Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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XII.

Der Tag brach an.

Wohl hatte der Vortrag nicht gleich Weltbrände entfacht. Ein wenig verdutzt und staunend über die wunderbaren Dinge, zu denen sie berufen seien, saßen die Maschinenbauer vor dem bleichen Redner mit den Feueraugen, äußerlich fortgerissen von seiner wie Frühlingssturm brausenden Stimme und der flammenden Begeisterung auf dem schönen Antlitz.

Doch das »Arbeiterprogramm« erschien als Broschüre und wurde von Klingbeil, dem alten, und Loewe, dem jungen, und den wenigen, die den Vortrag begriffen hatten, emsig verbreitet in den biederen Arbeiterbildungsvereinen.

In Leipzig brachte der junge Drechsler Bebel etliche Exemplare unter seine Bekannten. Doch nur ganz langsam, langsam kam das Steinchen ins Rollen, das zur niederwetternden Lawine anschwellen sollte.

Da sprang zur Beschleunigung des Werdegangs der entfesselten Bewegung die Hilfe des Staats ein. Nicht ganz in der Gestalt, in der Lassalle sie zu erkämpfen strebte, aber doch in durchaus förderlicher Form. Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte die Broschüre und erhob gegen Lassalle Anklage »wegen Gefährdung des öffentlichen Friedens durch Anreizung der Angehörigen des Staats zu Haß und Verachtung gegeneinander«.

Lassalle jubelte. Denn zu allen Zeiten ist die Anklagebehörde der tüchtigste Propagandamacher gewesen. Jetzt wurden die Arbeiter in allen deutschen Landen auf das Arbeiterprogramm aufmerksam. Überall gingen die der Beschlagnahme entronnenen Heftlein von Hand zu Hand, in allen Arbeitervereinen wurden sie herumgereicht und eifrig diskutiert.

Das Steinchen rollte – rollte. –

Lassalle legte seine Verteidigung in die Hände des tüchtigen Anwalts Holthoff und kümmerte sich im übrigen um die Anklage nicht. Vor einem halben Jahre war die Hauptverhandlung auch kaum zu erwarten. Er hatte Wichtigeres zu tun, als wegen einer drohenden Verurteilung zu bangen. Er hoffte noch immer auf die Hilfe der Fortschrittspartei für seine Befreiertat.

Am 16. April hatte er den Vortrag »Über Verfassungswesen« im Bürger-Bezirksverein gehalten. Doch nachher, als er mit den Freunden in dem niedrigen, gemütlichen, verräucherten Kellerraum bei Lutter zusammensaß, griff Duncker ihn kräftig an. »Sie behaupten,« rief der gelassene Mann erregt, »die Verfassung ist ein nichtiges Stück Papier ohne realen Hintergrund. Lieber Freund, uns ist sie das Panier, um das wir uns bis zum letzten Blutstropfen scharen. Nicht auf der Barrikade. Nein. Mit der Kraft, die das Bewußtsein des Rechtes gibt.«

Und Dohm fiel ein:

»Es ist geradezu ein Frevel, den Konflikt auf eine Machtprobe zuzuspitzen. Dann kann die Regierung nicht nachgeben. Wir müssen gerade im Gegenteil immer wieder betonen, daß wir nicht um die Macht, sondern um unser verfassungsmäßiges Recht kämpfen.«

Vergebens suchte Lassalle sie zu überzeugen. Doch sehr bald gab die Entwicklung der Dinge ihm recht.

Als er von seiner Reise zur Londoner Weltausstellung und von der Bahre seines plötzlich dahingerafften Vaters im Herbst heimkehrte, war der Konflikt für jedermann klar zum Machtkampf geworden.

Der neugewählte Landtag des Jahres 1862 trat am 11. September in die Beratung der Militärvorlage ein. Nach siebentägiger Redeschlacht beschloß er mit 273 gegen 48 Stimmen, die gesamten Kosten der Heeresreform aus dem Haushaltungsplane für 1862 zu streichen. Das Ministerium Hohenlohe-Ingelfingen war in furchtbarer Niederlage niedergerungen.

Am Morgen des 21. September stand König Wilhelm am Fenster seines Arbeitskabinetts und blickte mit umflorten Augen hinaus in den herbstlich bunten Park von Babelsberg. Er hatte seit vielen Nächten nicht geschlafen. Die Verzweiflung starrte aus den entzündeten Augen. Der alte Herr war am Ende seiner Kräfte. Ein müdes Zittern rieselte über die gebeugte Gestalt des hohen Sechzigers. Er riß sich vom Fenster los, ging mit matten Knien zum Schreibtisch, tauchte den Kiel in die Tinte und zögerte wieder.

Dann setzte er an, seine Abdankungsurkunde zu unterschreiben.

Es pochte. Wie auf feiger Tat ertappt, fuhr der König empor. Der Lakai trat ein und meldete – Herrn von Bismarck.

Als verstehe er nicht, blickte der König aus stumpfen Augen auf den Mann. Nur mählich fanden die Gedanken ihren Weg. Ja doch – ja doch. Gestern hatte Roon geraten, in dieser höchsten Not den Botschafter in Paris, Herrn von Bismarck, zum Ministerpräsidenten zu berufen. Nach einigem Zaudern hatte der König eingewilligt.

Der Lakai stand noch immer unbeweglich. Der König nickte, der Diener ging.

Ja, Roon hatte den Jugendfreund telegraphisch aus Paris gelockt und war dann nach Babelsberg zum König geeilt. »Er wird nicht wollen,« hatte Wilhelm ratlos entgegnet, als der Kriegsminister Bismarcks Berufung vorschlug. »Er wird es jetzt auch nicht übernehmen. Er ist auch nicht da, es kann mit ihm nichts besprochen werden.«

»Er ist hier,« erwiderte Roon, »und wird Ew. Majestät Rufe bereitwilligst folgen.« –

Die Tür des Kabinetts ging, Herr von Bismarck stand vor seinem Könige. Deutschlands Geschick war mit ihm eingetreten.

Nach kurzer Begrüßung fragte Wilhelm mit zagender Stimme: »Ja, wollen Sie denn auch gegen die Majorität des Landes Ihr Amt antreten und führen?« »Ja, Majestät,« entgegnete der große schlanke kraftvolle Mann, der noch nichts vom General und alles vom Kavalier hatte. Der Duft der Hofparketts von Petersburg und Paris umwehte noch seine kernige Eleganz, der flotte Quadrillentänzer zuckte noch in den geschmeidigen Gliedern.

»Auch ohne Budget?« fragte bang der König.

Des Mannes große Augen leuchteten auf unter den buschigen Brauen. »Ja, Majestät.«

»Und ohne die Reorganisation der Armee preiszugeben?«

»Ja, Majestät.«

Der König griff etliche Bogen vom Tisch. »Ich habe hier,« sagte er zögernd, unschlüssig, »ein auf liberalen Grundsätzen beruhendes Programm für meinen Nachfolger angefertigt. Ich hatte die Absicht heute abzudanken. Lesen Sie das Programm. Vielleicht können wir es beibehalten.«

Bismarck nahm die Bogen und überflog sie scharf und prüfend. Dann legte er sie auf den Tisch zurück. Hilflos, in ängstlicher Spannung, sah der König dem Manne in die beherzten Augen.

»Auf Ew. Majestät Befehl,« sagte er fest, »bin ich bereit, das Amt zu übernehmen, aber ohne Programm.«

Da zerriß der König unter der hypnotischen Wucht dieses selbstsicheren Mannes die Abdankungsurkunde und das Programm und warf die Fetzen in den Papierkorb. Doch Bismarck bückte sich, raffte die Papierstücke bedächtig zusammen und steckte sie in die Tasche.

»Damit sie nicht in unrechte Hände kommen,« sagte er lächelnd.

Drei Tage später, nachdem das Ministerium Hohenlohe-Ingelfingen demissioniert hatte und der König noch einmal unschlüssig geworden war, erschien endlich auf Roons wiederholte eindringliche Mahnung die Kabinettsorder:

»Nachdem der Prinz zu Hohenlohe-Ingelfingen auf sein wiederholtes Gesuch von dem Vorsitz im Staatsministerium entbunden, habe Ich den Wirklichen Geheimen Rath von Bismarck-Schönhausen zum Staatsminister ernannt und ihm den interimistischen Vorsitz des Staatsministeriums übertragen.

Wilhelm.«

Ein Sturm der Entrüstung heulte dem neuen Manne entgegen. Ein Hagelschauer von Schmähungen und Verdächtigungen ging in der Fortschrittspresse gegen den »burschikosen Junker«, den »hohlen Renommisten«, den »Napoleonvergötterer« nieder. Und überall erscholl der Schrei: »Bismarck ist der Staatsstreich!«

Die Optimisten sahen in dieser Ernennung nur ein heiteres Intermezzo. Herr von Bismarck würde ebensowenig wie seine Vorgänger den Militärkonflikt beilegen können. Und man erzählte sich hundert Anekdoten von der Originalität der Ausdrucksweise, der spaßigen Laune, dem treffenden Witz und der Selbstironie des neuen Ministerpräsidenten, die deutlich bewiesen, daß er sich des Ernstes der Lage nicht bewußt war.

Aber das wußte ja auch der kleinste Berliner Schusterjunge, daß dieser lustige Abenteurer keinen Hauch staatsmännischer Weisheit je verspürt.

Da, schon in den ersten Parlamentsreden, zeigte der Löwe die Tatzen. Am 30. September tönte es drohend von der Ministerbank: »Eine Verfassung wird nicht gegeben als etwas Totes, wohl aber erst zu Belebendes; diese Praxis zu beleben, ist nicht rätlich, dann wird die Rechtsfrage leicht zur Machtfrage.«

Da wußte der kleinste Berliner Schusterjunge und der größte Fortschrittler: mit dem Manne dort oben war nicht zu spaßen. Der Konflikt war zur Machtfrage geworden.

Nun erhob Lassalle sich triumphierend. Jetzt würden den Herren der Fortschrittspartei doch wohl die Augen aufgegangen sein! Wieder sprach er vor liberaler Hörerschaft.

Am 17. November hielt er im Berliner Bürger-Bezirksverein den Vortrag: »Was nun?« Stolz wies er darauf hin, daß auch Bismarck sich zu seiner Theorie bekannt habe, daß Verfassungsfragen Machtfragen seien. Und indem er rücksichtslos der Fortschrittspartei die Anklage der Großsprecherei, der Feigheit und Kleinmütigkeit entgegenschleuderte, gab er als einzig wirksames Kampfmittel an, zu sagen, »was ist«. Die Kammer solle, solange die Regierung fortfahre, gegen das Geldbewilligungsrecht der Volksvertretung zu sündigen, streiken, einfach die Arbeit einstellen und dadurch die Regierung zwingen, formell vor aller Welt zu zeigen, was sie sei: eine absolute Regierung.

Damit werde die Regierung besiegt. Denn sie könne zwar die Verfassung, aber nicht den Schein der Verfassung entbehren.

Die liberale Partei wies seinen Rat aufs schroffste zurück. Sie hatte nicht den Mut zu gewaltsamem Widerstande, den beherztes Vorgehen gegen die Regierung im Gefolge haben konnte. Und just die Dunckersche Volkszeitung griff, ohne ihn zu nennen, den Urheber dieses Rates persönlich aufs heftigste an.

»Ein jeder, der in seiner Überspanntheit nach sogenannter Machtpolitik für die Volksvertretung hascht,« schrieb sie im Januar 1863, »leistet bewußt oder unbewußt der Reaktion sehr kostbare Dienste.«

Damit war das Band zwischen Lassalle und der Fortschrittspartei zerrissen.

Bei einem Diner, das er im Winter gab, waren von jener heiteren Tischrunde des Haschischabends nur noch Prietzel, Korff, Pfuel, Boeckh und Bülow geblieben. Die andern hatte der politische Wind verweht.

Doch die Feindschaft klärte die Lage. Jetzt endlich erkannte Lassalle die Vergeblichkeit aller Bemühungen, die Fortschrittspartei vor seinen Siegeswagen zu spannen. Und jetzt endlich, endlich ging er auf seinem Wege, ohne zu schwanken, ohne Abbiegen, stracks und gerade auf sein großes einsames Ziel los. Endlich stellte er sich auf nichts als auf seine eigene Kraft und erkannte – wie so mancher nach ihm – daß der Mann der stärkste ist, der allein steht.

Das Steinchen rollte. Für Liebessachen blieb keine Zeit.

Und doch stürmten sie gerade jetzt wieder auf ihn ein.

Hedwig Klingbeils erweckte junge Leidenschaft stellte ihre Ansprüche. Und am Tage nach seinem Angriff auf die Fortschrittspartei, als die Zeitungen ihn in Stücke rissen, als die früheren Freunde sich in heftigen Briefen von ihm lossagten, kam zu ihm leise eine Überraschung.

Er saß am Schreibtisch und las mit verächtlichem Lächeln diese Absagen. Da war auch ein Brief Strassers. Lassalle überflog ihn höhnisch. »Ich kann nicht umhin, Ihnen mitzuteilen, daß Ihr Vorgehen gegen unsere Partei mich aufs tiefste empört. Für den Fall, daß wir uns wieder in Gesellschaft oder sonst sehen sollten, erkläre ich Ihnen zu meinem Bedauern, daß ich in Ihnen einen persönlichen Feind sehen und danach handeln müßte. Das gleiche gilt natürlich von meiner Frau.«

Da meldete Friedrich, der im Laufe der Jahre ein vertrautes Faktotum geworden war, mit geheimnisvollem Staunen eine Dame.

»Wer denn?« fragte Lassalle unwillig ob der Störung.

»Die, welche früher so oft gekommen ist. Nun war sie ja jahrelang nicht hier.« Und mit intimer Wissermiene flüsterte er: »Ich habe sie in den Salon geführt und gesagt, ich müßte erst mal nachsehen, ob Herr Doktor nicht Besuch hat. Nach so langer Zeit kann man ja nicht wissen, ob Herr Doktor wieder anfangen wollen.«

»Sie sind ein genialer Männerkenner,« lachte Lassalle und schritt neugierig zur Tür. Es war einst ein buntes Bukett gewesen und nicht leicht zu erraten, welche Blume ihm neu erblühte. –

Wie damals in der alten Wohnung stand Marie Strasser im Salon unter dem Lüster. Doch sie breitete nicht die Arme in gebender Freude und verlangender Schönheit. Bleich und schmal, mit scheuem Lächeln stand sie da, die Arme matt herniederhängend. »Marie!« stutzte Lassalle in der Tür. »Du!«

»Ja,« sagte sie, und auch ihre wohltuende tiefe Altstimme war geblichen, »ich.«

Er war bei ihr und nahm wortlos ihre Hände.

Schmerzlich hastete sie hervor: »Ich habe heute früh die Zeitungen gelesen. Und Mittag schalt mein Mann so erbost auf dich und meinte, jetzt würde jeder anständige Mensch sich von dir zurückziehen. Da bin ich gekommen –« und sehr leise fügte sie hinzu: »daß du nicht so ganz allein bist.«

Da übermannte ihn die Erinnerung und die Rührung. Erschüttert küßte er ihr beide Hände und stammelte: »Du Liebe – Du Gute!«

Dann führte er sie in das Arbeitszimmer und setzte sie ganz zart in den tiefen Polsterstuhl, in dem sie oft gesessen hatte damals, als er ihr den Heraklit erklärte und Ovid und Properz mit ihr las.

Und stand vor ihr und blickte stumm auf ihr blondes schönes Haar, das das Gaslicht umsonnte wie einst – wie einst. Und alte Sehnsucht erwachte, und er sprach leise: »Marie, wie eine linde süße Erinnerung sitzest du da vor mir. Und wie eine Schuld. Ich glaube, ich war damals grausam zu dir. Ich hatte nicht das Verständnis für deine selbstlose große Liebe.« Er streichelte ihren Scheitel.

»Lieber,« hob sie die schönen schmerzgeweihten Augen zu ihm empor, »Männer, wie du, sind für uns Frauen ein schmerzliches Glück. Heute habe ich das längst erkannt. Und deshalb kann ich dir heute meine Freundschaft bringen.«

Ein Lächeln glitt über die scharfen Linien seines Gesichts. Er ging zum Schreibtisch. »Hier liegen die Briefe dieser Edlen,« höhnte er. »Auch dein Mann kündigt mir die Freundschaft – lächerlich – wir sind uns kaum alle Jahr einmal begegnet – und teilt mir mit, daß auch du nun meine Feindin seiest.« Da sagte sie einfach: »Ich habe dir gehört, immer, immer. Und werde immer bei dir sein, wenn du meiner bedarfst.«

Er trat wieder zu ihr, setzte sich auf die Lehne des Stuhls und legte den Arm um ihre Schulter. »Du Treue,« liebkoste er weich. »Ich danke dir. Doch ganz so einsam, wie diese Biederleute meinen, stehe ich denn doch nicht. Einige meiner Freunde sind mir geblieben. Und dann – die große Armee meiner wahren Freunde ist im Anmarsch.« Und stolz rief er: »Weißt du noch, Marie, wie ich immer sagte, meine Zeit wird kommen? Jetzt ist sie gekommen. Die Morgenröte meiner Zeit steht purpurn am Himmel. Jetzt wird es tagen. In allen Arbeitervereinen geht mein Arbeiterprogramm um. Es regt sich und gärt. Bald sollen die Herren Unternehmer von der Fortschrittspartei erbleichen unter dem Dröhnen der marschierenden Arbeiterbataillone.«

Sie bekannte in verehrender Schlichtheit: »Ich habe immer gewußt, daß dein Tag kommt.« Und plötzlich stand sie auf, umkettete seine Hände und flehte atemlos: »Wenn du je in Gefahr bist, wenn du einen Menschen brauchst in deiner einsamen Höhe, versprich, schwöre mir, daß du mich dann rufst. Sonst finde ich keine Ruhe. Immer treibt mich die Sorge umher, du bist allein, ohne Hilfe, ohne Nähe eines Freundes. Schwöre mir, daß du mich rufen wirst! Ich komme sofort – über tausend Hemmnisse hinweg. Aber schwöre es mir, sonst ist mir jede Stunde mit Qualen getränkt und Furcht und Bangen. Ich stehe am Fenster und horche hinaus nach deiner Not. Ich gehe täglich an deinem Hause vorbei und suche mit meinen Blicken die Wände zu durchbohren. Sag, daß du mich rufen wirst!«

»Aber, Kind,« beschwichtigte er, »was soll mir denn geschehen!«

Sie klammerte sich an seine Schulter und flüsterte mit brennenden Augen: »Ich habe solche Angst um dich!« Da lachte er auf in seinem sieghaften Fatalismus. »Ich bin unverwundbar wie Siegfried. Ehe mein Werk nicht getan ist, kann mich kein Speer des Schicksals verletzen.« Sie aber beharrte: »Versprich, daß du mich rufen wirst!!«

»Weshalb rufen? Jetzt, da du den Weg wieder zu mir gefunden hast, wirst du doch oft kommen, Marie!«

Sie schüttelte mild den blonden Kopf: »Nein, Ferdinand, das kann ich nicht.«

Da ward es ganz still im Zimmer.

Er fragte nicht, bat nicht, drängte nicht. Er verstand und ehrte ihre Pflichtentreue.

Endlich sagte er: »Wenn ich einmal niederbreche und ganz einsam bin, will ich dich rufen, Marie. Aber ich glaube nicht, daß wir uns dann je wiedersehen werden.«

Da riß sie sich mit tragischer Kraft von ihm. »So will ich es freudig tragen, dich niemals wieder zu sehen.« – –

An diesem Abende, an dem die von ihm ging, die alle Fesseln sprengen und zu ihm eilen wollte in der Stunde der Gefahr, begegnete er ihr, die dereinst die bitterste Not seines Lebens werden sollte.

An diesem Abende besuchte Lassalle seinen Freund und Anwalt Holthoff. Der Termin der Hauptverhandlung stand bevor. Der Anwalt lud den Klienten zum Abendbrot. »Wir haben noch einen Gast,« suchte er Lassalle neugierig zu machen, »Fräulein Helene von Dönniges, die darauf brennt, Sie kennen zu lernen.«

Geschmeichelt blieb Lassalle.

Als die Herren aus dem Bureau in die Wohnung hinüberkamen, ward Lassalle einer großen, schlanken Dame mit geschmeidiger Fülle der Glieder vorgestellt. Überrascht bohrten sich seine Augen in dieses erstaunlich schöne Gesicht.

»Guten Abend, Herr Lassalle,« grüßte sie burschikos und gab ihm die Hand. »Endlich sehen meine Augen Sie. Meine Ohren haben schon oft genug von Ihnen geklungen.«

Ihre innere Freiheit gefiel ihm. »Seien Sie bloß einen Augenblick still!« gebot er ebenso munter, »meine Augen sind so voll beschäftigt, daß meine Ohren ruhen müssen.«

»Bitte sehr,« lachte sie, »bedienen Sie sich!«

Mit ungenierter heiterer Gründlichkeit durchforschte er ihre wundersame Schönheit.

Doch Lassalles scherzhafte Stimmung erstarb langsam. Bitterernst starrte er in ihr bleiches, scharfgeschnittenes Gesicht, über dem das rotgoldene Haar lohte wie Feuerbrand.

Da stieß Frau Holthoff ihren Mann an: »Aber, sieh doch, Aurel, sie sehen sich ja sprechend ähnlich!«

»Mir fiel es auch schon auf,« staunte der Anwalt.

Auch Lassalle hatte es bemerkt. »Seltsam,« sagte er leise, »einmal schon bin ich einem Weibe begegnet, das hatte meine Augen. Diesmal finde ich eins, das hat meine Züge.«

»Wir haben vielleicht beide ein Allerweltsgesicht,« lachte Helene von Dönniges, Widerspruch herausfordernd.

»Ihr!« entsetzte sich Frau Holthoff.

Lassalle tauchte noch immer hinein in diese flimmernden Augen mit ihrem unbestimmbaren Schmelz von Grün und Blau und Grau. Sie sprühten von Geist und Sinnlichkeit. »Sie sind unheimlich,« erklärte er in seiner dreisten Offenheit. »Sie gleichen den Nixen der nordischen Sage, die aus der verborgenen Tiefe schwarzumrauschter Waldseen emporsteigen, die Sterblichen zu beglücken und zu verderben.«

»Nanu!« lachte Holthoff.

Helene aber funkelte ihm grüne Flämmchen entgegen aus den Augen, die plötzlich etwas vom Raubtier hatten, und lachte mit ihrem gefrierend klirrenden Lachen: »Haben Sie den Mut, sich der Nixe zu nahen!«

Da zerbrach die liebenswürdige, brave Frau Holthoff das Gespenstige der Frage. Sie überwand ihren Schauer und scherzte: »Herr Doktor Lassalle wird den Mut wohl oder übel haben müssen, denn er soll Sie nun zu Tisch führen.«

Beim Abendessen sprach man von Lassalles Vorträgen, von der Politik, von Herrn von Bismarck und hundert anderen Dingen.

Doch nachher, als Lassalle Fräulein von Dönniges nach Hause begleitete, kam wieder die tolle Laune über beide. Kaum hatte die Korridortür sich hinter ihnen geschlossen, da peitschte Lassalle sie auf: »Ich habe den Eindruck, Sie überrascht nichts.«

»Wenig,« gestand sie.

»Auch das nicht?« lachte er hell auf, umfaßte ihre Glieder und trug sie hocherhoben die Treppe hinab.

»Nein,« bekannte sie gelassen. »Ich bin. es gewöhnt, auf Händen getragen zu werden.« Wie eine Wildkatze hing sie an seinem Halse und preßte den Leib an seine Brust. Unten im Hausflur setzte er sie nieder und küßte sie keck auf den gierigen feuchten Genießermund. Sie verbiß die Zähne in seine Lippen, daß ihm das Blut heraussprang.

Und als sie dann Arm in Arm durch die Straßen wanderten, erzählte sie ungeniert von ihrem wilden Leben in Nizza, wo sie einen jungen russischen Seekadetten, Paul von Krusenstern, geliebt hatte – ah, geliebt! Sie ließ die schweren Lider halb herabsinken in einer schamlosen, vergehend wollüstigen Erinnerung. Es war Lassalle, als atme ihm plötzlich eine beklemmende Schwüle mänadischer Ekstase von ihrem üppig straffen jungen Busen zu. Er legte den Arm um ihren Leib, der sich weich und lebendig unter dem Jackett bewegte.

Da lachte sie auf. »Ach, und in Tegernsee! Da nannten mich alle »Die Nixe vom Tegernsee!«

»Du scheinst schon recht bunt erlebt zu haben,« erriet Lassalle.

Sie reckte den Körper unter dem Druck seines Armes. »Ja,« dehnte sie sich, »ich will auch nicht dasitzen und zusehen, bis ich in die Ehe hineintorkele. Ich will leben und genießen und mich hingeben und nehmen!« Sie krallte die Finger wie Raubtierfänge.

»Das sind lobenswerte Grundsätze,« billigte Lassalle. »Wann darf ich auf deinen Besuch rechnen? Ich wohne Bellevuestraße 13.« Sie überlegte.

»Es wird nicht gehen. Ich bin hier zu Besuch bei meiner Großmutter, Frau Wolf. Meine Eltern wohnen in Bern, mein Vater ist dort bayerischer Gesandter. Großmama beaufsichtigt mich streng, sie hat immer sehr über die ›Verwahrlosung‹ geschimpft, in der meine guten Eltern mich haben aufwachsen lassen.« Sie lachte gespenstisch, und ihre Augen züngelten. »Aber ich habe sie doch betrogen, ich habe mich verlobt.«

»Ah,« machte Lassalle ohne Staunen.

»Nichts von Bedeutung,« beruhigte sie. »Ein guter, lieber Junge, fast ein Knabe. Ein Student aus der Wallachei. Janko von Rakowitza heißt er. Aber er weiß, daß ich ihn laufen lasse, wenn ich etwas Besseres finde.«

»Deine Grundsätze entzücken mich,« lobte Lassalle spöttisch belustigt. »Also, ich harre deiner. Denn ich huldige ähnlichen Prinzipien. Wir werden uns ausgezeichnet verstehen.«

Sie standen vor dem Hause.

»Es wird nicht gehen,« schüttelte sie den Kopf, daß ihr goldenes Geflimmer unter dem chicken Hute wie ein Feuerreif knisterte. »Man beobachtet mich zu gut.«

»Doch der Wallache!« bedeutete Lassalle.

»Der kommt zu uns ins Haus. Ich gebe vor, daß er mir Unterricht erteilt in den alten Sprachen.«

»Das tut er doch auch,« lächelte Lassalle. »Er unterrichtet dich in der allerältesten Sprache der Menschheit. Gut, dann werde ich auch meinen Besuch machen. Ich glaube, ich bin ein ziemlich gewiegter Lehrmeister.«

»Das glaube ich auch,« sie räkelte lüstern die Brüste gegen das Jackett. »Aber es geht nicht. Ich sprach neulich von dir – Boeckh hatte bei einer Bekannten von dir geschwärmt. Aber das Entsetzen von Großmama! Das hättest du sehen sollen. Du seiest ein Revolutionär und Umstürzler und Feind der Fortschrittspartei und ein Dieb und Räuber.« Und sie schmiegte sich an ihn und glitzerte ihn aus grünlichen Augenschlitzen an: »Bist du ja auch, du Dieb und Räuber meiner Ruhe: für diese Nacht.« Damit ging sie ins Haus.

»Auf Wiedersehen,« rief er ihr anzüglich nach.

Da wandte sie sich um und geisterte ihm unheimlich zu: »Wir werden uns wiedersehen!«

Dann verschwand sie auf der Treppe. Lassalle aber ging beklommen heim. Ein gespenstisches Gefühl saß ihm im Nacken.

Doch am nächsten Morgen hatte er die Begegnung vergessen. Denn am nächsten Tage stand er vor Gericht und wurde trotz seiner glänzenden Verteidigung zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Als er mit Holthoff über die Einlegung der Berufung beriet, fragte ihn dieser nebenbei, wie ihm Fräulein von Dönniges gefallen habe, sie scheine ihm die passende Frau für ihn.

Da hob Lassalle abwehrend die Hände: »Nein, lieber Freund, mein ehemännliches Selbstgefühl würde mir bei dieser Wassernixe zu sehr verwässert werden.«


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