Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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VIII.

Trübe und schmerzhaft schlichen die Tage in Aachen dahin. Die Bäder strengten ihn an, die Massage war äußerst peinvoll, wie ein Krüppel mußte er sich oft von den Quellen ins Hotel in einer Sänfte tragen lassen. Mit bitterer Beschämung sah er dann vor sich nieder auf die Straße. Da schleppten sie ihn dahin, siech, morsch, niedergebrochen, ihn, der sich hochmütig zum Messias des neunzehnten Jahrhunderts erkoren fühlte, der mehr als Menschenkräfte brauchen würde für sein gewaltiges Werk! Böse bange Stimmungen quälten ihn in seinem öden Hotelzimmer. In solcher Niedergeschlagenheit schrieb er an den Freund von 1848, den in London in der Verbannung lebenden Dichter Freiligrath:

»Nun wird es Nachmittag! Das Gefühl verstehe ich gar sehr! Verstehe es um so mehr, als ich mich, ich weiß nicht mit welchem Recht, so lange für den Repräsentanten der ewigen Jugend gehalten habe und nun seit einiger Zeit einzusehen anfange, daß es mir auch geht wie Jedem. Zwar bin ich kaum auf dem Mittag des Lebens, bin noch jung; aber das Alter naht mir in Form von Krankheit. Wo ist jene unbesiegbare, Alles verlockende Jugendkraft hin! Seit Monaten leide ich sehr und muß mich gewöhnen, krank zu sein und nicht mehr allmächtig über mich, wie sonst! Die Seele, da hast Du recht, die bleibt ungebeugt!

*

Nein, auch die Seele war gebeugt. Er lag auf seinem Schmerzenslager, dachte hypochondrisch an den kranken Heine und fing Grillen. Er langweilte sich. Verkehr wollte er im Hotel nicht anspinnen. Eine wilde Sehnsucht nach der Gräfin packte ihn. Mühselig erhob er sich, schleppte sich ächzend zum Tisch und schrieb ihr: »Komm, komm bald!«

Ja, sein Feuergeist langweilte sich. Sein Temperament war nicht auf langwierige Badekuren gestimmt. Plötzlich aus der monatelangen überhitzten Arbeit herausgerissen, suchte sein unbeschäftigter Geist nach Betätigung, Beschäftigung, Ablenkung. Und fand sie. Er verliebte sich. Verliebte sich mit der ganzen Glut seiner ungezügelten Leidenschaft. Er, der Frauenverächter, liebte. Zweimal in seinem frauenholden Leben hat er geliebt. Und jetzt und später knüpften sich die Fäden an, als er Erholung suchte nach stürmischer Arbeit. Etwas in ihm mußte immer sieden: ruhte das Hirn, so raste das Herz.

Ja, er verliebte sich, toll, brausend, kopflos verloren wie ein Primaner. Denn es war, trotz seiner Fünfunddreißig, trotz der Glut, die einst die reife Sehnsucht der Gräfin Hatzfeld umloht, trotz aller raffenden Abenteuer, seine erste große Liebe!

Im Wagen sah er sie zuerst, im Entschwinden. Schwer auf seinen Robespierre gestützt, kehrte er eines Nachmittags vom Bade heim. Da saß sie im Wagen vor der Tür eines Hotels, die Hausknechte luden die Koffer auf den Kutschbock. Betroffen blieb Lassalle stehen. Minutenlang starrten sie sich in die Augen. Ohne Scheu, ohne Scham.

»Meine Augen,« erkannte er überrascht, »sie hat meine Augen!« Und starrte und starrte. Da trat ein Herr in mittleren Jahren aus der Hoteltür, stieg zu der jungen Dame in den Wagen, der Schlag schlug zu, die Pferde zogen an. – Mit einem schier körperlichen Schmerz wurden ihre Blicke auseinandergerissen. Er blickte dem offenen Wagen nach, das dumme junge Weh des unwiederbringlichen Verlustes wund in der Brust. Wird sie zurückblicken? Wird sie –? Da biegt der Wagen um die Ecke – ganz wenig wendet sie den Kopf mit den sprechenden Augen – vorbei. –

Lange suchte der Mann in der Leere, die hinter dem Wagen sich bleich geöffnet hatte. Dann raffte er sich auf und schleppte sich schwer seinem Hotel entgegen. »Dummheit,« murmelte er, »knabenhafte Torheit. Die berühmte Liebe auf den ersten Blick! Ich bin doch kein Narr.« Er stieg hart auf den Stock gestützt zu seinem Zimmer hinauf, legte sich auf das Kanapee und griff zu Friedrich Engels' Broschüre »Po und Rhein«. Doch das Buch sank herab. Er sah plötzlich ihr zartes bleiches Gesicht mit den unverkennbar slawischen Zügen. Ein dummes, dummes armes Weh war da in der Brust. Eine unnennbar törichte Sehnsucht, die fühlte, daß weinen gut tun kann. Unfug! Ein Gesicht! Er hob Engels' Broschüre vor die Augen und las. Und verstand kein Wort von diesem politischen klaren Wägen, das ihm so nahe ging.

Und noch am nächsten Tage gärte eine schmerzende Sehnsucht unter seinem Denken und Empfinden. – –

Am Abend des folgenden Tages saß sie im Musiksalon des Hotels und sang Lieder von Glinka. Lassalle hörte im Lesezimmer die Stimme, erhielt einen Stoß in die Herzgrube, wußte: das ist ihre Stimme – taumelte bleich und fassungslos zur Glastür des Musiksalons und umkrallte die Klinke mit eisigen Fingern.

Lassalle glaubte weiß Gott nicht an Zeichen und Wunder. An hypnotische Kräfte glaubte er und hatte oft in Berlin seinen Kreis mit magnetischen Kunststückchen unterhalten. Doch Wunder – nein!

Aber dort saß das Wunder an dem verstimmten Hotelpiano und sang seine russischen Lieder.

Lassalle zerrte sich zusammen, öffnete lautlos die Tür, trat leise ein und schlich auf den Zehenspitzen zu einem Stuhle und sank hinein. Er kauerte so, daß er ihren Rücken sehen konnte und das milde Profil. Leicht nach vorn über die Tasten gebeugt, saß sie, die Schultern atmeten rund und lebendig unter dem grünseidenen Kleide.

Als das Lied verklang, wendete sie sich zu ihm um. Sie erkannte ihn sofort wieder.

»Störe ich?« fragte er verbindlich auf französisch.

»Lieben Sie Glinkas Lieder?« kam ihre deutsche Gegenfrage. Sie sprach mit stark slawischem Akzent.

»Ich habe sie nie gehört,« gestand er. »Doch Ihre Stimme klingt mir ins Ohr wie alte Erinnerung.« Sie lächelte nur und sagte: »Soll ich noch singen?«

»Ich bitte Sie sehr darum, mein Fräulein.«

Sie begann ein neues Lied. Doch mitten im Takte brach sie ab, schwang sich auf dem Drehsessel zu ihm herum und sagte mit einem neckenden Zucken um den großen klugen Mund: »Es ist kein Wunder, daß ich wieder hier bin.«

»Es ist manches ein Wunder, was man vernünftig erklären kann,« lächelte Lassalle. »Sie werden sagen, Sie hatten etwas in Aachen vergessen oder dergleichen. Kann das etwas von dem Wunder erhellen, daß ich Ihnen nun plötzlich gegenübersitze?«

»Wir hatten die Absicht, über Brüssel nach Paris zu fahren,« gab sie Bescheid. »Doch in Brüssel fühlte Papa sich so elend, daß wir die Pariser Reise aufgaben und beschlossen, nach Rußland zurückzukehren. Hier wollen wir noch einen Tag rasten. Da in unserem Hotel kein Platz war, kamen wir hierher ins Hôtel Grand Monarque. Voilà tout.«

»Und diese Verkettung bedauerlicher und beglückender Zufälle soll kein Wunder sein!« scherzte Lassalle. »Ich habe damals gleich geahnt, daß wir uns wiedersehen würden.«

»Ich habe es nicht geglaubt,« schüttelte sie die Haarkrone, die aufglänzte in ihrer schwarzblauen metallischen Schönheit.

»War es nicht seltsam, wie wir uns dort auf der Straße begegnet sind!«

»Ihr Gesicht hat mich interessiert,« wich sie kühl zurück.

Eine heiße Glut glomm in Lassalles bleichen Wangen auf. Nach einer kleinen Pause sagte er steif: »Gestatten Sie übrigens, daß ich mich Ihnen vorstelle. Mein Name ist Ferdinand Lassalle.«

Sie nickte dankend und gab Bescheid: »Ich heiße Sophie Adrianowna de Solutzeff.«

»Erzählen Sie mir von Ihren Beglückungstaten, Fräulein von Solutzeff,« sagte er plötzlich.

»Meinen Beglückungstaten?! Wer hat Ihnen von diesen erzählt?!«

»Ihre Augen.«

»Sie sind ein scharfer Beobachter,« lobte sie. »Beglückungstaten ist freilich ein viel zu großes Wort. Aber Sie haben recht, ich möchte beglücken!« Sie reckte die festen jungen Arme. »Ich habe eine Aufgabe.«

»Erzählen Sie.«

Sie blickte in das stolze Cäsarengesicht mit den blauen Prophetenaugen da vor ihr und dachte: nie hatte ich solch verstehenden Hörer. Und sie erzählte, während eine zarte Röte der Inbrunst ihre schmalen Wangen überhauchte: »Ich bin auf dem Lande aufgewachsen, inmitten der eigenartigen kleinrussischen Natur in unserem herrlichen südlichen Klima. Unser Haus versank in dem Grün des wunderbar großen Gartens, voller Blumen und Pflanzen. Hinten floß der breite Strom. Wir haben wohl fünfhundert Seelen. Sie wissen, wir Russen rechnen unseren Besitz nach – –«

Er nickte.

»Alle die Kinder unserer Leibeigenen kenne ich und liebe sie. Sie freuen sich, wenn sie mich sehen. Als ich noch Unterricht hatte, habe ich alle meine freie Zeit unter ihnen verbracht, habe die Säuglinge gewaschen und gereinigt, ihnen die Mücken und Fliegen verscheucht, mit den größeren Kindern habe ich gespielt und meinen Altersgenossen übermittelt, was ich selbst lernte. Sie hörten gern zu, lernten bei mir lesen und schreiben und liebten mich sehr. Ich habe mich dann auch, als ich älter wurde, für die sozialen Verhältnisse unserer Bauern interessiert, ihre Arbeit, ihre Entbehrungen, ihr Kummer gingen mir nahe. Und ich schwärmte von der Zeit, da sie nicht mehr leibeigen sein würden. Nun ist, während unseres Aufenthaltes im Auslande die Befreiung der Bauern beinahe Tatsache geworden. Aber wieviel Finsternis und Barbarei mit ihrem ewigen Gefolge der Bettelarmut und des Elends ist noch da! Und« – ihre schwarzen Augen blühten auf – »ich möchte unseren Bauern etwas Licht in die dunklen Wohnungen bringen. Sie durch Bildung erziehen – die Jugend, die reifende Generation. Die Krankheit meines Vaters hat mich aus meinen Plänen und Beschäftigungen herausgerissen, aber im Auslande habe ich mir gründlich angesehen, was dem Elementarunterricht dient, und ich werde meine Beobachtungen nach meiner Heimkehr für meine Zwecke nutzbar machen. So hoffe ich, wenn auch nur in einem kleinen Kreise, ein wenig Glück verbreiten zu können.«

Sie verrankte die Hände um ihr Knie.

»Aber – aber – das ist doch wundervoll, Fräulein von Solutzeff!« stammelte Lassalle hingerissen. »Ich sehe Sie inmitten dieser Kinder im russischen Nationalkostüm« – »Das ich besitze,« schaltete sie ein.

»Prächtig bodenständig müssen Sie darin aussehen! Nein, nein, was lerne ich da in Ihnen kennen!«

»Es ist nicht allzuviel,« schränkte sie seinen Enthusiasmus ein, »aber immerhin habe ich eine Lebensaufgabe, die das Leben eines Mädchens lohnt, Herr von Lassalle.«

Er lächelte. »Nur Lassalle, bitte. Ich habe die Ehre, nicht adelig zu sein.«

»Wie?« fragte sie.

»Bürgerlich von Geburt,« erklärte er, »zum Volk nach meinem Herzen mich rechnend, habe ich weder das Recht, noch die Lust ein ›von‹ zu führen, das der unterscheidende Titel der Familien ist, welche sich deshalb adelig nennen, weil sie im Besitze irgend eines kleinen Dorfes oder Landgutes waren, dessen Name mit einem ›von‹ den Besitz oder die Abstammung bekundete. Da mir aber nichts Geringeres als die ganze Welt gehört, so kann ich nicht jene Vorsatzsilbe annehmen, noch will ich meinen Ursprung und Besitzstand durch dieses Abzeichen verkleinern.«

»Ah,« machte sie. »Sie sind stolz.«

»Ja,« warf er den schönen Kopf zurück, »sehr. Und ich hoffe, es auch einmal mit Grund zu sein.«

Sie erhob sich. »Jetzt muß ich mich zu Tisch umkleiden.« Sie stand vor ihm, fast klein, aber sehr proportioniert gewachsen.

»Schade,« bedauerte er, »es plaudert sich mit Ihnen so gut. Doch wenn für jetzt geendet sein muß, wollen wir lieber gewaltsam mitten in der Unterhaltung schließen. Ich liebe dieses Abreißen. Wenn ich Musiker, Komponist wäre, würde ich nie eine Dissonanz auflösen.«

Sie zögerte. »Das interessiert mich, was Sie da sagen. Wir sind doch alle Komponisten der Melodie unseres Lebens. Wollen Sie auch da die Dissonanzen nicht harmonisch auflösen?«

»Bisher habe ich auf die Harmonie meines Lebens keinen Wert gelegt,« sagte Lassalle und sah ihr bedeutungsvoll in die Augen.

Sie gab ihm die Hand. »Auf Wiedersehen, nachher. Bürger Lassalle.« Und lachend ging sie hinaus mit ihrem Gang, der weich und rhythmisch war wie ein einsames Lied in der weiten russischen Steppe. –

Bei der table d'hôte saß Sophie Adrianowna an der gegenüberliegenden Seite der Tafel, weit von Lassalle getrennt. Seine Augen fanden sie sofort, als er eintrat. Zu ihrer Linken Lächelte die verbindliche Vornehmheit des Vaters, des Gouverneurs. Von der anderen Seite redete ein junger Herr eifrig auf sie ein. Lassalle merkte, daß er beim Sprechen oft die Augen zu ihm hinüberwandte. Und plötzlich sah Sophie Adrianowna zu ihm herüber mit forschender Bewunderung in den schwarz glänzenden Augen.

»Er hat ihr erzählt, wer ich bin,« dachte Lassalle und beschäftigte sich in geheuchelter Gleichgültigkeit mit seinem Beefsteak.

Nach dem Diner trafen sie wieder in dem einsamen Musiksalon zusammen. Sie stellte ihn dem Vater vor. Eine Weile unterhielt Lassalle sich mit dem Gouverneur auf französisch über die wunderbaren Erfolge Garibaldis. Er war als Sieger in Palermo, in Neapel eingezogen, hatte die Bourbonen aus ihren italienischen Königreichen vertrieben und Viktor Emanuel die Kronen von Neapel und Sizilien aufs Haupt gesetzt.

»Man sieht,« ereiferte sich Lassalle, »daß wirkliche nationale Erfolge nur durch die revolutionäre Partei als solche erlangt werden.«

»Oh, mais non, Monsieur!« rief der Gouverneur und erhob sich mit der Entschuldigung, daß sein Zustand die Bettruhe erfordere. »Du kannst noch bleiben, Sophie,« gewährte er freundlich, »du bist ja auch so ein Stückchen Revolutionärin.«

Kaum hatte die Tür sich hinter ihm geschlossen, da beugte Sophie Adrianowna sich in ihrem Stuhle zu ihm vor und sagte mit flimmernden Augensternen: »Ich habe ja gar nicht gewußt, Herr Doktor, welch berühmter Mann Sie sind.«

»Man hat Sie aufgeklärt,« lächelte er geschmeichelt. »Ja, mein Tischnachbar erzählte, Sie seien ein berühmter Philosoph. Noch größer aber sei Ihr Ruhm als Empörer. Sie hätten in der Revolution von 1848 eine große Rolle gespielt.«

»Ich habe meinen Teil beigetragen,« tat Lassalle bescheiden. »Aber was will das sagen, Fräulein von Solutzeff! Die Taten, um deretwillen Sie vielleicht noch einmal stolz sein werden, mit mir hier in diesem stimmungslosen Musikzimmer geplaudert zu haben, werden erst noch kommen.«

Er schwieg. Seinen Worten hallte eine tönende Stille nach.

»Sie machen mich sehr neugierig,« bekannte Sophie Adrianowna.

»Ihnen kann ich davon sprechen, Fräulein von Solutzeff,« dabei rückte er seinen Stuhl näher zu ihr hin.

»Das ist sehr ehrenvoll für mich,« lächelte sie, »zumal Sie mich doch erst seit Stunden kennen.«

»Es ist folgendes.« Lassalle deckte nachdenkend die Hand über die Augen.

»Ist es Ihnen, Sophie Adrianowna, noch nie als eine empörende Ungerechtigkeit erschienen, daß wir beide in diesem luxuriösen Hotel hier sitzen, Sie in diesem entzückenden lila Kleide mit dem wunderfeinen Kollier, das ein uraltes Familienerbstück sein muß?«

Sie nickte. »Es stammt von meinen fürstlichen Ahnen.«

»Wir sitzen hier und tun uns gütlich, und draußen in allen Weltgegenden zucken Millionen in Elend und bitterster Not. Millionen, die vom Morgen bis zum Abend scharwerken und fronden – für andere, für den Kapitalisten. Haben Sie daran noch nie gedacht?«

»Nein,« gestand sie ehrlich. »Ich habe stets nur in meinem engen Kreise herumgedacht. Aber, was Sie da sagen – – sprechen Sie weiter!«

»Mein Lebenswerk ist nun,« hob er feierlichernst die Stimme, »diesen Enterbten ihr Recht zu geben!«

Sie sah ihn überrascht an. »Das ist aber viel.« sagte sie nach einer Pause.

»Sehr viel. Das Größte, was die Zeit gebären kann. Aber ich werde es, Sophie Adrianowna, ich werde es vollbringen. Sie werden schon jetzt wissen, ob ein Schwätzer so spricht wie ich. Ich kann Ihnen heute noch nicht meinen Weg im einzelnen darlegen. Ich sage Ihnen ehrlich, ich kenne ihn noch nicht. Ich bin noch mitten in den Vorbereitungen. Sie begreifen, daß es eine ökonomische Revolution ist die ich vorbereite. Ich arbeite seit Jahren jetzt in der Wissenschaft der Volkswirtschaft. Habe eigentlich immer darin gelebt. Seit 48 bin ich mit Marx intim befreundet, den Namen kennen Sie?«

Sie nickte. »Er ist der Verfasser des kommunistischen Manifestes.« –

»Ganz recht. Er und Friedrich Engels. Er hat den Grundstock des ökonomischen Wissens in mir gelegt. Doch damals war ich nur politischer Revolutionär. Seit ich bewußter sozialer Revolutionär geworden bin, habe ich mit ganz anderem Klarblick die Fäden unserer Volkswirtschaft verfolgt. Jetzt gerade habe ich ein enormes grundlegendes Werk über das Recht der Revolution beendet. Und jetzt wird die praktische Agitation beginnen. Und das weiß ich heute schon, diese ganze Revolution wird den Umsturz eines einzigen ehernen ökonomischen Gesetzes zum Ziele haben. Dieses Gesetz ist das von Ricardo, einem englischen Ökonomen, formulierte Lohngesetz. Das wird der Kernpunkt meiner Revolution sein, das Joch dieses Gesetzes von den gebeugten Schultern der Arbeiter zu nehmen.

Nun kennen Sie meinen Lebensplan.«

Er sank in das Polster des Sessels zurück.

Sie schwieg und sah zu ihm voll entflammter Bewunderung hinüber. Und plötzlich sprang sie auf, kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Sie sind ein edler, großer Mensch, Herr Lassalle, das fühle ich.« Ihre Lippen bebten. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, es macht mich stolz.«

Er preßte innig ihre Hand. »Wir sind Kampfgenossen,« lächelte er. »Auch Sie haben Ihren Kampf um das Glück der Armen.«

Sie blieb vor ihm stehen. »Ja, ja gewiß. Aber in wie kleinen Grenzen! Sie werden das Elend der Welt befreien.«

»Ich kämpfe zunächst nur für das deutsche Elend.«

»Ja, aber das Beispiel muß wirken. Es muß weiter über die Grenzen aller Länder greifen. Sie werden die Welt befreien.«

»Ja,« entgegnete er, jeden Zweifel vernichtend.

»Und Sie werden Ihr Ziel erreichen,« sprach sie glühend, »Sie werden es erreichen. Ihre Augen sagen es, Ihre Stirn. Oh, wie gering scheine ich mir plötzlich. Wie war ich stolz auf meine Arbeit, und wie ist sie nichts neben Ihrer Aufgabe!«

»Es kommt nicht auf den Kreis an, den wir beglücken,« belehrte er ernst, »sondern auf den Trieb in uns, überhaupt zu beglücken. Und daß Sie diesen Trieb haben, Sophie Adrianowna, das macht uns zu Kampfgenossen.«

Sie schwieg einige Augenblicke. Dann verklärte sich ihr intelligentes Gesicht, das Herbe in den Zügen wurde weich und lieblich, als sie sprach: »Wenn ich jetzt unter meinen Bauernkindern arbeite, ihnen meine europäische Bildung übermittele und sie aus dem tierischen Vegetieren herausreiße, dann werde ich immer daran denken, daß fern im Westen auch einer ist, der sein Leben für das Glück der Armen hingibt. Das wird mir eine Hilfe, ein Stolz und eine Ermutigung sein.«

Da stand auch Lassalle. Seine Schmerzen waren verflogen. Mit einer großen segnenden Geste legte er beide Hände auf ihre zuckenden Schultern und sagte:

»Ich segne meine Krankheit, die mich gezwungen hat, nach Aachen zu reisen, und mir dadurch in diesem melancholischen und traurigen Dinge, das man Leben nennt, eine so traute Begegnung verschafft hat.«

Und plötzlich wurden seine hellen Augen feucht. Sie sah es und beugte das schwarze Haupt. So standen sie zeitlos. In ihm wühlte ein verzweifelter Schmerz, daß sie da weit, weit im Osten irgendwo, fern von ihm ihr Werk tun würde. Unerreichbar fern. Ihm war es plötzlich, als würde er arm und hilflos werden, wenn er sie verlöre. Als ginge mit ihr die Kraft zu seinem Werke von ihm. Und fast ohne Willen flüsterte er: »Ich habe Sie lieb, Sophie Adrianowna, ich habe Sie sehr lieb.«

Da riß sie sich aus dem schwingenden Bann.

»Nun muß ich gehen,« sagte sie scheu und gab ihm die Hand. »Gute Nacht, lieber Kampfgenoß.«

»Gute Nacht, Sophie Adrianowna. Und heute nacht wollen wir nicht von dem Glück träumen, das wir den anderen bringen werden, sondern von dem Glück, das für uns das Leben in seinem reichen Füllhorn birgt.« – – – – – –

Lange, lange ging der Doktor in dieser Nacht in seinem Zimmer auf und nieder. Er sah ihr kluges verklärtes Gesicht und hörte ihre linde Stimme in diesem schwermütigen slawischen Tonfall. Und seine fünfunddreißig Jahre mit ihrer Angst des Alterns bangten in ihm. Mit einem Male schien ihm sein Berliner Leben so leer und so trostlos öde. Und so banal und schal und würdelos seine brutalen Liebeleien. Und aller Hochmut vor dem Weibe war vergessen und alles Pochen auf Freiheit und Einsamkeit war eine Phrase geworden.

Er ging im Zimmer einher, die Finger verzweifelt verkettet, und taumelte vor Angst, sie möchte sich weigern – sein Weib zu werden. Er hob die verkrampften Hände empor zur Decke, und in dem töricht kindlichen Wähnen, daß der Geist seines Lebens ihn hören könne, flüsterte er inbrünstig wie im Gebet: »Laß sie mich lieben – laß sie mich lieben!«

Und in jähem Umschwung seiner Verzagtheit malte ihm sein Selbstvertrauen die Zukunft. Er sah sie in seiner Wohnung in der Bellevuestraße. Ihre junge kluge knabenhafte Zierlichkeit huschte erhellend durch seine schönen Räume. Sie saß ihm gegenüber am Schreibtisch. Wie wird das Arbeiten leicht und licht sein, schwärmte er wie ein Zwanzigjähriger. Welch ein Gefährte wird sie meinem Werke sein, sie, die selbst Messiaspläne in der Brust trägt. Welch ein kluger verstehender Helfer wird sie sein! Und plötzlich wußte er, daß ohne ihre fördernde Gegenwart sein Werk niemals gelungen wäre, niemals. Jetzt machte sie in dem weiten Eßsaal an seinem Tisch die Honneurs des Hauses, und seine Gäste, Duncker und Dohm und Pfuel und Pietsch und Korff, Prietzel, Bülow und der weise Boeckh, alle, alle hingen, Zustimmung lächelnd, an ihrem jungen Munde, der alte Weisheit sprach.

Oh, und ihre stillen Stunden, wenn die Leidenschaft, die noch in den schwarzen Augen und um den großen sinnlichen Mund schlummerte, aufloderte unter seinen Erweckerküssen! Wenn der Kampfgenosse Weib ward, selig verzücktes hingebendes jubelndes gewährendes Weib! Sein Weib. Sein, sein Weib!

Er rannte durchs Zimmer und rang die Hände und flehte zu dem Geist seines Lebens um ihre Liebe, bis fröstelnd der graue Septembertag ins Zimmer kroch. –

Als er sich ankleidete, mit noch größerer Sorgsamkeit als sonst, brachte der Kellner ein Telegramm von der Gräfin. Es war in Köln aufgegeben und kündete ihre Ankunft für den Vormittag an.

Verständnislos blickte Lassalle auf das Papier nieder. Es dauerte geraume Zeit, bis sein verflattertes Hirn sich entsann, daß er ihr Kommen vor wenigen Tagen dringend erbeten hatte.

Ärgerliche Gedanken wühlten in ihm, während er vor dem Spiegel die schwarze Krawatte knüpfte.

Die »gute« Gräfin! Jetzt! Teufel, wie zur Unpaß erschien sie mitten in diesem aufkeimendem Blütentraum! Was tun? Sie zurücksenden war unmöglich. Es war doch eine böse Last, die er sich mit dieser alternden Frau aufgebürdet hatte! Und wie sollte das werden, wenn er heiratete! Würde sie sich klug in das Unvermeidliche fügen, zurückgedrängt zu werden von der jungen Liebe? Es war eine peinliche Bürde. –

Vergeblich spähte er im Frühstückszimmer nach der jungen Russin aus. Auch im Lesesaal und Musiksalon fand er sie nicht. Endlich wagte er eine Anfrage an den Portier. Da erfuhr er, daß Herr von Solutzeff mit Fräulein Tochter eine Wagentour unternommen hatte und vor dem Mittagsmahle nicht zurückkehren würde.

Mißmutig griff er zu den Zeitungen, die er während seiner Kur noch nicht berührt hatte, und schlenderte dann, Grimmfalten in der Stirn, zum Bahnhof.

Beglückt, heimlich sein Knie kosend, saß die Gräfin neben ihm im Wagen. Seine einsilbige Bedrücktheit schob sie mitleidsvoll auf die Leiden seiner Krankheit. Und sie erzählte, wie einsam es in Berlin gewesen, wie sie sich nach ihm gebangt und sich gesehnt habe, ihn zu pflegen und zu hegen in seiner schmerzhaften Hilflosigkeit.

Er schwieg; aber nachher im Hotelzimmer, sagte er plötzlich: »Ich habe hier eine reizende junge Dame kennen gelernt, eine Nachkommin von Fürsten, eine Russin.«

»So?« lächelte Sophie Hatzfeld gewaltsam, »davon hast du mir ja gar nichts geschrieben. Desto höher schlage ich es an, daß du mich herbeigerufen hast.«

Befangen sprach er weiter: »Sie heißt Sophie, wie du. Eine Messiasnatur ist sie, will ihren leibeigenen Bauern Bildung bringen. Sie kam erst gestern.«

Die Gräfin schwieg, das leidenschaftliche junge Herz stürmte in der alternden Brust.

Da sagte er und wandte sich halb zum Fenster: »Ich bin entschlossen, sie zu heiraten.«

Ein Schrei riß ihn herum, hastig sprang er zu, die Blumenvase aufzufangen. Die Finger der Gräfin, die sich in die Tischdecke einkrallten, hatten sie niedergezerrt, als sie in den Stuhl getaumelt war.

»Aber, Sophie!« bekämpfte er mühsam den aufkeimenden Groll.

Die Gräfin tupfte mit dem Battisttuche die eiskalte frierende Stirn. »Verzeih,« entschuldigte sie mit violetten Lippen, »ich – ich – bin – nur – ein wenig – überrascht – über – diese – Schnelligkeit –.«

Er stellte sich breitbeinig vor die ringende Frau hin und dozierte: »Ein einziges Gespräch hat genügt, uns von der völligen Übereinstimmung unseres Denkens und Empfindens zu überzeugen. Eine passendere Frau werde ich nie finden. Es kommt auch nicht auf die Zeit an, die man sich kennt. Haben wir beide nicht am zweiten Tage gewußt, daß wir zueinander gehören!«

»Ja – ja,« würgte die Gräfin.

Da tat sie ihm quälend leid. Er streichelte ihre eisige Wange und tröstete: »Du wirst mir immer die gute liebe Freundin bleiben, Sophie. Keine wird dich verdrängen. Du weißt, ich liebe dich mit der Liebe des zärtlichsten Sohnes. Wie meine Mutter liebe ich dich, nein, dreimal mehr als meine zärtlich geliebte Mutter. Aber sieh, gerade in dieser Krankheit habe ich empfunden, daß ich altere, daß ich ein junges Geschöpf brauche als einen Quell ewiger Jugend. Ich bin dieser ewigen Liebeleien so müde! Ich will ein Weib besitzen, das ganz mein ist, geistig und körperlich. Verstehst du das nicht?!«

Sie nickte vor sich hin. »Ich verstehe es,« sagte sie mit mehr Bitterkeit, als sie wollte.

»Du wirst sie auch lieben,« schmeichelte er. »Du wirst sie lieben wie deine Tochter. Wie dein Kind wird sie an dir hängen. In euer beider liebevollen Hut werde ich leben. Herrgott, wird das ein Glück werden!« Und plötzlich das Entsetzen in den Augen, keuchte er: »Wenn sie mich nur liebt! Wenn ich bloß wüßte, ob sie mich lieben kann!«

»Sie wird dich lieben,« wußte die Liebe dieser armen Frau. Ein Weib ihren Abgott nicht lieben!

Da hallte die Tischglocke durch den Korridor. Hastig fuhr er auf. »Komm, rasch, Sophie. Man ißt hier sehr pünktlich.«

»Geh voran,« bat sie, »ich muß mich erst ein wenig – in Ordnung bringen.«

»Gut,« willigte er befreit ein. Streichelte sie wieder, tröstete: »Sei tapfer und lieb!« und eilte hinaus.

An der Tafel fand er Sophie Adrianowna neben dem Vater. Ein vertrautes Grüßen huschte hinüber, herüber. Der junge Herr an ihrer Rechten zog ein verdutztes Gesicht. Nach einiger Zeit erschien die Gräfin. In ihren Augen schwelte die stumpfe Glut heimlicher Tränen.

Kaum hatte sie neben Lassalle Platz genommen, da glitt ihr Blick unmerklich über die Tischgenossen hin. »Das ist sie,« sagte sie leise. »Dies feine pikante Gesicht dort unten.«

»Ja,« flüsterte er glücklich und stolz. Da bemerkte er, daß der junge Herr wieder eifrig auf Sophie Adrianowna einsprach, während ein schneller Blick verächtlich die Gräfin streifte. Sie führte just das Glas zum Munde, beugte den Kopf ein wenig hintenüber und trank. Und Lassalle sah den Hals, diesen armen Hals, aus dessen schroff hervortretenden Sehnen das Alter grinste.

Plötzlich überkam ihn die Erinnerung daran, wie sammetweich und prangend voll dieser Hals einstmals gewesen war, damals, als er in jungem Rausche seine begehrlichen Lippen an ihm festgesogen hatte. Da quoll eine verteidigende Rührung in ihm empor über diese Freudenspenderin seiner Jugend, über diese treue Gefährtin seiner Manneszeit. Er beugte sich dicht zu ihr heran und raunte mit beschirmender Innigkeit: »Sei nicht traurig, Liebe, du wirst sehen, wie gut du es haben sollst. Zwei Kinder statt eines. Und hegen wollen wir dich und dir das Leben hell und heiter machen.«

Ein rascher Blick dankte, doch die Tränen quollen der starken Frau wieder sengend in die Augen.

Nach Tisch gesellte man sich im Vestibül zueinander und beschloß einen Spaziergang in die Anlagen. Die Gräfin schritt mit dem Gouverneur in eifrigem Plaudern. Die beiden Aristokraten sponnen sofort mannigfache Anknüpfungsfäden weiter. In einigem Abstand folgte Lassalle mit dem Mädchen.

Kaum waren sie allein, da fragte Lassalle mit leiser vertraulicher Stimme: »Nun, was haben Sie heute nacht geträumt, Sophie Adrianowna?!«

»Nichts,« lachte sie, »ich habe ausgezeichnet geschlafen.«

Da sagte er mit heißer erregter Stimme: »Ich habe kein Äuge geschlossen. Aber es war die schönste Nacht meines Lebens.«

»Sie haben an Ihre Arbeiter gedacht?«

»Auch. Vor allem habe ich aber an das Beste gedacht, was meiner Lebensaufgabe erblühen könnte.«

»Das wäre?« fragte sie arglos verwundert.

Da atmete er heftig, die lebhaften Nasenflügel zitterten, und ganz leise kam es: »Sie, Sophie Adrianowna!«

Sie zuckte zusammen, warf einen raschen Blick auf den Mann neben ihr, nein, das hatte nicht geklungen, als ob ein Frechling bösen Scherz mit ihr treibe, sah sein arbeitendes Gesicht und senkte das Haupt.

So schritten sie einige Augenblicke hin.

Endlich sagte er: »Sie antworten nichts, Sophie Adrianowna!«

Sie hob den Kopf, sah ihn aus ihren schwarzen Augen schmerzlich an und sagte: »Ich bin sehr traurig, Herr Lassalle.«

»Traurig? Sophie, traurig? Mein Gott, weshalb traurig?!«

»Weil Sie nur so hoch standen, so hoch! Wie ein Meister meiner Sehnsucht nach Betätigung. Wie ein Lehrer. Wie ein kluger reifer Kamerad, zu dem ich lernend aufsehen konnte.«

»Und jetzt?«

»Jetzt sind Sie in die große Menge hinabgesunken,« klagte sie, und der Mund zuckte trotz der Beherrschung. »Jetzt sprechen Sie wie all die andern jungen Männer meines Alltags – von Liebe.«

Sie schürzte verächtlich und weh die Lippen. Da fuhr er auf. »Sie täuschen sich, Sophie Adrianowna, wenn Sie glauben, meine Liebe sei alltäglich. Ich schwöre Ihnen, ich habe in meinem Leben noch keinem Mädchen von Liebe gesprochen. Nie ist mir noch der Gedanke an Ehe gekommen. Ein Entsetzen war er mir stets. Sie sind das erste Weib, das ich so liebe, daß ich es zu meinem Weibe machen möchte.«

»Sie kennen mich doch kaum,« wich sie aus.

»Ich kenne Sie,« begehrte er auf. »Was bedeutet die Zeit! Nichts, nichts. Die wahre Liebe liebt sofort, im ersten Augenblick. Ich kenne Sie, wie ich mich kenne.« Und sich dicht an sie herandrängend, flüsterte er sich überstürzend: »Sophie, ich liebe Sie mit all der Innigkeit und Leidenschaft meiner glühenden Seele. Mein Leben ohne Sie erscheint mir undenkbar. Nie wieder kann ich Sie aus meinen Tagen herausdenken. Ich schwatze nicht. Ich spreche meine ehrlichsten tiefsten Gefühle aus meiner Brust heraus. Ich habe es heute nacht empfunden: ich liebe Sie, wie nie ein Mann vorher geliebt hat. Hören Sie! Nie! Ich kenne Sie nicht!? Sophie Adrianowna! Ich halte Sie nicht für ein gewöhnliches Mädchen, dem man Bêtisen sagt. Ich weiß, wie ich weiß, daß ich Sie liebe, daß Sie ein höheres, von Gott oder Natur, oder wie Sie es nennen wollen, mit Empfänglichkeit und Begeisterung für alles Erhabene gesegnetes und mit moralischer Kraft begabtes Wesen sind. Wie will ich diese herrliche Anlage in Ihnen hegen! Denken Sie nur, was Sie mir und meinem Werke werden können! Hilfe, Stütze, Ansporn. Sophie, ist das nicht schön, übermenschlich schön?! Sagen Sie – nicht ob Sie mich lieben. Sie sollen Zeit haben, sich zu prüfen. – Nur eins sagen Sie mir, ob Sie glauben, daß Sie mich werden lieben können. Ich hätte noch geschwiegen. Hätte Ihnen Gelegenheit gegeben, mit mir vertrauter zu werden. Doch Sie reisen heute abend ab. Wer weiß, ob wir uns je wieder begegnen, wenn ich nicht spreche. Darum mußte ich reden, damit Sie wissen, daß hier einer zurückbleibt, der Sie liebt, der Sie anbetet wie seine Gottheit, der Sie zu seinem Weibe machen will!«

Er schwieg erschöpft. Jeder Gesichtsmuskel spiegelte seine bis in die dunkelsten Tiefen aufgewühlte Erregung wieder.

Sophie Adrianowna war betäubt von dem Schwall der Leidenschaft, der da plötzlich mitten auf dem Wege auf sie einflutete.

»Mein Gott, Herr Doktor,« stammelte sie, »mein Gott!«

»Antworten Sie jetzt nicht,« ebbte er zur Vernunft zurück, »überlegen Sie es sich! Sie fahren heute nach Dresden. Schreiben Sie mir von dort.«

»Ja – ja,« flüsterte sie hilflos.

»Sie schreiben mir bestimmt!« forderte er.

Sie nickte stumm.

»Dank, Dank!« atmete er lastenbefreit. »Und wenn es ein ›Ja‹ wird, fliege ich zu Ihnen. Und wenn es nach Ihrem Gute in Witesb sein müßte.«

Sie schritt schweigend aus, eine Schwäche in den Kniekehlen. Der Mann da neben ihr mit seiner aufdringlichen Liebesforderung war ihr ganz fremd geworden. Gestern abend, wie war das traut gewesen! So wohlig hatte sie sich in seine beredte begeisternde Nähe eingeschmiegt. Jetzt empfand sie nichts als Angst und peinliche Befangenheit.

Doch Lassalle segelte schon mit tausend glücksgeblähten Segeln dahin, sein Selbstvertrauen führte das Ruder in markigen Händen. »Nun will ich Ihnen ein wenig von meinem Leben erzählen,« plauderte er zukunftsgewiß. »Ich habe gesehen, daß Ihr Tischnachbar von der Gräfin sprach. Es laufen viele Verleumdungen über sie.«

»Ich höre nicht auf Verleumdungen,« wehrte Sophie.

»Doch der Schein kann gegen sie sein.« Und er erzählte, wie er mit zwanzig Jahren die Gräfin gefunden, sprach von ihrer Not und seinem Eingreifen, von den Prozessen und dem Kassettendiebstahl, hastig, freudig, ruhmredig, mit vielen Worten, wie das seine weitschweifende Art war.

»Dann wurde ich selbst wegen Anstiftung zum Kassettendiebstahl angeklagt,« berichtete er stolz. »Ich warf mich auf die Anklagebank, nicht wie ein Mensch, der sich verteidigen soll, sondern wie ein Sieger, der seinem sicheren Triumph entgegengeht. In einer sechsstündigen Rede schlug ich die Anklage zu Boden. Nichts, Sophie Adrianowna, kann Ihnen auch nur annähernd eine Vorstellung von dem elektrischen Eindruck geben, den ich hervorbrachte. Die ganze Stadt Köln, die Bevölkerung der ganzen Provinz schwamm sozusagen auf den Wogen des Enthusiasmus! Das Volk hatte das Antlitz eines Mannes geschaut. Es hatte mich verstanden. Aber nicht nur das Volk, alle Klassen, die ganze Bourgeoisie war trunken vor Entzücken. Als ich mit der Gräfin in Düsseldorf ankam, betäubten mich die Einwohner dieser Stadt fast mit ihren Zurufen. Sie spannten die Pferde der Equipage, in der wir saßen, aus und zogen uns selbst. Obschon der Prozeß kein eigentlich politischer war, hatte das Volk wohl begriffen, daß es doch im tiefsten Sinne des Wortes ein solcher war, daß er die Auflehnung gegen die Unterdrückung bedeutete.«

»Das war ein lichter Tag,« bewunderte sie ehrlich.

»Ja, das war es, Sophie. Doch lichtere Tage werden uns kommen. Und dann werden Sie –«

Er preßte ihre Hand. »Sagen Sie, Sophie Adrianowna, glauben Sie, daß Sie mich lieben können.«

»Vielleicht,« gestand sie, fast wider Willen.

Da ließ er schroff ihre Hand fahren. Seine Eigenliebe hatte mehr, hatte jetzt schon ein hingebendes Bekenntnis erwartet.

Erstaunt blickte sie ihn an. Sie hatte doch mehr, viel mehr zugestanden, als sie ehrlich zugestehen durfte. Trotzig wie ein Junge stampfte er neben ihr her.

»Sie scheinen mir ein recht verzogenes Kind,« lächelte sie und hatte ihre alte Überlegenheit wiedergefunden.

»Allerdings bin ich verwöhnt,« schnurrte er gereizt. »Bisher habe ich noch nie um Liebe zu bitten brauchen.«

Sie schwieg. Erbost, gekränkt stolzierte er neben ihr her und sprach kein Wort mehr, bis der Vater sich ihnen zuwandte.

Auf dem Heimwege gesellte sich Lassalle zu Herrn von Solutzeff und bot seine kluge bestrickende Liebenswürdigkeit auf, den Vater der Liebsten zu gewinnen. Es gelang ihm spielend.

Und auch die Gräfin kam der jungen Russin mit der beglückten Kraft ihrer einnehmenden Vornehmheit entgegen. Ihre bangspähenden Augen hatten sofort entdeckt, daß die Werbung des vergötterten Mannes auf herben Widerstand geprallt war. – –

Die Russen waren nach Dresden abgereist, wo der Gouverneur noch einmal seinen Arzt Dr. Walter konsultieren wollte. Lassalle hatte Sophie Adrianowna nicht wieder allein gesprochen. Nur auf dem Bahnhof, beim Abschied, flüsterte er ihr mit einem verzweifelten Händedruck zu: »Sie werden mir schreiben!«

Sie nickte.

Vor Ungeduld fiebernd wartete er, plagte die arme Gräfin mit tausend Zweifeln und zehntausend Hoffnungen und schleppte sich trotz der wiedererwachten Schmerzen hundertmal am Tage zu der Portiersloge, um zu fragen, ob kein Brief für ihn angelangt sei.

Endlich überreichte ihm der Mann, durchschauend lächelnd, ein blaues Kuvert.

Wie ein Raubtier schleppte er die Beute in sein Zimmer, verriegelte die Tür, küßte die feste große Schrift und öffnete endlich den Umschlag. In wenigen flüchtigen Zeilen zeigte sie ihre glückliche Ankunft in Dresden an und sandte Grüße von sich und dem Vater, der recht leidend sei. Und bat ihn, falls er ihr antworten wolle, französisch zu schreiben, da sie das Deutsche schriftlich nicht hinreichend beherrsche.

Sonst kein Wort. Er las, las, immer wieder, immer wieder, wie ein Narr. Dann stürmte er zum Schreibtisch und schrieb gehorsam in französischer Sprache:

»Oh, welche Enttäuschung! Ich erhalte einen Brief, einen Brief von Ihnen! Ich erkenne Ihre Handschrift, den Dresdner Stempel, lese das entzückende Wort auf Ihrem Siegel (semper idem)! Oh, mit welch fieberhafter Ungeduld erbrach ich den Brief, ängstlich sogar, um nicht das Kuvert, das aus Ihren Händen kam, zu zerreißen! Und nun? Ich öffne ihn, und was finde ich anstatt eines Briefes? Nichts als einige hingeworfene Zeilen, einige unbedeutende Phrasen, wie man sie Jedem hinwirft – und weiter nichts – nichts! Oh, Sophie Adrianowna! Welch andern Brief würde ich Ihnen geschrieben haben, wenn ich Ihnen zuerst geschrieben hätte!

Ich habe übrigens ein Mittel gefunden, diesen so kurzen Brief länger zu machen! Indem ich ihn zehn- dreißig- hundertmal gelesen, habe ich ihn mir ausgedehnt, was mich so zwei Stunden lang glücklich gemacht hat!

Und deshalb danke ich Ihnen für dies bescheidene Glück!

Aber Unselige, warum haben Sie mir geboten, Ihnen französisch zu schreiben, wozu absolut kein Anlaß vorliegt. Sie verstehen deutsch wie eine Deutsche! Für mich ist kein Herzenserguß möglich in einer anderen Sprache als in meiner Muttersprache. Ach, wenn ich Ihnen deutsch schreiben dürfte, welches Leben, welche Bewegung würde in diesem Briefe sein!

Es wären nicht, wie jetzt, tote Buchstaben, Aneinanderreihungen von Silben an Silben, von Wörtern an Wörter. Jedes Wort würde ein individuelles, durchgeistigtes Wesen sein, belebt durch die Seelenwärme, die ich ihm einhauchen würde! Es wären ebenso viele kleine Vögelchen, mit rührendem Gesange, mit vergoldeten Flügelchen, welche nicht erst diese Schneckenpost nötig hätten; nein, sie würden von selbst davonfliegen und sich vor Ihnen niederlassen, um Ihnen Hände und Füße zu küssen!«

Und wieder flammte er ihr seine Leidenschaft entgegen, flehte um ihre Liebe und teilte ihr mit, daß er noch heute nach Berlin zurückkehre, um ihr näher zu sein und die Qual des Wartens auf ihre Antwort abzukürzen.

Und allen Abmahnungen der Gräfin und all ihren Bitten, die Kur nicht abzubrechen, zum Trotz packte er die Koffer und reiste noch am selben Tage nach Berlin. Sophie Hatzfeld mußte ihn, wohl oder übel, begleiten.

Doch in den langen Stunden der Bahnfahrt keimte aus seinem versunkenen Grübeln ein neuer Plan. Sophie Adrianowna sollte noch nicht antworten. Sie kannte noch nicht alle Höhen und alle Abgründe seines Wesens.

Wenn sie jetzt schon antwortete, ohne ihn ganz zu kennen – vielleicht würde sie später in Kummer bereuen, wenn sie ihn sah in seiner guten und bösen Wirklichkeit. Seine wahrhafte große Liebe bebte.

Kaum in seiner Wohnung angelangt, schrieb er ihr. Sie möge ihre Antwort zurückhalten. Er würde ihr erst eingehend sein Leben darlegen. Ehe sie diesen Brief nicht gelesen hätte, solle sie keine Entschlüsse fassen. Und mit zweifel- und hochmutzitternden Fingern warf er eine Schilderung seines Charakters und seines Lebens hin, eine logisch entwickelte Abhandlung, die seltsamste Warnungsschrift, mit der jemals ein Mann um die Liebste geworben hat.

Als Sophie Adrianowna das »Manuskript« gelesen hatte, saß sie lange Zeit ganz still. Mild und gut flutete es in ihr. Sie empfand die Ehrlichkeit, die aus dem Schreiben drängte, sie fühlte die große tiefe Liebe, die in ihm bangte, sie sah die krausen Schwächen dieses Mannes. Und das Weib in ihr erwachte mit all dem mütterlich Lieben, und ein Verlangen schwoll in ihr an, all dieses Kindliche, Schwache, Verzerrte in diesem starken Manne in ihre Hut zu nehmen, all dieses Wahrhafte, Ehrliche zu kosen, all dieses Hingebende, Verlangende lind zu hegen und zu betreuen.

Plötzlich stand sie auf. Ja, war das nicht eine größere Aufgabe, als ihre Bauernkinder zu erziehen? Lag darin nicht ein Lebenswerk, diesem Manne bei seiner gewaltigen Befreiungstat zu helfen, alles Große in ihm zu pflegen, alles Kleinliche auszuroden, alle Schlacken auszumerzen, daß ein Ganzes aus reinem Edelmetalle aus ihm werde! Sie richtete sich schlank empor. Ja, sie fühlte zu solcher Fördertat die Kraft in ihren jungen festen Händen. Das war auch ein Lebenswerk, das das Leben lohnte.

Mit erhitzten Wangen eilte sie aus dem Zimmer. Der Überschwang ihrer Neunzehn forderte sein Recht. Sie wollte ihm telegraphieren, sofort sollte er ihre Antwort haben: »Ja. Erwarte Dich in Glück!«

Doch als sie die Worte erregt auf das Papier warf, da waren es gerade wieder ihre jungen Neunzehn, die ihr die Hand bannten. Sie sah blicklos auf die Tapete des Schreibzimmers und horchte voll Angst in sich hinein. Ja, wie denn?! Wie denn?! Sie gab da einem Manne ihr Jawort. Sie gab sich da einem Manne zur Ehe. Sie gab sich da einem Manne für das ganze Leben. Ja, wie denn, wie denn?! Da mußte doch, da mußte es doch da drinnen in der Brust jubeln und toben und tanzen. Da mußte doch die Liebe in ihr jauchzen und kreisen in ihrem Blute! Der Kiel entfiel ihrer Hand. War das die Liebe?! War das ihre Liebe? Kam so dieses größte Glück des Weibes zu ihr? Sie fuhr empor. Nein, nein, nein! Das war nicht ihre Liebe, nein, nein. Ah, sie fühlte in sich die Kraft zu lieben, mit – allen Sinnen, mit allen Gluten, mit allen Wonnen. Hingebend, beseligt, bacchantisch, mit Fiebern und Stürmen und Bränden und Flammen. Nein, das war nicht ihre Liebe. Das war Güte und Mitleid und Helfermut, nicht ihre Liebe.

Sie zerriß das Blatt und klomm langsam die Treppen hinauf in ihr Zimmer. Und stand am Fenster und blickte hinab auf das Kleinstadttreiben der sächsischen Hauptstadt. Und wußte nicht ein noch aus.

Dann trat der Vater ein. Sie gab ihm den langen, langen Brief. Als er gelesen hatte, blickte er fragend auf.

»Ich weiß nicht,« zagte sie.

»Wenn du mich fragst, wie er mir gefallen hat,« half der Gouverneur, »kann ich nur sagen: sehr gut. Ein kluger kerniger Mensch, der in der Welt vorwärts kommen wird. Seine politischen Ideen sind nicht die meinen. Aber ich kann andere Ansichten gelten lassen. Seine Religion stört mich nicht. Etwa dich?«

»Nein, Papa.«

»Ich würde es mir überlegen, Kind, wenn du nicht bestimmt fühlst, daß du ihn nicht heiraten kannst.«

»Ich weiß nicht recht, was ich fühle,« quälte sie sich.

»Überleg es ruhig,« riet der Vater.

»Aber denk doch, wie er auf Antwort wartet!«

»Schreib ihm, du brauchst Zeit. Oder –« der Gouverneur hatte seine diplomatische Erleuchtung – »vielleicht ist es das beste, du siehst ihn dir noch etwas näher an. Eine Ausrede findet sich leicht. Ich sage, ich will Frerichs konsultieren. Lassalle hat mir ja oftmals geraten, ihn zu fragen. Was denkst du?«

»Es ist gut,« sann sie. »Ich gewinne Zeit und gebe ihm zugleich die Freude des Wiedersehens.«

Und sie schrieb ihm, welch starken Eindruck seine Bekenntnisse auf sie gemacht hätten, daß sie aber jetzt mehr noch als früher an sein Glück denken müsse und sich daher mit ihrer Einwilligung nicht übereilen dürfe. Streng und gewissenhaft wolle sie ihre Gefühle abwägen. Sie kämen übrigens in nächster Zeit nach Berlin, da der Vater sich doch entschlossen habe, Professor Frerichs zu konsultieren. Bis dahin solle er sich auf ihre Antwort gedulden.

Als Lassalle dieser Bescheid zuging, war er aus dem Zustande jünglingshafter Liebestrunkenheit zur wägenden Vernunft des Mannes zurückgekehrt.

Die Ferienstimmung war verraucht, Berlin mit seinen Pflichten hatte ihn wieder umstrickt. Und er antwortete: »Ich verstehe zu gut Ihren edlen Brief und das darin niedergelegte zarte und edelmütige Gefühl, um nicht vollständig auf Ihre Ideen einzugehen. Möge es so geschehen, wie Sie es wünschen. Ich bin entzückt von dem Entschluß Ihres Vaters, nach Berlin zu kommen. Das ist geradezu prächtig von ihm.«

Ja, Berlin umkrallte immer atemraubender den Heimgekehrten.

Preußens innere Politik schlug den Rastlosen wieder einmal in Bann. Die Regierung hatte im März des Jahres die Militärvorlage eingebracht.

Der Prinzregent, in erster Linie Soldat, glaubte, daß die preußische Armee weder den Ansprüchen der Gegenwart noch den kommenden Aufgaben der Zukunft genüge. Unter des Kriegsministers von Roon tätiger Mitwirkung plante er eine starke Vermehrung des Heeres.

Hand in Hand mit dieser Ausgestaltung der Präsenzstärke der Armee sollte ein Zurückdrängen der Landwehr bewirkt werden. Der Prinzregent hatte 1849 bei Niederwerfung des Badischen Aufstandes die praktische Erfahrung gemacht, daß die Landwehrmänner für innere Kämpfe keine allzu zuverlässige Waffe seien.

Diese Einschränkung des Landwehrsystems öffnete jedem Demokraten die Augen. Man erkannte voll Grimm, daß es sich bei dieser Heeresreorganisation nicht so sehr um Stärkung der Machtmittel des Staates nach außen, als vielmehr darum handelte, der Regierung eine schneidige schlagfertige Waffe gegen das Volk in die Hand zu spielen.

Das also war der Kern der langerhofften »neuen Ära«, die der Prinzregent 1858 verheißen hatte! Wild empört schäumte die Volksseele auf über diese Zurücksetzung des Landwehrmannes, der in der Bedrängnis der Freiheitskriege den Staat gerettet hatte. Sie war jedem Demokraten ein Frevel gegen geheiligte Liebe, Traditionen und Erinnerungen. Zugleich aber baute diese Militärvorlage den Bestrebungen der Liberalen, das verfassungsmäßige Regiment in Preußen zu verwirklichen, einen trotzigen Damm entgegen. Mit aller Kraft galt es, sich gegen diesen Anschlag auf die Freiheit und die Volkstümlichkeit des Heeres zu wehren. Es handelte sich allein um eine Machtfrage zwischen Volk und Krone. Es handelte sich um einen Kampf der liberalen Bestrebungen gegen geplante Unterdrückung.

Und da rief seine ganze Vergangenheit Lassalle als Kämpfer auf die Walstatt. Leidenschaftlich agitierte er im Kreise der Freunde. Die geforderten Geldmittel mußten verweigert werden, verweigert unter allen Umständen. Damit fiel die Demokratie der Regierung in den erhobenen Arm, damit fielen die knebelnden Pläne.

»Wir werden uns schon wehren,« versicherte Dohm, »nur nicht so hitzig, werter Freund.«

»Nicht so hitzig!« höhnte Lassalle auf. »Kann man überhaupt hitzig genug gegen diese Hinterhältigkeit vorgehen? Der Teufel hole eure liberale Langmut!«

Und er wühlte und wühlte weiter. Zugleich aber raffte er seine Arbeiterbeglückungspläne wieder mit aller Energie seiner Feuerseele zusammen. Jetzt war der Tunnel gegraben. Frei war wieder der Weg. Vorwärts also, dem Ziele entgegen! Nun galt es, endlich zur Praxis zu gelangen, endlich zu »tun«.

Er lief trotz seiner rheumatischen Schmerzen unter dem tiefblauen Herbsthimmel einher, grübelnd, sinnend, suchend. Jetzt hatte er sein Rüstzeug blank und hell geputzt in der Waffenkammer. Heraus mit der Plempe und gegen den Feind für Freiheit und Glück der Enterbten. Doch wie fechten, wie ausfallen, wie die Klinge führen? Er lief nach seiner Gewohnheit, wenn es galt, sich klar zu denken, im raschelnden Herbstlaub einher und grübelte und sann und suchte.

Eines Abends, als er müde und durstig mit zerwühltem Hirn in die Heislersche Wirtschaft eintrat, sich mit einem Glase Bier die Kehle zu feuchten, kam er dicht an dem Tische vorüber, an dem Marie Strasser mit ihrem Manne saß.

Ausweichen war unmöglich, schon hatte ihn der junge Ehemann erkannt. Lassalle mußte stehen bleiben, begrüßen, sich an den Tisch setzen.

Marie war noch schmäler und zarter geworden, Strassers Leiblichkeit wies bereits die Rundungen des behaglichen Ehelebens. Als Lassalle der jungen Frau die Hand reichte, fühlte er, wie ihre Finger leise unter seinem Drucke zuckten. Dann saß sie bleich und still, nur die goldbraunen schönen großen Augen flackerten in jäher Freude und altem, nie verjährtem Schmerze.

»Sehr glücklich ist sie nicht geworden,« erkannte Lassalle; er schaute heimlich nach den blauen Leidensschatten unter den Augen, die dem bleichen Gesicht etwas rührend Verhärmtes gaben.

»Man sieht Sie ja nirgends, Herr Doktor,« meinte Strasser verwundert. »Ich glaube, es sind mindestens zwei Jahre her, daß wir uns nicht begegnet sind. Nicht wahr, Marie?«

Marie blickte ins Leere.

»Ich habe viel in den letzten Jahren gearbeitet,« begründete Lassalle. »Nächstens erscheint ein neues großes Werk von mir.«

Marie beugte sich hastig vor. »Wieder ein philosophisches?«

»Nein, ein juridisches.«

»Sie sind ja ein Tausendsassa,« bewunderte Strasser.

»Juristisches liegt mir nach den vielen Prozessen, die ich in meinem Leben für andere und mich geführt habe, ja nicht so fern,« erklärte Lassalle.

»Gewiß, gewiß,« versicherte Strasser höflich. Dann sprach man von den Sommerreisen und den Winteraussichten, bis Strasser sich mit schönem Eifer über die Gemälde der diesjährigen Akademischen Kunstausstellung erging. Lassalle gestand seine Unbekanntschaft mit dem Gebotenen ein. »Aber,« entsetzte sich der junge Fabrikherr, »Sie haben den Spangenberg nicht gesehen! Herr Doktor!« Und er schilderte dieses Erstlingswerk mit begeisterter Anschaulichkeit. Marie saß stumm und starrte in das Antlitz ihres großen Lebensleides.

Mitten in die Kunstschwelgereien des jungen Ehemannes hinein fiel aus den Grübeleien seines Abends Lassalles unvermittelte Frage: »Wie haben Sie sich in die Fabrik eingelebt, Herr Strasser?«

Der stutzte. Er gruselte gerade in dem Gespenstischen des »Rattenfängers von Hameln« umher. Doch schnell gefaßt lächelte er: »Verzeihung, ich erinnere mich eben, daß Sie in der Kunst nur einen Zweck für Freiheitsverherrlichung sehen. Nichts für ungut! Man glaubt so leicht, daß alle die eigenen Liebhabereien teilen. Die Fabrik? danke. Ich habe mich sehr gut eingelebt. Nicht wahr, Marie?«

Marie nickte.

»Wir haben,« berichtete er sachlich, plötzlich ganz Geschäftsmann, »in den letzten zwei Jahren den Betrieb enorm erweitert, fast um das Doppelte. Wir beschäftigen jetzt an die fünfhundert Arbeiter.«

»Wissen Sie,« sagte Lassalle sinnend und sprach im Grunde nur zu der Geliebten von ehedem, »daß jener Nachmittag am Tage des Einzugs der Prinzessin Viktoria meinem ganzen Leben Richtung gegeben hat.«

»Ach nein!« rief Strasser.

Marie beugte sich über den Tisch vor, daß die Brust sich schmerzhaft gegen das Holz preßte. Ihre Augen sogen die Worte von seinen Lippen. Sie hatte, bei aller wackeren Erfüllung der Pflichten ihrer Ehe, doch immer atemlos hinausgehorcht, ob noch immer nicht das Dröhnen der Tat des Mannes die Welt durchwettere, dem allein trotz allen guten ehrlichen Willens das Beste ihres Weibtums gehörte. Trotz allen guten strebenden Willens, das Blütenreinste ihrer innigen Seele. »Ja,« erklärte Lassalle, »an jenem Tage hat mir die größte Frage unseres Jahrhunderts ans Herz gegriffen.«

»Alle Wetter!« rückte Strasser näher, »da bin ich doch aber gespannt. Welche Frage denn?«

»Die Arbeiterfrage.«

Mariens Erregung tat der Schmerz, den die Tischkante ihr in den Busen drückte, fast wohl.

In entspannter Enttäuschung schob der Fabrikant seinen Stuhl wieder zurück. »Sie scherzen,« sagte er höflich, doch sehr ernüchtert.

Marie aber flüsterte: »Sprechen Sie!«

»Seit jenem Tage weiß ich, durch Ihre Worte damals, Herr Strasser, daß mein Leben dieser Frage gehört.«

»Durch meine Worte!« zog Strasser die Stirn verwundert kraus. »Ich erinnere mich wirklich nicht, Herr Doktor, daß ich damals solch lebenerschütternde Worte gesprochen hätte.«

»Doch,« bestätigte Lassalle mit einem kleinen ironischen Lächeln.

»Ich erinnere mich,« sagte Marie. Wie eine ungewollte, schicksalsgefügte neue Einigung mit dem Geliebten war es.

»Du erinnerst dich, Marie?! Ja, mein Gott, wovon haben wir damals bloß gesprochen?«

»Von der Arbeiterfrage,« lächelte Lassalle.

»Von der Arbeiterfrage!« hob Strasser ungläubig das energische Kinn. »Eine Arbeiterfrage gibt es doch gar nicht.«

»Meinen Sie?« fragte Lassalle geheimnisvoll.

»Ja, das meine ich. Wo soll denn die Frage liegen! Mir ist die sogenannte Arbeiterfrage ganz klar. Die Lage der Arbeiter ist die logische Folgeerscheinung unserer gewaltig aufblühenden Industrie.«

»Auch die elende Lage des Arbeiterstandes?« erwog Lassalle.

»Allerdings,« setzte Strasser jetzt wuchtig ein, »ein besitzloser Arbeiterstand ist die unbedingte Voraussetzung für die Nachfrage nach Arbeitsgelegenheit. Oder meinen Sie etwa, Menschen, die im Überfluß leben, werden für mich die Arbeit verrichten?!«

»Für Sie nicht, aber für sich,« orakelte Lassalle.

»Ich verstehe nicht,« wurde Strasser nervös, »für sich! Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, das heutige Unternehmertum ist an der ganzen Misere schuld,« erläuterte Lassalle.

»Jetzt entsinne ich mich,« hob Strasser erkenntnisreich die Hand. »Richtig! Damals haben Sie sich so außerordentlich über das Lohngesetz erregt. Freilich, freilich!«

»Ja,« nickte Lassalle, »das tat ich. Über das von Ihnen entwickelte Ricardosche Lohngesetz.«

»So?« fragte der junge Fabrikant, »nennt man es so? Das wußte ich nicht. Mir ist es aus der Praxis und meiner Einsicht erwachsen. Ja, leugnen Sie etwa dieses Lohngesetz, Herr Doktor?« Er lächelte in leisem Triumphe.

»Bei Gott nicht!« rief Lassalle emphatisch. »Keiner, der seine fünf Sinne beisammen hat, kann leugnen, daß dieses eherne Gesetz heute gilt. Aber eins leugne ich: daß es in Geltung bleiben wird.«

Marie zitterte, daß der Tisch leise mitvibrierte. Ihr Mann aber prallte auf. »Das leugnen Sie! Aber Doktor! Wer soll es denn aufheben?« Er schmunzelte sein überlegenes Lächeln.

»Ich,« entgegnete Lassalle klar und stolz.

»Sie!« Des jungen Mannes Augen wurden rund vor Staunen. Marie flüsterte: »Weiter – weiter!«

Doch Strasser lachte: »Sie sind heute abend in spaßiger Laune, Herr Doktor. Prosit!« Und er hob sein Glas.

Lassalle trank ihm zu, neigte sich dann lächelnd zu Marie und sagte: »Auf Ihr Wohl, Madame!«

Das Blut siedete ihr in die Stirn, als sie ihm zutrank. »Sprechen Sie!« drängte sie wieder.

»Aber Marie,« tadelte der Mann, »siehst du denn nicht, daß es ein Scherz des Doktors war? Das Lohngesetz aufheben! Das hieße die Quadratur des Kreises finden.«

»Dann wird Herr Doktor Lassalle sie finden,« entgegnete sie in unerschütterlichem Vertrauen. Strasser blickte auf. Lassalle aber sagte gelassen: »Ihre Frau Gemahlin hat ganz recht. Dann werde ich sie eben finden.«

Der Fabrikherr äugte den Doktor in komischer Ängstlichkeit an, als fürchte er jeden Augenblick einen geringfügigen Wahnsinnsanfall.

Lächelnd beruhigte Lassalle: »Seien Sie unbesorgt, Herr Strasser, mein Gehirn ist leidlich intakt.«

»Aber,« starrte der Fabrikant; »ein Mensch mit gesunden Sinnen kann doch nicht ernsthaft glauben, daß er das Lohngesetz aufheben wird. Das ist doch – solange es ein Unternehmertum gibt, wird das Gesetz gelten, so sicher, wie die Erde sich dreht.«

»Sie meinen,« lächelte Lassalle freundlich sarkastisch, »solange es Ihr Unternehmertum gibt.«

»Mein Unternehmertum?!«

»Das Unternehmertum des Kapitals,« berichtigte Lassalle. »Eben dieses Unternehmertum wird aufgehoben werden.«

Jetzt lachte Herr Strasser herzhaft. »Das Unternehmen wollen Sie aufheben? Brillante Idee! Du, Marie, dann können wir also so langsam einpacken. Herr Doktor Lassalle geht uns an den Kragen. Ich wußte ja gleich, daß Sie scherzen. Prosit, Herr Doktor!«

»Prosit, Herr Strasser. Auf Ihr Wohl, Madame!«

Man trank, und einlenkend sagte Lassalle: »Vielleicht sprechen wir davon ein andermal, Herr Strasser. Aber eins möchte ich gern von Ihnen als Fachmann hören: leugnen Sie die elende Lage der Arbeiter?«

»Leugnen? Direkt leugnen, nein. Trotzdem auch da natürlich lächerlich übertrieben wird. Das Elend ist bei uns jedenfalls lange nicht so groß, wie es bei den ersten Generationen der englischen Industriearbeiter gewesen ist.«

»Richtig,« räumte Lassalle ein. »Das war aber auch das Grauenvollste, was je Menschen gelitten haben. Ich weiß nicht, ob Sie Friedrich Engels' Schilderungen darüber kennen?«

Der Fabrikant schüttelte abwehrend den Kopf. »Puh, nun kommen Sie mir bloß noch mit Marx und Engels!« entsetzte er sich scherzhaft.

»Schön, wenn Sie vor ihnen Angst haben, wollen wir sie ruhig in London lassen. Aber damit darf ich Ihnen doch wohl kommen, was Sie täglich im Norden Berlins vor Augen haben: daß auch auf unseren Industriearbeitern ein häuserhohes Elend lastet?«

»Vielleicht. Aber wer will das ändern?« zuckte Strasser die Schultern. »Das ist die Kehrseite unserer – gottlob – im letzten Jahrzehnt ungeahnt aufblühenden deutschen Industrie. Das leuchtet Ihnen doch wohl ein: Das Unternehmertum muß einfach, um konkurrenzfähig, vor allem auch mit dem Auslande, zu bleiben, mit allen Mitteln nach Herabdrückung der Produktionskosten streben. Muß also die Arbeitslöhne so niedrig als möglich halten. Also: entweder blühende Industrie und Arbeiternot oder Niedergang der Industrie – na, und dann doch erst recht Arbeiterelend, wenn kein Arbeitsmarkt vorhanden ist. Was wollen Sie also?« Er schwieg und blickte beifallheischend auf sein Weib. Doch Maries Augen dürsteten nach Lassalles Antwort.

»Sie meinen also,« sagte er, »alles das, was in dem einen Satze: Herabdrückung der Produktionskosten liegt: niedrige Löhne, lange Arbeitszeit, Frauen- und Kinderarbeit, Heimarbeit sei der Schatten, den die Sonne unserer Industrie werfen muß?«

»Ja, das meine ich,« beichtete Strasser sein unerschütterliches Glaubensbekenntnis. »Und wer meint, dieser Schatten könne getilgt werden, den – verzeihen Sie – halte ich für einen umgekehrten Peter Schlemihl.« Er lachte und fuhr fort: »Aber ich weiß, Herr Doktor, im Innersten sind Sie ganz meiner Meinung. Müssen Sie ja sein. Sie wollen nur debattieren. Mach' ich gern einmal mit. Debatte bringt das träge Blut hübsch in Wallung.« Er bestellte ein neues Glas Bier bei dem hübschen Lieschen, der Wirtstochter. »Willst du auch noch eins, Marie?« fragte er höflich.

Sie dankte leise. Der Mann dort, mit dem sie verheiratet war, erschien ihr plötzlich so fremd neben dem Geliebten von einst und heute und immer, in dessen Augen sie las, daß er nicht spaße und scherze, sondern sein heiliges Wollen verkünde. Aber wie, wie würde er dieses Lohngesetz aufheben, wie? Sie hätte gern gefragt; wagte es aber nicht, aus Scheu vor ihrem Manne, in der Unsicherheit, mit der ihr quälendes Schuldgefühl sie umfing. Lassalle schwieg gedankenvoll. Da griff Strasser munter den Faden der Erörterung wieder auf.

»Man darf auch nicht zu schwarz sehen, lieber Doktor. Die Lage der Arbeiter wird sich heben. Sie geben ja selbst zu, daß es unseren deutschen Arbeitern besser geht, als den englischen aus der ersten Zeit der Industrie. Gerade die wachsende Industrie wird ihnen Erleichterung bringen durch die Verbilligung der Existenzmittel, Kleider, Möbel, alles wird wohlfeiler werden. Jetzt freilich ist eine böse Zeit. Wir sind mitten drin in einer Übergangsepoche. Die heutige Not ist die unumgängliche Begleiterscheinung des Werdens neuer Betriebsformen.«

Lassalle wollte unterbrechen, wollte bedeuten, daß mit der Verbilligung der Existenzmittel gerade durch jenes Lohngesetz auch wieder die Löhne herabgepreßt werden müßten, da der Lebensunterhalt hierdurch verbilligt würde, der Arbeiter aber unter der Herrschaft jenes Gesetzes nie mehr erhalten könne als das, was er zum notwendigsten Lebensunterhalt bedürfe. Doch Straßer fuhr selbstgefällig fort: »Und dann, geschieht nicht gerade in letzter Zeit alles Mögliche zur Besserung der Lage der Arbeiter? Gerade in den letzten Monaten? Schießen die Arbeiterbildungsvereine nicht nur so aus dem Boden? Ich selbst halte Vorträge über Kunst im Potsdamer Tor-Verein. Nicht wahr, Marie?«

Da wurde Lassalle plötzlich zornig. »Sprechen Sie mir nicht von diesen Arbeiterbildungsvereinen!« drohte er so heftig, daß Strasser gegen die Stuhllehne zurücktaumelte. »Gerade in der Schaffung dieser Vereine zeigt sich der ganze überhebliche Hochmut des liberalen Unternehmertums.«

»Nanu!« setzte sich Strasser zur Wehr.

»Ja, gerade darin,« trotzte Lassalle. »Gerade diese Vereine zeigen, daß dem Bürgertum der Arbeiter kein vollgültiger Mensch, sondern ein unmündiges Objekt seiner Fürsorge ist. Welch eine freche Großmannssucht gehört dazu, erwachsene Menschen in diese Vereine wie in Kleinkinderbewahranstalten einzusperren. Statt ihnen Menschenwürde zu geben, sie mit dieser verlogenen Menschenfreundlichkeit zu päppeln!«

»Verlogen?! Was? Erlauben Sie!« schäumte nun auch Strasser zornig auf. »Das sind doch sonderbare Anschauungen, die Sie da äußern. Verlogen! Sehr gut. Ist es etwa nicht menschenfreundlich, die Unwissenden zu bilden, ihr Menschentum durch Kultur zu erhöhen?!«

»Gebt ihnen ihre Menschenrechte, gebt ihnen Brot,« schalt Lassalle, »das ist ihnen nötiger, als Goethes Lyrik, wenn sie dabei verhungern.«

»Wir geben ihnen das,« protestierte der Fabrikherr, »was wir ihnen heute nach Lage der Dinge geben können. Gottlob, verstehen die Arbeiter auch besser, als Sie, Herr Doktor, wie gut wir es mit ihnen meinen. Sie strömen scharenweise in die Vereine.« Er rückte sich kulturbewußt in dem Stuhle zurecht.

Doch Lassalle spottete. »Ob sie strömen! die Toren. Weil ihr sie künstlich in politischer Dummheit erhaltet, ihr Menschenfreunde. Das ist der Hauptzweck eurer Vereine, ihr Braven! Im Grunde zittert die Bourgeoisie vor diesen Arbeiterbataillonen, und aus Furcht, aus ganz gemeiner Furcht sucht sie die schlummernde Bestie am Kleinkindergängelband und unter der Zuchtrute zu halten.«

»Das ist einfach nicht wahr!« schlug Strasser mit der Hand auf den Tisch, daß die Gläser klirrten.

»Aber, Strasser!« mahnte Marie.

»Nun ja doch,« erhitzte er sich immer mehr. »Da soll einem die Galle wohl nicht überlaufen! Man tut, was man nur kann, man rackert sich ab, den Leuten zu helfen, und dann wird es einem noch als Feigheit ausgelegt.«

»Ich zweifle keinen Augenblick,« lenkte Lassalle ein, »daß mancher Unternehmer es ehrlich meint. Indessen –« Hier mischte Marie Strasser sich zum erstenmal in das Gespräch.

»Um der Wahrheit die Ehre zu geben,« entschuldigte sie scheu, »muß ich bekennen, daß mein Vater neulich einmal geäußert hat, diese Bildungsvereine seien ein Schutz dagegen, daß die Arbeiter als eine Partei gegen die Bourgeoisie ausgespielt würden, wie das in Frankreich doch geschehen ist!«

Strasser blickte die junge Frau entgeistert an.

»Dein Vater mag ja solchen Anschauungen huldigen,« sagte er erbittert. »Ich halte meine Vorträge im Potsdamer Tor-Verein jedenfalls nicht aus Furcht, sondern aus Menschenliebe. Und« – er wandte sein empörungsgerötetes Gesicht Lassalle zu – »wollen Sie etwa auch behaupten, Schulze-Delitzsch organisiere aus Furcht?«

»Nein,« gestand Lassalle ehrlich zu. »Ich kenne Herrn Schulze-Delitzsch zwar nicht persönlich. Aber aus allem, was ich von ihm höre und sehe, weiß ich, daß er ehrlich und warmherzig den Arbeitern helfen will.«

»Na, also,« beruhigte sich gutmütig der Fabrikant.

»Aber ich verhehle mir keinen Augenblick,« fuhr Lassalle fort, »daß seine Mittel das Elend nicht mindern können. Genossenschaften, Konsumvereine, Sparkassen, Invaliden- Hilfs- und Krankenkassen sind geradezu kindliche Mittel gegen die Arbeiternot.«

Da schob Herr Strasser ärgerlich den Stuhl zurück. »Verzeihen Sie, Herr Doktor. Ich bin heute abend etwas abgespannt. Wir hatten in letzter Zeit viel zu tun. Ich bin müde und nicht recht auf Ihre Paradoxen gestimmt. Vielleicht sprechen wir ein andermal weiter. Bitte zahlen, Fräulein Lieschen. Komm, Marie.«

Ein schneller, schmerzlich aufflammender Blick – ein kurzer einender Händedruck – dann verschwand ihre mädchenhafte Gestalt am Arme des Mannes zwischen den Fliedersträuchern.

Gedankenverloren blickte Lassalle ihr nach. Plötzlich faßte er es nicht, daß er damals so paschahaft ihre selbstlose Liebe hingenommen hatte, in den reichen Tagen, da sie in Schönheit und Zärtlichkeit an ihm gehangen hatte. Sekundenlang durchzitterte ihn die Ahnung eines Versäumnisses, der törichten Verschleuderung einer Kostbarkeit seines Lebens. Dann glomm Sophie Adrianownas feines bleiches, schwarz umrahmtes Gesicht aus dem Blätterdunkel heraus. Es war ihm, als hauche der Herbstabend ihm diesen erregenden Duft der Brünetten zu, den er geatmet hatte an jenem Abend, als sie hingerissen von ihrer Lebensaufgabe sprach. Er griff an die Brusttasche. Dort knisterte traut und hoffnungsfreudig ihr letzter Brief, in dem sie ihm mitteilte, daß ihre Reise nach Berlin sich noch immer durch des Vaters Unpäßlichkeit verzögere.

»Bald, bald!« dachte er, zahlte und ging.

»Sie ist mir bestimmt,« frohlockte es in ihm, »nur sie. Marie Krafft ist lieb und gut und sinnig. Aber Sophie ist – – ja, mein zweites Ich ist sie.«

Er sah auf die Uhr. Es war noch früh, kaum halb neun. Nein, nach Hause ging er noch nicht. Jetzt nicht sprechen müssen, auch nicht mit der »guten Gräfin«. Er wollte an Sophie denken und an die heilige Zukunft an ihrer Seite. Er schritt über die Brücke auf Schöneberg zu.

Doch bald entflatterten seine Gedanken dem Liebesidyll. Das Gespräch mit dem Unternehmer hatte seine Tatkraft aufgewühlt. So wie der dachten alle seine Freunde. Duncker, Dohm, Pietsch, alle diese Leute, die sich brusttönend »Demokraten« nannten. Ach, er wußte es ja längst, sehr weit würde er nicht mehr mit ihnen gehen können. Wenn sein Planen reifte, klaffte jäh die unüberbrückbare Kluft auf, die zwischen ihrer Welt und der seinen gähnte. Er stieß den Stock klirrend auf die Erde, daß die feine Ziselierung der Bastille am Knauf sich empfindlich in seine Handfläche einprägte. »Gut,« preßte er willensstark die Lippen zusammen, »dann wird es eben der Tag des Bastillensturms sein, der alle falsche Scheindemokratie und Scheinfreundschaft zum Teufel bläst.«

Da sah er auf der einsamen ländlichen Straße einen Mann auf sich zuschreiten. Er ging gebeugten Kopfes, in schwerem Grübeln. Lassalle nahm ihn scharf in die Augen und lächelte. »Vielleicht auch ein Bastillenstürmer,« dachte er, »der hier draußen vor der Stadt seine Pläne brütet.« Jetzt hatte auch der andere seine Schritte vernommen. Er hob das Gesicht. Da fiel das Licht der Laterne, an der er gerade vorbeikam, auf seine Stirn.

»Diesen Eroberer kenne ich doch,« durchzuckte es Lassalle. Er suchte hastig in seiner Erinnerung. Richtig. Aber natürlich! Und in einer unerklärlichen Stimmung des Glaubens an ein Fatum, ging er auf den Mann zu, den ihm dieser milde Herbstabend in den Weg geführt hatte.

»Guten Abend, Herr Loewe,« grüßte er ihn frank. Der junge Mann stutzte einen Augenblick, dann sagte er, seine Überraschung niederdrückend: »Guten Abend, Herr Doktor Lassalle.«

»Was macht das Königreich Borsig?« scherzte der Doktor.

»Danke,« lachte Loewe und zeigte seine prächtigen Zähne unter dem schwarzen kleinen Schnurrbart. »Die Stammburg ist errichtet.«

»Allewetter!« machte Lassalle. »Sie gehen aber ins Zeug! Darf ich Sie ein Stück begleiten, Sie wollen wohl zur Stadt zurück?«

»Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Doktor,« sagte der andere höflich erfreut. Sie gingen nebeneinander her.

»Also schon die Stammburg gegründet!« knüpfte Lassalle wieder an, »aus der die Eroberungszüge rings ins Land hinein unternommen werden sollen!«

»Ja,« schmunzelte Loewe. »Die Burg steht. Oben im Norden Berlins.«

»Und da ergehen Sie sich hier im wildesten Westen!« neckte Lassalle.

»Ich will zum alten Klingbeil,« erklärte der junge Fabrikant seinen Ausflug. »Sie werden ihn damals in der Krafftschen Gießerei gesehen haben, den ersten Vorarbeiter.«

»Ich entsinne mich nicht,« sann Lassalle.

»Ein findiger Kopf, Solch alter Praktikus kennt jeden Pfiff, den unsereiner sich erst mit langem Kopfzerbrechen austifteln muß. Er hat mir bei meinem jungen Unternehmen mit manchem guten Rat geholfen. – Er wohnt in dem Wächterhäuschen der Fabrik.«

»Dann sind Sie doch aber entschieden zu weit gegangen,« witzelte Lassalle. »Wir sind hier doch längst auf Schöneberger Gelände.«

»Freilich,« nickte Loewe, »ich habe mich in Gedanken – verlaufen.«

»Seit wann sind Sie selbständig?« fragte Lassalle in reger Teilnahme an dem Werden dieses bedeutenden Menschen.

»Seit einigen Monaten.« Und lächelnd fügte er hinzu: »Meine Ausfallsburg ist ein Zimmer in der Borsigstraße, meine Kriegsmannschaft sind zwei Lehrlinge.«

»Es werden ihrer bald hundert sein,« versicherte Lassalle zuversichtlich.

»Ihr Vertrauen spornt mich an,« gestand Loewe warm. »Und Ihre Krone, Herr Doktor? Was ist mit der?«

Lassalle lächelte über das gute Gedächtnis des anderen.

»Ich habe sie inzwischen schön blank geputzt,« sagte er, »und nun werde ich sie mir bald aufs Haupt setzen.«

Der junge Unternehmer nickte wie zu etwas ganz Natürlichem und fragte: »Darf man wissen, Herr Doktor, ob Ihr Reich von dieser Welt ist?«

»Es ist von dieser Welt,« entgegnete Lassalle stark, »es klammert sich mit allen Fasern an diese schöne herrliche Welt. Es will diese Welt hienieden den Millionen zu ihrer Welt gestalten. Es wird das Reich der Mühseligen und Beladenen sein.«

Der junge Mann warf jäh den Kopf zurück und starrte in das bleiche tiefbewegte Gesicht des andern.

»Herr Doktor!« stieß er hervor. In seinen schwarzen Augen glomm Gespensterfurcht.

»Was haben Sie?« fragte Lassalle.

»Ich – eben als ich Sie da traf – Sie sprechen doch von den Arbeitern?«

»Ja – gewiß.«

»Seltsam – seltsam,« flüsterte er mit erstarrten Lippen. »Als wir uns trafen – Sehen Sie, Herr Doktor. Heute bin ich Unternehmer, nicht wahr? Aber gestern war ich noch Arbeiter. Und eben dachte ich an meine Zukunft. Ich –« er lächelte kindlich bescheiden – »ich hatte schon meine zwei – dreihundert Arbeiter. In der Phantasie hat das gar keine Schwierigkeiten. Da bin ich im Handumdrehen Gewehrkönig. Ich treibe nämlich Feinmechanik. Besonders Gewehrfabrikation ist mein Ideal. Ja –« er hob, den Faden suchend, den Hut aus der hohen weißen Stirn und strich über die Augen – »ich war also Herr von etlichen hundert Arbeitern. Und wollte ihnen nicht nur Herr werden, sondern auch der Vater sein. Sie bewahren vor all dem Leid, das ich selbst als Arbeiter erfahren habe. Und fand keinen Weg. Das Lohngesetz – –«

Da lächelte Lassalle. »Sie haben den Kern der Not erfaßt, junger Freund. Das Lohngesetz, ja, das ist es. Das muß aufgehoben werden.«

»Ja – wie?« Er sah mit gierig funkelnden Blicken zu dem großen schlanken Mann auf. Und unter dem Banne dieser forschend brennenden Augen sprach Lassalle zum ersten Male das aus, was er bisher nur zaghaft verschwommen, kaum recht zum greifbaren Gedanken geformt, in sich herumgetragen hatte.

»Durch Staatshilfe,« antwortete er, selbst vor der geborenen Idee erbebend.

Der junge Mensch fuhr herum. »Wie – Staatshilfe?!« Es war ein greller Zweifelsschrei.

»Ja,« sprach Lassalle fest. »Einen andern Weg gibt es nicht.«

»Aber – aber – Herr Doktor – der Staat soll den Arbeitern helfen! Dieser Staat! Unser Staat! Sind Sie nicht Demokrat?«

»Ja, das bin ich. War ich, solange ich denken kann.«

»Und Sie hoffen auf den Staat!«

»Ich hoffe nicht auf ihn. Ich will ihn zwingen.«

Da pfiff es leise zwischen Loewes Lippen. »Ah so – Gewalt!«

Lassalle nickte. »Durch die Revolution. Einen andern Weg sehe ich nicht aus der Wüste. Durch die Revolution muß das allgemeine direkte Wahlrecht erzwungen werden.«

Er blickte verwegen auf den jungen Menschen nieder.

»Ich verstehe nicht recht,« bat der um Aufklärung.

»Ist Ihnen klar, daß die Genossenschaften und all die anderen Mittel Schulze-Delitzschens nichts nützen?« suchte Lassalle auf anderem Wege seinem Begreifen entgegenzukommen.

»Ja.«

»Gut. Nach meiner felsenfesten Überzeugung kann das Joch des Lohngesetzes nur dann gebrochen werden, wenn die Arbeiter selbst – die Unternehmer sind.«

»Wie in Schulze-Delitzschens Genossenschaften?« fragte Loewe enttäuscht.

»Nein, mein lieber junger Freund. Die Schulze-Delitzschischen Genossenschaften sind Kredit-, Vorschuß- oder Rohstoffvereine. Nicht wahr? Das heißt also: eine Anzahl Handwerker tut sich zu einer Gemeinschaft zusammen, die ihnen im Bedarfsfalle Kredit und Vorschüsse gewährt oder als Rohstoffverein, meinetwegen der Schuster, en gros, also billiger als der einzelne es könnte, Leder einkauft. So ist es doch?«

Loewe nickte erkenntnisglühend.

»Sie begreifen sofort,« drang Lassalle vorwärts, »daß diese Schulze-Delitzschischen Genossenschaften überhaupt nicht für den Industriearbeiter, sondern nur für denjenigen existieren, der ein Geschäft für eigene Rechnung betreibt, also für den kleinen Handwerksbetrieb. Für den Arbeiterstand im engeren Sinne, für den in der fabrikmäßigen Großproduktion beschäftigten Arbeiter, der doch keinen eigenen Geschäftsbetrieb hat, für den er Kredit und Rohstoff benutzen könnte, existieren beide Vereine nicht.«

Sie waren an die Lietzower Wegstraße gekommen. Da legte Loewe seine Hand bittend auf Lassalles Arm: »Verzeihen Sie, Herr Doktor, wenn ich Sie unterbreche. Wollen Sie mir eine große Freude bereiten? Begleiten Sie mich zu Klingbeil. Wenn Sie ein Mittel zur Befreiung des Arbeiterstandes besitzen, werden Sie dem Manne wie ein Heiland erscheinen. Er bangt und harrt und hofft jede freie Stunde seines Tages und seiner Nächte nach einem Messias für seiner Genossen Not. Wollen Sie? Sonst laufe ich schnell hin und sage ihm, daß ich heute nicht kommen kann. Ich muß Ihren Plan zu Ende hören.«

»Ich komme sehr gern mit, lieber Loewe,« willigte Lassalle sofort ein. »Ich bin Ihnen sogar für diese Einführung dankbar. Ich habe hier in Berlin fast gar keine Fühlung mit Arbeiterkreisen. Das tut meiner Sache Abbruch, weil ich nicht weiß, wie sie hier fühlen und denken. In Düsseldorf früher war das besser.«

»Ich danke Ihnen,« preßte der junge Mensch Lassalles Hand.

Sie bogen in die Lietzower Wegstraße ein.

»Es wundert mich eigentlich,« bekannte Lassalle, »unter den Arbeitern solch kundigen Thebaner wie diesen Klingbeil zu finden. Im großen ganzen haben die Arbeiter heute leider noch keine Spur von Klassenbewußtsein, noch davon eine Ahnung, daß es überhaupt eine soziale Frage gibt.«

»Leider,« bedauerte Loewe. »Die heute Ausschlaggebenden sind während der letzten zehn Jahre dunkelster Reaktion aufgewachsen, in denen jedes politische Leben tot war. Sie hatten daher keine Gelegenheit, sich politisch oder sozial zu bilden. Doch trotz alledem –« er lächelte – »wenn ein Messias aufersteht, wird er sein Volk finden.«

Sie waren zu dem Tor des Krafftschen Etablissements gekommen. Da zauderte Lassalle in feinfühligem Bedenken: »Ich weiß nicht, ob ich dieses Grundstück betreten darf. Ich bringe den Krieg gegen seinen Besitzer.«

»Bah!« schnitt Loewe mit der Hand durch die Luft, »Sie bringen den Krieg, ja. Im Krieg aber ist jedes Mittel recht.«

Und er durchschritt stracks das Tor und ging auf die Tür des niedrigen Wächterhäuschens zu. Lassalle folgte. Er sah über die alten Arbeitshallen hinweg neue große Fabrikbauten sich türmen. Ei ja, Strasser hatte recht, sie hatten hier seit dazumal tüchtig geschafft.

Loewe klopfte an die Tür, öffnete sie und wandte sich Lassalle zu: »Bitte, treten Sie nur ein!«

Als der Doktor die etwas erhöhte Schwelle überstieg, stand er mitten in dem Zimmer der Familie Klingbeil. Sein erster blitzhafter Eindruck war: Gartenlaubestimmung. Behagliche Gartenlaubestimmung in dieser Arbeiterwohnung! Um den Tisch mit der Berzeliuslampe saß Klingbeil, die Hornbrille auf dem Sattel der Nase, in eifriger Lektüre der demokratischen »Reform«.

Frau Klingbeil strickte eifrig an einem grauen Strumpfe, und Hedwig, die Tochter, las in einem abgegriffenen Romanhefte.

Beim Eintritt des fremden eleganten Herrn fuhr alles empor.

»Guten Abend!« grüßte Lassalle.

Klingbeil blickte spähend über den Hornrand der Brille hinüber in das Dunkel der Tür. Da war auch Loewe eingetreten, drang rasch in den Lichtkreis der Lampe vor und sagte: »Abend! Ich bringe hier einen Gast – Herrn Dr. Lassalle, der eine wichtige Mitteilung für Sie hat, lieber Klingbeil.«

Nun stand alles um den Tisch herum. Die Frauen blickten neugierig drein, der Mann kam auf Lassalle zu, bot ihm die arbeitsschwielige Hand und sagte: »Ich freue mich, Herr.« Damit nahm er ihm Zylinder und Bastillenstock ab.

Während Lassalle sich artig vor den »Damen des Hauses« verbeugte, erläuterte Loewe: »Ich traf Herrn Dr. Lassalle zufällig auf dem Wege hierher. Er hatte die große Güte, mir von seinem Plane der Arbeiterbefreiung zu sprechen. Da dachte ich, das wäre was für Sie, Klingbeil, und bat Herrn Doktor um seine Begleitung.«

»Sehr wacker, lieber Loewe,« dankte der Arbeiter. »Sehr freundlich von Ihnen, Herr Doktor, in unsere bescheidene Behausung zu kommen.«

»Oh,« lächelte Lassalle und sah sich in dem sauberen Räume mit der lastenden Decke um, »ich finde es ganz reizend gemütlich bei Ihnen.«

»Ja,« sagte der große Mann mit dem energischen glattrasierten runzligen Gesicht, »man hat es ja besser als die andern. Erstens bin ich technisch geschulter Vorarbeiter, Und dann habe ich freie Wohnung, weil ich zugleich Fabrikaufseher bin.« Damit lud er den Gast auf einen Stuhl ein, den Mutter Klingbeil flugs mit ihrer derben Schürze bearbeitet hatte.

»Danke,« nickte Lassalle und setzte sich. Auch die andern nahmen wieder Platz. Die Frau hantierte befangen mit ihren Nadeln, die Tochter aber sah dem feinen Gast hell in die Augen. Sie hatte in ihm sofort den Herrn wiedererkannt, der sie damals so dreist angeschaut hatte, als sie den Kaffee ins Bureau trug. Heute erschreckte sie solcher Blick nicht mehr. Sie war seit Jahr und Tag Verkäuferin in Gersons Modebazar und hatte manchen frech bewundernden Blick aus Männeraugen aufgefangen, wenn sie in ihrem netten, gutsitzenden Kleide den weiten Weg zum Geschäft durcheilte.

Doch Lassalle beachtete sie kaum, so sehr sie auch seine Aufmerksamkeit einzufangen suchte. Der schöne Mann gefiel Fräulein Hedwig Klingbeil. Denn sie war voll der flotten Lebenslust, die ein erbauliches Erbteil der hübschen Berliner Bazarfräulein geblieben ist.

»Also,« begann Vater Klingbeil in seiner langsam wägenden Art, »Sie wollen die Lage von uns Arbeitern bessern? Das ist ja sehr schön.« Es klang ein wenig zweifelnd.

»Vielleicht,« wandte Loewe sich höflich an Lassalle, »darf ich erst einige Worte zu Ihrer Einführung sagen. Herr Dr. Lassalle, mein lieber Klingbeil, ist –« er lächelte Lassalle zu – »ich habe seit unserer ersten Begegnung öfter Ihren Namen gehört – Herr Doktor ist einer unserer ersten Berliner Gelehrten.«

Vor Hochachtung entfielen der guten Frau Klingbeil etliche Maschen. Hedwig machte sich noch ein wenig bemerkbarer durch Rücken mit ihrem Stuhle, Vater Klingbeil nickte.

»Er hat auch 1848 wacker gestritten und ist sogar wegen Aufforderung zur Waffengewalt bestraft worden.«

Frau Klingbeil blickte ganz bang, Hedwig rief: »Ach nee!«

Lassalle lachte. »Doch. Sie haben meine Vergangenheit ja gründlich sondiert, lieber Loewe.«

»Das weiß fast jeder in Berlin,« entschuldigte er. »Ich habe auch vernommen, daß Sie neun Jahre die Prozesse der Gräfin Hatzfeld geführt und gesiegt haben. Sie sehen also, Klingbeil, wir haben es mit einem Manne zu tun, von dem man erwarten muß, daß er das auch durchführt, was er sich vornimmt. So, nun kennen Sie Herrn Dr. Lassalle, nun soll er reden!«

In strahlender Befriedigung setzte er sich auf den Holzstuhl zurück.

Da sagte Klingbeil: »Besten Dank, Loewe. Wissen Sie, Herr Doktor, unsereins ist 'n bißchen unglaubhaft, wenn 'n Herr wie Sie uns Arbeitern, helfen will. Es wollen heutzutage zu viele helfen. Die ganze Bourgeoisie will uns helfen. Da kommen sie angesetzt mit ihren Bildungsvereinen und Genossenschaften und Sparvereinen, und wie das Zeugs alles heißt. Mag ja ganz gut gemeint sind, aber nutzen tut es uns keinen Deut.«

»Freut mich, Herr Klingbeil, das aus Ihrem Munde zu hören,« begrüßte Lassalle diesen Vorwurf. »Da werden wir uns sehr bald verstehen. Ich möchte nur gern –« er warf einen zögernden Blick auf die beiden Frauen – »daß mein Plan noch geheim bleibt. Er ist noch nicht in allen Teilen reif. Nur mit einigen einsichtigen Männern aus Ihren Kreisen möchte ich ihn vorerst beraten.«

»Ih,« machte der Mann, »Sie meinen von wegen der Weiber. Da können Sie ruhig reden. Meine Olle versteht so nichts wie ihre Wirtschaft. Und das Mädel – die hat andre Dinge im Kopf. Leider nur zu ville. Steck die Nase in den Schmöker, Mädel!«

Als er so die Tochter gutmütig schnauzend anfuhr, wurde sein arbeitzerfurchtes Gesicht ganz hell vor Zärtlichkeit. Das Mädel war sein Stolz, das sah Lassalle sofort. Und plötzlich betrachtete er sie aufmerksam. Sehr hübsch, entschied er wohlwollend, sehr hübsch. Richtiger Berliner Typ.

Da entschuldigte Frau Klingbeil hastig: »Wir können ja hinausgehen.«

»Aber bitte!« wehrte Lassalle.

»Wo willst du denn hin, Mutter!« bedachte der Mann. »Wir haben nämlich nur diese eine Stube,« belehrte er, »und da hinten eine kleine Kamurke, wo die Jöhre schläft.«

Die »Jöhre« schnitt ein vorwurfsvolles Gesicht. »Ich meine natürlich die Dame dort,« verbesserte lachend der Vater. »Aber nun legen Sie mal los, Herr!«

Er kreuzte die Arme über dem blauen Arbeitskittel und ward ganz gespannteste kritische Aufmerksamkeit.

»Ich sagte bereits,« hob Lassalle an, »daß mir die Einzelheiten meines Programms, ja der Schlüssel des ganzen Planes noch nicht klar sind. Meine Reformvorschläge, die ich Ihnen nur in ganz großen Linien zeichnen kann, zerfallen in politische und soziale. Die Arbeiter müssen zunächst eine neue politische Partei konstituieren. Sie dürfen nicht länger am Gängelband der liberalen Partei einhertorkeln.«

»Sehr gut,« brummte Klingbeil.

»Der Arbeiterstand muß sich als selbständige politische Partei konstituieren.«

Die beiden Männer steckten aufhorchend die Köpfe vor.

» Die Vertretung des Arbeiterstandes in den gesetzgebenden Körpern Deutschlands – dies ist es allein, was in politischer Hinsicht seine legitimen Interessen befriedigen und seine sozialen Forderungen durchdrücken kann. Also: los von der Demokratie – Bildung einer selbständigen Partei mit eigenen großen Zielen.«

Lassalle blickte die beiden Männer beifallfordernd an.

»Ich verstehe,« sagte Loewe, »möchte aber erst noch Ihre sozialen Vorschläge hören.«

»Ja, bitte,« sekundierte Klingbeil. »Jedenfalls fassen Sie die Sache richtig an, wenn Sie uns Arbeiter von der Fortschrittspartei wegholen, mit der unsere Interessen nichts zu tun haben.« Und bärbeißig gemütlich herrschte er die Tochter an, die kein Auge von Lassalle wandte: »Steck die Nase in den Schmöker, Jöhre!«

»Nun zu der mit Recht in höherem Grade Sie interessierenden sozialen Frage!« fuhr Lassalle fort. »Auf die Unfähigkeit der Schulze-Delitzschischen Mittel brauche ich nicht einzugehen. Die kennen Sie beide.«

Die Männer nickten stumm.

»Ich kann also gleich auf den Kern meiner Reform zusteuern und Ihnen darlegen, wie ich das eherne ökonomische Gesetz zu beseitigen gedenke. Alles heutige Arbeiterelend kommt, mein lieber Klingbeil, von diesem Lohngesetz, das den Arbeitslohn dahin bestimmt, daß der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigsten Lebensunterhalt beschränkt bleibt, der in einem Volke gewohnheitsmäßig zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist. Verstehen Sie, Klingbeil! Dies ist der Punkt, um den der wirkliche Tageslohn in Pendelschwingungen jederzeit herum graviert, ohne sich jemals lange weder über ihn erheben, noch unter ihn hinunterfallen zu können. Diesen Ausgangspunkt müssen Sie ganz klar erfassen, meine Herren.«

Man sah dem alten intelligenten Arbeiter die harte Denkarbeit an. »Sprechen Sie nur weiter,« bat er, »ich folge.«

Langsam, eindringlich legte Lassalle den beiden Männern die Wucht dieses Gesetzes dar.

»Aber das alles ist ja so klar wie dicke Tinte!« stellte Klingbeil plötzlich erstaunt fest. »Da haben wir ja mit einemmal den Schlüssel zu unserem Elend.«

»Ja,« lächelte Lassalle, »den haben Sie nun in der Hand. Ich freue mich, wie Sie ihn gleich gepackt haben. Dieses Lohngesetz sagt alles. Es beweist klipp und klar, daß, solange es waltet, der Arbeiter niemals mehr erhalten kann als das, was er zum nackten Leben braucht. In alle Ewigkeit hinein nicht.«

Die beiden Männer sahen sich an und nickten schwer und bedeutungsvoll.

Lassalle schritt weiter. »In diesem Gesetz liegt, wie in einem riesigen Pulverturm, ein Sprengstoff aufgehäuft, der die moderne Gesellschaft zertrümmern muß, wenn ein Feuerfunken hineinfliegt. Ah, die Bourgeoisie stellt ihre Wächter vor den Turm, daß kein Arbeiterauge den gefährlichen Zündstoff erblickt! Denn in diesem Gesetz brütet eine solche hoffnungslose Verzweiflung, die Ewigkeit des Elends ist so aufpeitschend, daß die gequälten Arbeiterseelen wie Feuergarben aufprasseln müssen, wenn einmal die furchtbare Tiefe ihres Jammers sich sichtbar vor ihnen aufkluftet. Dann muß der Brand den Pulverturm in die Luft sprengen und das Bourgeois-Unternehmertum unter seinen Trümmern begraben. Das weiß sie und hütet die Kraft dieses Gesetzes. Und deshalb, Klingbeil, ist es eine Tat, dieses Gesetz den Arbeitern zu weisen, eine Tat voll innerer Befreiungskraft.«

»Wie er spricht!« flüsterte Hedwig der Mutter zu, doch laut genug, daß Lassalle es hören mußte.

»Steck die Nase ins Buch!« drohte der Vater, und zu Lassalle gewendet sagte er: »Da haben Sie recht. Nun weiter, wie wollen Sie dieses Lohngesetz umstürzen?! Da bin ich doch gespannt.«

Auch Loewe rückte Vor Ungeduld auf seinem Stuhle.

Lassalle saß einige Sekunden stumm sinnend, dann sprach er weiter: »Betrachten wir einen Augenblick näher die Wirkung und Natur dieses Gesetzes. Von dem Arbeitsertrag des produzierten Gegenstandes wird zunächst so viel abgezogen und unter die Arbeiter verteilt, als zu ihrer Lebensfristung erforderlich ist. Das ist der Arbeitslohn. Der ganze Überschuß dieses Arbeitsertrages fällt auf dem Unternehmeranteil. Es ist daher die Folge dieses ehernen Lohngesetzes, daß der Arbeiter sogar von dem gesteigerten Arbeitsertrage, von der gesteigerten Ertragsfähigkeit seiner eigenen Arbeit notwendig ausgeschlossen ist! Für ihn immer in alle Ewigkeit die Lebensnotdurft, für den Unternehmer immer alles, was über diese hinaus an der Arbeit verdient wird.«

»Stimmt,« rief Hedwig. Die Mutter fuhr erschreckt auf und stieß sie in die Seite. Der Vater drohte: »Wirst du woll!« Lassalle und Loewe lachten.

»Kann mir gar nichts schaden, wenn ich in diesen Dingen auch ein bißchen aufgeklärt werde,« wehrte sie sich. »Auch unser Lohn ist elend genug. Und« – sie sprach zu Lassalle, »Sie brauchen nichts zu fürchten. Ich kann schweigen, Herr Doktor.« »Ich zweifle nicht,« meinte er höflich.

»Ein rabiates Mädel,« schwelgte der Vater.

»Und nun das Mittel,« nahm Lassalle seine Ausführung wieder auf.

»Einen Augenblick,« unterbrach Klingbeil. »Hede, bring mal ein bißchen Bier! Dem Herrn Doktor muß ja die Kehle ganz trocken werden von dem vielen Sprechen.«

Hedwig holte, Lassalle und Loewe tranken dankend, dann fuhr der Doktor fort: »Wir sind uns darüber einig, daß die Schulze-Delitzschischen Assoziationen dem Arbeiterstande als solchem nicht helfen können, weil sie lediglich dem kleinen Handwerker, der ein eigenes Geschäft betreibt, Kredit und Vorschuß und billige Einkaufsmöglichkeiten für sein Rohmaterial gewähren. Das kann dem Arbeiter, der in der Industrie tätig ist, naturgemäß nichts helfen. Und doch liegt in der Idee dieser Assoziationen ein gesunder, brauchbarer Gedanke. Das Prinzip der freien individuellen Assoziation der Arbeiter vermag die Lage des Arbeiterstandes zu bessern –« – er hob die Stimme – »allerdings nur durch seine Anwendung und Ausdehnung auf die fabrikmäßige Großproduktion

»Nanu?!« machte Loewe.

Klingbeil stützte die Ellenbogen auf die Knie, legte das runzlige Gesicht in die verarbeiteten Hände und saß in vorgebeugter gespannter Horcherstellung.

»Den Arbeiterstand zu seinem eigenen Unternehmer machen,« rief Lassalle triumphierend – »das ist das Mittel, durch welches – und durch welches allein – wie Sie jetzt sofort selbst sehen werden, jenes eherne und grausame Gesetz beseitigt werden kann, das den Lohn bestimmt.«

Die Männer atmeten erregt.

»Wenn der Arbeiterstand sein eigener Unternehmer ist, so fällt jene Scheidung zwischen Arbeitslohn und Unternehmergewinn und mit ihr der bloße Arbeitslohn überhaupt fort, und an seine Stelle tritt als Vergeltung der Arbeit: der Arbeitsertrag!«

»Aber!« schnellte Loewe wie eine Feder in die Höhe, »wie denken Sie sich denn das?«

Und Klingbeil schüttelte den Kopf. »Wo sollen wir das Geld hernehmen!«

»Ja,« rief Loewe hitzig enttäuscht, »wo sollen die zur Anlage der Fabriken erforderlichen Millionen herkommen, Herr Doktor!«

Lassalle lächelte überlegen, wie er damals gelächelt hatte, als er der Neugier seiner Gäste langsam die Überraschung des Haschisch verriet. »Ihnen habe ich es ja schon gesagt, lieber Loewe.«

»Was,« sprang Loewe auf, »der Staat?!«

»Der Staat?!« fragte der Arbeiter und hielt die Hand an die Ohrmuschel, als glaube er, schlecht gehört zu haben. Doch Lassalle erhärtete zuversichtlich: »Ja, meine Herren, der Staat. So unwahrscheinlich es zuerst auch klingen mag. Lassen Sie mich nur erst ausreden! Es ist unwiderleglich Sache und Aufgabe des Staates, die große Sache der freien individuellen Assoziation des Arbeiterstandes fördernd und entwickelnd in seine Hand zu nehmen und es zu seiner heiligsten Pflicht zu machen, den Arbeitern Mittel und Möglichkeit zu dieser Selbstorganisation und Selbstassoziation zu bieten.«

»Keinen Groschen!« sprudelte Loewe.

Unbeirrt sprach Lassalle weiter: »Ist es nicht gerade die Aufgabe und Bestimmung des Staates, die großen Kulturfortschritte der Menschheit zu erleichtern und zu vermitteln? Dies ist sein Beruf. Dazu existiert er.«

Klingbeil lachte zornig auf.

»Ich könnte Ihnen hundert Beispiele anführen, Herr Klingbeil, bei denen der Staat geholfen hat: bei dem Bau von Kanälen, Chausseen, Posten, Paketbootlinien, Telegraphen, Landrentenbanken, Einführungen neuer Fabrikationszweige. Und vor allem bei den Eisenbahnen. Als, mein lieber Klingbeil, bei uns die Eisenbahnen gebaut werden sollten, da mußte in allen deutschen – und ebenso in allen auswärtigen – Ländern der Staat in der einen oder andern Weise helfen, meistens in der Weise, daß er mindestens die Zinsgarantie für die Aktien – in vielen Ländern noch weit größere Leistungen – übernahm.«

»Allerdings,« kam Loewe ein wenig näher.

»Und,« bedachte Lassalle, »diese Zinsgarantie, mein lieber Klingbeil, stellt noch dazu folgenden Löwenkontrakt der Unternehmer – der reichen Aktionäre – mit dem Staat dar: Sind die neuen Eisenbahnunternehmungen unvorteilhaft, so soll der Nachteil auf den Staat fallen. Sind die neuen Unternehmungen dagegen vorteilhaft, so soll der Vorteil – die starken Dividenden – nur den reichen Aktionären zukommen. Ohne diese Hilfe des Staates hätten wir vielleicht noch heute auf dem ganzen Kontinent nicht eine Eisenbahn! Scheint es Ihnen jetzt noch so fern aller Möglichkeit, daß der Staat bei großen Kulturaufgaben einspringt?«

Loewe gestand zögernd ein: »Allerdings« zu, Klingbeil machte ein zugänglicheres »Hm«.

Mutig sponn Lassalle den Faden weiter:

»So groß nun auch der durch die Eisenbahnen bewirkte Kulturfortschritt war, er sinkt doch zu einem verschwindenden Punkte zusammen gegenüber jenem gewaltigen Kulturfortschritt, der durch die Assoziation der arbeitenden Klasse vollbracht würde. Denn was nützen alle aufgespeicherten Reichtümer und alle Früchte der Zivilisation, wenn sie immer nur für einige wenige vorhanden sind und die große unendliche Menschheit stets der Tantalus bleibt, der vergeblich nach diesen Früchten greift?!«

»Bravo,« applaudierte Hedwig hingerissen.

Lächelnd wandte Lassalle sich ihr zu: »Nein, schlimmer als Tantalus, Fräulein Klingbeil; denn er hatte doch wenigstens nicht die Früchte hervorgebracht, nach denen sein dürstender Gaumen vergeblich zu lechzen verdammt war.«

Da lachten alle, und Klingbeil meinte: »Nun sind diese Arbeiterbildungsvereine doch zu etwas gut gewesen. Sie haben uns wenigstens auf Ihre Worte vorbereitet. Da haben sie uns doch nicht ganz umsonst den Kopf mit Tantalus und all sowas vollgestopft, statt uns den Magen vollzustopfen. Nun weiter, Herr Doktor, weiter!«

»Sie sehen also, wenn je, so würde dieser gewaltige Kulturfortschritt eine hilfreiche Intervention des Staates rechtfertigen. Und nun, vor allem, Fräulein Klingbeil,« lächelte Lassalle, »was ist denn der Staat?«

Sie wurde glühend rot.

»Sie brauchen sich Ihren hübschen Kopf nicht zu zergrübeln,« befreite er ihre Verlegenheit, »ich sag' es Ihnen schon selbst. Der Staat« – er machte eine verkündungsstolze Pause – »der Staat sind die armen Klassen. Das ist der Staat. Nicht wahr, Fräulein Klingbeil?«

»Ja, natürlich,« begriff sie behende. »Und nu soll Vater noch mal sagen, ich soll keinen Staat machen.«

»So ein Mädel!« tadelte sanft die Mutter.

»'n richtiger Berliner Schnabel,« lobte der Vater. »Aber nu sagen Sie, Herr Doktor, wieso sind wir Armen der Staat?«

»Das kann man sehr einfach zahlenmäßig nachweisen. Nach der offiziellen preußischen Statistik haben in Preußen 72 ¼ Prozent der Bevölkerung ein Jahreseinkommen von unter 100 Talern, leben also in der elendesten Lage. 16 ¾ Prozent haben ein Einkommen von 100 bis 200 Talern, leben also noch in einer kaum besseren Lage, 7 ¼ Prozent haben ein Einkommen von 200 bis 400 Talern, leben also noch in bedrückter Lage. Daraus ergibt sich klar, denn diese stummen amtlichen Zahlen schreien eindringlicher als lange Reden die traurige Größe des Elends in alle Welt, daß die beiden untersten, ganz elenden Klassen allein 89 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Nimmt man noch die 7 ¼ Prozent der dritten, immer noch unbemittelten und bedrückten Klasse hinzu, so erhalten Sie 96 ¼ Prozent der Bevölkerung in gedrückter dürftiger Lage. Also von 100 Einwohnern Preußens gehören mehr als 96 zu den notleidenden Klassen! Was ist also der Staat? Diese 96 ¼ Prozent sind der Staat, Fräulein Klingbeil, neben denen die 3 ¾ Prozent der Besitzenden vollständig verschwinden. Ist das klar?«

Die Männer nickten bestätigend. Das junge Mädchen rief: »Aber mächtig!«

»Sie sehen also,« belächelte Lassalle das eifrige Verständnis, »daß der Staat überhaupt nichts anderes ist, als die große Gemeinschaft der arbeitenden Klassen, und daß also die Hilfe und Förderung, durch welche der Staat jene kleineren Produktionsgemeinschaften ermöglichen würde, gar nichts anderes wäre, als die vollkommen natur- und rechtmäßige, vollkommen soziale Selbsthilfe, welche die arbeitenden Klassen als große Staatsgemeinschaft sich selbst, ihren Mitgliedern, als vereinzelte Individuen erweisen.«

»Gut,« schloß Loewe. »Ich bekenne, alles was Sie sagen, Herr Doktor, hat etwas ungemein Verführerisches. Aber –«

»Ja,« zweifelte Klingbeil, »wie soll man den Staat zur Hilfe zwingen?«

»Ja doch,« drängte Hedwig. Sie hatte ganz fieberhafte Wangen.

»Die Antwort,« lächelte Lassalle – »wird sofort vor Ihren klugen braunen Augen liegen, Fräulein Klingbeil. Die Hilfe wird nur ermöglicht werden« – – er erhob sich und stand hoch und schlank in der niedrigen Stube – »durch das allgemeine und direkte Wahlrecht. Wenn die gesetzgebenden Körper Deutschlands aus dem allgemeinen und direkten Wahlrecht hervorgehen, – dann, nur dann werden die Arbeiter den Staat bestimmen können, sich dieser seiner heiligsten Pflicht zu unterziehen. Das allgemeine direkte Wahlrecht muß also das prinzipielle Banner und Losungswort der politischen Arbeiterpartei werden!«

Alle schwiegen, gepackt von dieser kraftvollen Verkündung.

»Und dann werden die unbemittelten Klassen der Gesellschaft,« fuhr er leiser fort, »es sich selbst zuzuschreiben haben, wenn und so lange ihre Vertreter in der Minorität bleiben.«

Er setzte sich. Keiner wagte ein Wort in die niedergesunkene Stille der Offenbarung.

»Mehr weiß ich heute noch nicht,« kam es endlich schlicht von Lassalles Lippen. »Wie man wieder die Einführung des allgemeinen direkten Wahlrechts erzwingt – das wollen wir ein andermal beraten.«

Da hatte Ludwig Loewe seine Hand mit seinen beiden Fäusten umklammert und bebte in leidenschaftlichem Hoffen:

»Sie haben den Weg gefunden. Sie werden ihn gehen. Und wenn Sie einen treuen Kämpen brauchen: ich gehe mit Ihnen durch dick und dünn.«

Da war auch das junge Mädchen von ihrem Stuhl herunter und bei Lassalle. Ganz ernst und flammend, ohne jede weibliche Koketterie, brachte sie ihre begeisterte Jugend dar: »Ich gehe auch mit Ihnen, Herr Doktor. Auch ich bin ein Weib der notleidenden Klassen. Ich hatte nicht alles verstanden, was Sie gesagt haben. Aber doch so viel, daß ich weiß, Sie meinen es gut mit uns und werden uns helfen.«

Gerührt, betroffen nahm Lassalle die kleine gepflegte Hand.

Die Mutter starrte mit großen Augen, ans denen die alte, ewige Verwunderung der Mütter staunte, die so wenig von dem heimlichen Ringen ihrer Kinder weiß und vor Rätseln steht, wenn es plötzlich einmal zur Tat auflebt.

Vater Klingbeil aber legte den Arm um des Mädchens Schulter und schmunzelte: »Sag' ich's nicht, ein rabiates Ding! Aber recht hat sie, wenn ich selbst auch nicht ganz so stürmisch in die Zukunft laufe.« Und plötzlich gab er Lassalle die Hand, daß er fast aufschrie unter dem Druck dieser Schmiedefaust:

»Sie sehen den Weg, Doktor. Wer soweit gefunden hat, findet auch weiter.«

Und mit belegter rauher Stimme sagte er ganz leise: »Ich freue mich, Doktor, daß wir Sie gefunden haben.«


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