschäft und der Schwester Friederike, der rundlichen, blonden, hübschen, deren Ehe mit dem Breslauer Vetter Ferdinand Friedländer – jetzt nannte er sich stolz »Chevalier von Friedland« und war Direktor der Gasanstalt in Prag – leider keine recht glückliche werden wollte.

Und Heymann Lassal blickte sich in dem geschmackvollen Raume befriedigt um und freute sich: »Schön hast du es, mein Junge. Du weißt, ich war nicht sehr für deinen Kampf für die Gräfin. Aber der Erfolg ist für dich. Und recht hast du gehabt, dir im Falle des Obsiegens eine Rente von 4000 Talern auszubedingen.«

»Ohne diese Verpflichtung hätte die Gräfin meine Hilfe niemals angenommen.«

»Eine gute, anständige Frau,« billigte der Vater. »Alles, was recht ist. Aber nun freue ich mich, daß du die Kämpfe aufgegeben hast. Ist doch ganz schön, so behaglich seiner wissenschaftlichen Arbeit zu leben, gelt?«

»Es kommen vielleicht noch bittrere Kämpfe,« sagte der Sohn ernst.

Der Alte legte klirrend das Messer hin. »Das wirst du mir nicht antun, Ferdinand!« bat er. »Du hast uns, weiß Gott, schon genug Sorge gemacht mit diesem Eintreten für Fremde.«

Lassalle legte die Hand innig auf des Vaters Rechte. »Iß nur ruhig weiter, Vater. Ich muß doch so handeln, wie mein Charakter es verlangt.«

»Du bist jetzt so schön auf dem Wege,« trauerte der Alte. »Werd' Professor. Das ist doch auch ein schöner Beruf. Laß die andern allein mit ihren Sorgen fertig werden!«

Da lachte Lassalle. »Du sprichst ja wie damals in Leipzig, als ich dich bat, mich von der Handelsschule fortzunehmen und mich studieren zu lassen. Erinnerst du dich?«

»Ob ich mich erinnere!«

Lassalle sah vor sich hin. »Wie gestern ist es. Ich sagte dir, ich werde ein Kämpfer werden. Jetzt ist die Zeit, in der man um die heiligsten Zwecke der Menschheit kämpft.«

Der Alte nickte erinnerungsumfangen.

»Und du, Vater, sagtest: ›Was willst gerade du zum Märtyrer werden! Du, unsere einzige Hoffnung und Stütze. Die Freiheit wird errungen werden, auch ohne dich!‹«

»Hatt' ich nicht recht?«

»Von deinem Standpunkte aus, ja. Aber was ich dir damals antwortete, war noch treffender: ›Wenn jeder so spräche, so feig sich zurückzöge, wann würde dann einmal ein Kämpfer auferstehen‹?«

»Ja, ja,« nickte der Alte, »auch darin liegt eine Wahrheit. Aber nun hast du doch gekämpft. Was haben wir 48 mit dir durchgemacht! Nun gib schon Ruh. Du kannst so behaglich hier leben. Und weißt du was, Ferdinand? Heiraten solltest du. Meinst, ich möchte nicht noch Enkel von dir erleben!«

Da wurden des Sohnes Augen ganz weit und feucht. »Vater,« flüsterte er, » die Freude sollst du haben. Ich werde heiraten.«

Und er erzählte dem beglückt Aufhorchenden von der feinen schwarzen Sophie Adrianowna von Solutzeff.

»Ich weiß,« lächelte er, »dir wäre eine Jüdin lieber als eine russische Fürstentochter, aber die Hauptsache ist doch, daß sie mich liebt und euch ehrt.«

»Das ist die Hauptsache,« sagte der Alte fest, »daß sie dich liebt. Aber, Junge, da bin ich ja gerade zupaß gekommen. Also heute nachmittag! Kind, ist das aber eine Freude! Da werde ich mich nachher mal fein machen. Sollst Staat vor deiner Liebsten machen mit deinem alten Vater.«

»Mach' ich auch!« sagte Lassalle stolz. »Das Dumme ist nur, sie hat nicht geschrieben, mit welchem Zuge sie kommen.«

»Nun, sie wird sich melden,« tröstete Heymann Lassal.

»Und jetzt, mein Junge, laß dich durch mich nicht stören! Du wirst zu tun haben. Ich setz' mich ganz still in dein Zimmer und schau' dir zu.«

»Nein,« wehrte Lassalle. »Heute ist Freudenfest. Heute wird nichts gearbeitet.«

»Weißt du was?« bat da der Alte, »wenn du doch nicht arbeiten willst, lies mir ein paar Kapitel aus deinem neuen juristischen Werk vor. Das Konzept hast du doch. Wenn ich auch nicht viel davon verstehe, ich höre doch den Stil und deine Sprache. Und hab' doch meine Freude.« – –

Des alten Heymanns Welterfahrenheit behielt recht. Gegen abend kam ein Bote aus dem Petersburger Hofe mit einem Zettelchen. Sofort eilte Lassalle nach den Linden.

Im Wohnzimmer blieb der Vater mit der Gräfin zurück.

»Es wird nichts werden,« kassandrate Sophie Hatzfeld.

»Wieso nicht?« schreckte Lassal empor.

»Sie wird ihn nicht nehmen,« prophezeite die Frau.

»Sie wird sich die Finger lecken,« wurde der Vater heftig. »Sie meinen, weil sie eine ›von‹ ist?!«

»Nein, nicht deshalb,« blieb die Frau ruhig, »weil sie sich ihm nicht gewachsen fühlt. Sie empfindet seine geistige Überlegenheit zu stark, sie muß sich vor ihm in acht nehmen, keine Dummheiten zu schwatzen. Das wird auf die Dauer peinlich anstrengend. Sie nimmt ihn nicht.«

»Das wäre sehr schade,« seufzte der Alte.

Da richtete sich die Gräfin auf. »Was braucht Ferdinand zu heiraten! Er ist nicht zur Ehe gemacht. Er muß frei sein. Er hat ja auch seine Behaglichkeit und Fürsorge.«

Doch der Alte sagte in seiner köstlichen Geradheit: »Verehrte Frau Gräfin, das ist ja alles ganz schön und ganz gut. Aber das Rechte ist's nicht. Ein Mann muß ein Weib haben, die ihm Kinder gebiert. Sonst ist das Leben nur ein halbes. Und das weiß ich: wenn Ferdinand Weib und Kinder hätte, würde er ruhiger und glücklicher werden.«

Da schwieg die Frau erbittert und zerballte ihr Taschentuch in der angstfeuchten Hand. Denn im Grunde ihres martervoll pochenden Herzens war sie der Ablehnung des Fräuleins von Solutzeff keineswegs so gewiß, wie ihre Unrast ihr vorzuspiegeln suchte. –

Bewegte Tage brachen an. Es erging Lassalle, wie es noch heute so vielen Berlinern geht: sie besuchen die Sehenswürdigkeiten ihrer Stadt erst dann, wenn es gilt, sie Fremden zu zeigen. Er wurde geradezu Fremdenführer.

Gleich beim ersten Alleinsein hatte Sophie Adrianowna ihn gebeten, sie nicht zu drängen und nicht ihre Antwort zu ertrotzen. Sie würde sie ihm freiwillig geben, ehe sie abreiste. Er hatte eingewilligt. Und wenn sie allein waren, sprach Lassalle wohl von seiner Liebe, doch ohne Ungestüm und Bedrängnis, sondern selbstbewußt, verehrend und hoffnungssicher. Und Sophie von Solutzeff wußte es einzurichten, daß sie selten allein waren.

Doch eines Abends besuchten Sophie und Lassalle die Oper. Lohengrin wurde gegeben. Er saß hinter ihr in der Loge und sprach ihr, zu besserem Verständnis, den Text vor. Er kannte ihn bei seiner Wagnerbegeisterung und seinem ungewöhnlichen Gedächtnis Wort für Wort. Sie beugte sich leicht zu ihm zurück, die Musik erregte ihren empfänglichen Sinn und seine flüsternde melodiöse Stimme berührte sie körperlich wohltuend. In einer warmen Lindheit saß sie, zwischen den Vorgängen auf der Bühne und der liebkosenden Nähe des rezitierenden Mannes. Und da hatte sie ihn plötzlich lieb. Alles Weibliche, Innige, Zarte in ihr neigte sich ihm zu. Kelche öffneten sich in ihrer Seele ihm entgegen. Ja – jetzt wußte sie es, sie würde ihm heute das erlösende Wort sprechen. Sie neigte sich weit zu ihm zurück und fühlte den Hauch seines Mundes auf den entblößten Schultern mit verlangendem Erschauern und schloß die Augen in Wünschen und Seligkeiten.

Und dann im Wagen ließ sie ihm die Hand. Und dann im Wagen gab sie ihm den jungen verlangenden Mund. Und dann im Dunkel des Wagens schmiegte sie leidenschaftlich an ihn die aufgeschreckte Sehnsucht ihres Körpers. Und als er sprechen wollte, schloß sie ihm die Lippen mit zagen Küssen und flüsterte: »Kein Wort – kein Wort. Morgen.« Im Vestibül des Hotels gab sie ihm stumm die Hand und eilte die Treppen hinauf. Er stand und blickte ihr entzaubert nach. Und sah die ranken Glieder gegen den weichen Seidenstoff streben und sah die Röcke aufleuchten beim Steigen und sah die zarten durchbrochenen Strümpfe und sah das Weib in ihr – nur das begehrte, junge, liebeswarme Weib.

Langsam schritt er heim durch den dunklen Tiergarten und fühlte sich irgendwie ärmer und irgendwie befreit. Diesen Genießer weiblicher Schwäche hatte im Grunde Sophie Adrianownas Stärke gelockt. Jetzt war sie ihm ein Weib geworden wie andere. Wohl tat nun der Verstand sein Rettungswerk. Wohl suchte die Vernunft seine Zweifel zur Ruhe zu warnen. Wohl wußte er am nächsten Morgen, als er zu ihr ging, daß er sie liebe, daß sie allein für ihn bestimmt, daß sie sein Glück und daß für ihre kluge Holdheit die Ehe kein allzu schweres Opfer sei.

Da trat sie in den Salon, der zu den Solutzeffschen Apartements gehörte. Er ging ihr beflügelt entgegen, sie hob scheu abwehrend die Hand. Ihr Gesicht war bleicher als je. Sie hatte die dunkelste Nacht ihres Lebens durchrungen.

Als sie am Abend in ihr Zimmer getreten war, sank mit den raschelnden Gewändern der süße Rausch ihres Körpers zu Boden. Nein, sie liebte den Mann nicht, nein, nein. Die Musik, seine vibrierende Männlichkeit hatten das Weib in ihr aufgerüttelt. Sie liebte ihn nicht. Und sie saß Stunde um Stunde im Nachtgewand auf dem Bettrand und sann und kämpfte. Nun stand sie vor ihm.

»Herr Doktor,« begann sie, die Stimme hatte jede Tonfarbe verloren, »vergessen Sie den gestrigen Abend. Das war nicht ich. Ich habe heute nacht gerungen. Ich weiß nun, ich kann meine Lebensaufgabe nicht verlassen.«

Er prallte einen Schritt zurück. Doch tief, tief im Unbewußten empfand er die Befreiung, trotz des Schmerzes seiner wund getroffenen Eitelkeit.

»Nein, ich kann meine Bauernkinder nicht verlassen. So wenig wie Sie Ihre Arbeiter meinetwegen preisgeben würden.« »Das ist etwas anderes,« sprach der Mime in ihm, der in jedem Menschen spielt, »ich bin ein Mann. Bei einem Weibe ist das anders. Wenn es wirklich liebt, dann verläßt es Heim und Eltern und – Bauernkinder und folgt dem Manne seiner Liebe.«

Sie beugte das schwarze schimmernde Haar und schwieg.

»Sie lieben mich also nicht,« erkannte er bitter, und sein Selbstbewußtsein empfand zuckend den Schmerz, der in Wahrheit nicht echt war.

Ohne die Augen zu heben, flüsterte sie: »Nicht, so, wie ich es müßte, um mein Werk zu verlassen.«

Dann standen sie in schwerbelastetem Schweigen vor einander. Beider Atem rauschte in die Stille. Endlich sagte Lassalle: »Ich werde es tragen wie alles andere Schwere meines Lebens.«

Da hob sie den tränenfunkelnden Blick und flehte: »Grollen Sie mir nicht! Ich kann nicht anders.«

»Ich grolle Ihnen nicht,« sagte er mit ehrlichen, bebenden Lippen.

»Ich –« Er wurde ganz weich. »Erinnern Sie sich noch unseres ersten Abends? Ich segne auch heute noch unser Begegnen. Wenn ich heute auch soviel ärmer geworden bin, reicher hat mich unser Finden dennoch gemacht.«

Er reichte ihr die Hand.

»Leben Sie wohl, Sophie Adrianowna. Wenn ich ein alter Mann werden sollte, wird oft in linden Dämmerstunden Heines schönes Lied in mir erklingen:

»In mein allzu dunkles Leben
Strahlte einst ein helles Bild.«

Sie nahm seine Hand.

»Leben Sie wohl. Und viel Glück zu Ihrem Werke! Bei jedem Erfolg, den ich in meinem kleinen Bezirk erringe, werde ich dankbar an all das denken, was Sie mir gegeben haben. Und wenn wir beide einmal alt geworden sind und beide ein Ziel gefunden haben, vielleicht führen dann noch einmal unsere Wege in Freundschaft zusammen.«

»Vielleicht,« nahm er die vage Hoffnung auf. »Leben Sie wohl. Ich kehre nun so viel älter an mein Werk zurück. Denn ich gehe nun heim aus dem verklärenden Glück meiner ersten großen Liebe.«

Sie haben sich niemals wiedergesehen.


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