Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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VI.

Noch immer bedrohte Lassalle die Ausweisung. Der Aufenthalt in Berlin war ihm wegen seiner Betätigung im Revolutionsjahr, wegen der Aufforderung zur Steuerverweigerung und Organisation des bewaffneten Widerstandes gegen die Regierung, nur auf Widerruf gestattet worden. Infolge des Skandals, den die öffentliche Schlägerei erregte, erfolgte der Widerruf. Doch sein Mißgeschick ward ihm zum Heile. Des braven Herrn Hirsch Mendelsohn Prophezeiung ward Ereignis. Humboldt verwandte sich für die Immediateingabe seines Schützlings beim Prinzen Wilhelm, und nach einigem Zaudern wurde dem »gefährlichen Menschen« der Aufenthalt in Berlin dauernd gestattet. Der Intendanturrat aber wurde kassiert und erhielt Gelegenheit, ein langes Jahr hindurch auf Festung die Technik des Indianerkampfes zu bebrüten.

Handschriftliche Notiz:
Lassalle. Nationalzeitung 29. Mai 1858. Lassalle. Franz Funcker. Labrig. Bermann.

– Die hiesigen Blätter enthalten über einen vorgestern (Donnerstag) Nachmittag gegen 3 Uhr auf der Promenade im Thiergarten am Brandenburger Thore stattgehabten Vorfall folgende Mittheilung:

»Hr. L. war in einem hiesigen Privathause oft mit einem Herrn Intendantur-Rath F. zusammengetroffen; letzterer, der lange Jahre in diesem Hause verkehrt hatte, gab den Besuch desselben vor drei Monaten plötzlich auf und zwar, wie er ziemlich deutlich an den Tag legte, aus Abneigung gegen Hrn. L., obschon kein Wortwechsel oder beleidigende Auftritte zwischen ihm und Hrn. L. vorgekommen waren. Vorgestern erschien unerwarteter Weise Herr Intendantur-Assessor V. bei dem Hrn. L. und brachte demselben vom Rathe F. eine Forderung auf Säbel, falls Herr L. nicht ein gewisses Lächeln, das bei einer bestimmten Gelegenheit in jenem Hause stattgehabt habe, vor Zeugen zurücknehmen wolle, Hr. L. erklärte, »es möge wohl nie ein Fall vorgekommen sein, in welchem eine Forderung auf einen so nichtssagenden und frivolen Vorwand gegründet worden.« (Jenes angebliche Lächeln, wegen dessen Hr. F. seine Forderung stellte, hatte überdies schon vor vier Monaten stattgehabt und beide Herren sich noch nach demselben in dem gedachten Hause mehrfach gesprochen.) »Ueberdies müsse ihm diese Forderung um so auffälliger erscheinen, als dem Herrn Rathe F. aus einem ausführlichen Gespräch von früherher seine (L.'s) Ansichten über die Verwerflichkeit des Duells bekannt seien; der Herr Rath habe daher allerdings leicht ihn zu fordern, da er wisse, daß er (L.) auf kein Duell eingehen werbe. Er müsse daher aus doppelten Gründen die Ehre, um welche der Herr Rath ihn ersuchen lasse, abschlagen.« – Vorgestern nun, als sich Herr L. von seiner Wohnung in die Stadt begiebt, begegnet ihm der Assessor B. Während L. seinen Weg ruhig fortsetzt, kehrt B. um und tritt bald darauf mit Herrn Intendanturrath F., der eine Reitpeitsche in der Hand schwingt, dem seinerseits stehen bleibenden Herrn L. in den Weg. Mit den Worten: »Verfluchter Judenjunge! hat man dir meine Ausforderung bestellt?« schlägt der Rath mit der Reitpeitsche nach L., während Assessor B. Herrn L. von hinten mit Schlägen überfällt und zu fassen sucht. Noch hat aber Herr L. Zeit, mit einem Stock, den er stets zu tragen pflegt, einen solchen Hieb auf den Kopf des Herrn F. zu führen, daß diesem das Blut in Strömen über das Gesicht schießt. Jetzt von Hrn. B. rücklings zur Erde gerissen, reißt L. seinerseits den inzwischen wieder zur Besinnung gekommenen und aufs neue auf ihn losschlagenden Rath mit sich zu Boden, zerbricht ihm die Reitpeitsche, die er ihm entwindet, und während er sich mit Schlägen und Tritten des von ihm festgehaltenen Rathes erwehrt, Hr. B. aber immer von hinten auf ihn losschlägt, nahen sich Leute, welche dem Ueberfall ein Ende machen, indem sie einen Schutzmann herbeirufen, der die Kämpfenden trennt und die beiden Angreifer, sowie den selbst unverletzten, aber von dem Blute des Hrn. Raths ganz bedeckten Hrn. L. zum Polizeilieutenant führt. – Ein derartiger Anfall zu Zweien gegen Einen ist in der Geschichte ähnlicher Händel wohl unerhört. Es steht zu erwarten, daß die strengste gerichtliche Verfolgung diesen brutalen und mit Vorbedacht ausgeführten Ueberfall gebührend zu strafen wissen wird.«

Die neue Sicherung seines äußeren Lebens gab Lassalle die Ruhe zur Vorbereitung auf sein Lebenswerk. Noch lag der Plan, dem Heere der Enterbten ein Messias zu werden, nur wie eine rotglühende Morgenwolke am Horizonte seines Bewußtseins. Alte Erinnerungen wurden lebendig: Er dachte daran, daß Heine ihn einst in Paris dem Dichter Herwegh mit den Worten vorgestellt hatte: »Je vous présente un nouveau Mirabeau.« Ja, ein Mirabeau der Arbeiter wollte er werden. Ihr Führer und ihr Heiland. Zugleich sah sein schrankenloser Ehrgeiz ihn schon an der Spitze schwarzwimmelnder marschierender Bataillone auf dem Wege zur Macht, zu der er sich geboren fühlte.

An die praktische Verwirklichung seiner Pläne dachte er noch nicht. Die Wege würde die Zeit weisen, wenn sie reif ward.

Er studierte die Werke der englischen Nationalökonomen von Adam Smith bis Stuart Mill, er riß die Lehre der Franzosen Saint Simon, Fourier, Louis Blanc an sich, er bemächtigte sich der Deutschen. Und die debatteheißen Nächte, die er als Student einst in den Konventikeln der Breslauer Burschenschaft durchstritten, standen auf aus dem vergessenen Dunkel der Vergangenheit. Auflebten wieder die Gespräche, die er im Jahre 1848 mit Karl Marx geführet hatte, als jener aus der Neuen Rheinischen Zeitung ein heftiges Windlein in die Revolutionsstürme geblasen. –

Damals hatte er oft den beredten Worten des um sechs Jahre älteren Freundes gelauscht. Doch andere Ziele lockten in dieser kampfwilden Zeit. Damals stand er für die Bourgeoisie auf der Schanze. Der vierte Stand ruhte noch ungeboren im Schöße der jungen deutschen Industrie.

Lassalle eröffnete eine lange Korrespondenz mit dem in London Verbannten.

Er disputierte mit ihm und lernte aus den lehrhaften Entgegnungen des Meisters, dessen wissenschaftliche Überlegenheit er neidlos allezeit anerkannte.

In seinem neu erwachten Eifer bestimmte er Duncker, das eben vollendete Werk von Marx »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, zu verlegen. Er las und lernte und grübelte, und schmiedete sich in arbeitsheißen Monaten seine Wehr. – –

Als Marie an jenem Maitage den Überfall auf den Geliebten erfuhr, flog sie zu ihm in Angst und in Bangen. Sie hatte ihn seit dem Jour bei Dunckers nicht wieder gesehen. Eine qualvolle Zeit des Kampfes hatte sie durchrungen. Gewiß, gewiß, er hatte sie liebevoll in seinem Drama geschildert. Aber war das ein untrüglicher Beweis seiner Liebe?! Nein, nein. Als der erste stolze Freudenrausch verglommen war, gab sie sich klar und fest diese Antwort. Sie sah ihn wieder neben Betty Tendering auf dem Sofa, sah ihn wie einen federspreizenden Hahn im Kreise schwärmender Hennen. Nein, der Mann liebte sie nicht, der konnte ein Weib nicht lieben. Sie war ihm nicht mehr als Betty Tendering und alle die anderen, die ihn verhimmelten. Daß er Marie von Sickingen zu ihrem Ebenbilde gestaltet hatte! Mein Gott, er brauchte ein Modell und nahm sie, weil ihr liebedemütiges Wesen just in sein Drama paßte. Und sie krümmte sich in Selbstverachtung und Scham. Nein, das war ihrer unwürdig. Dazu war Marie Krafft zu schade, Abfallskrumen zu erbetteln, wo sie das köstlich reiche Mahl ihrer ganzen Liebe auftischte. Und sie rang und rang nach Kraft, sich von ihm zu lösen. Und zerrieb sich in Kummer, daß er sie nicht vermißte, gar nicht merkte, daß sie ihn mied. Wie leicht wäre es ihm gewesen, ihr ein Wort zu senden, sie aufzusuchen! Nein, sie mußte ein Ende machen mit dieser schmachvollen Liebe, ein rasches bitteres Ende.

Bleich ward sie und still und stumm unter dem sorgenvollen Blick des Vaters. Endlich sagte er eines Tages: »Aber Marie, wenn dir die Entscheidung so schwer fällt, dann laß es doch. So wichtig ist der ganze Herr Strasser nicht, daß du dich seinetwegen abhärmst. Dann sage ich ihm eben, wenn er zurückkommt, es ist nichts.« Sie schüttelte das Haupt. »Nein, Vater, ich werde ihn wohl nehmen.«

Der Alte blickte verwundert auf, doch sagte er nichts. Da kam die Kunde von Lassalles Schlägerei.

Kopflos stürmte sie zu ihm, die Grabenstraße hinab.

Lassalle war in gereizter Stimmung. Seine »Heldentat« richtete ihn zwar auf in eitlem Stolze. Aber dieser Brief der Gräfin, der heute morgen auf seinen Arbeitstisch geflogen war! Sie teilte ihm mit, sie würde nun, da sein dauernder Aufenthalt in Berlin zur Gewißheit geworden, ebenfalls nach Berlin übersiedeln. Und bald, und sofort. Sie entbehre ihn grausam.

Ingrimmig auf die unschuldige Zigarre einkauend, schritt er im Arbeitszimmer umher. Ja doch, er hatte sie gern, sehr. Er verdankte ihr ebensoviel, wie sie ihm. Ihre milde Vornehmheit hatte die großen Fehler in seiner Erziehung zum Teil wettgemacht. Viele wilde Instinkte hatten in ihm gebrodelt, ein fürchterlicher Jähzorn, eine grenzenlose Leidenschaftlichkeit, er konnte grausam hart sein und ohne Mitleid. Das alles hatte ihre sanfte Fraulichkeit gesänftigt und zur Ruhe gewiegt.

Jadoch – jadoch! Er verehrte sie, er sah in ihr seine beste Freundin. Aber als Geliebte! Die dreiundfünfzigjährige Frau! Daß sie kein Empfinden dafür hatte, daß sie Greisin wurde, sie, die in allem anderen so feinfühlig war! Damals, als er, der Zwanzigjährige, die schöne stattliche Vierzigerin kennen lernte, ja, da war eine große Leidenschaft auf seiner Seite keine widersinnige Unmöglichkeit. Sie lockte und reizte ihn als Mann. Es lockte und reizte ihn, den unbekannten kleinen jüdischen Studenten, die vornehme Gräfin zu erobern. Aber die Zeit wandert, und das Altern folgt seinen eisernen Gesetzen.

Die Frau von 53, mit all den Spuren der erlittenen Not in den verwitterten Zügen, war keine Liebesgenossin für die brausende Kraft des Mannes von 33!

Er warf den Zigarrenstummel heftig in die Silberschale. Jetzt würde sie wieder ständig um ihn sein, mit ihrer bohrenden Eifersucht und quälenden Umhegung. Und er konnte sie nicht abweisen, nach alledem, was zwischen ihnen gewesen war. Und – ja – ja, im Grunde bedurfte er ihrer, ihres Rates, ihrer Milde, ihrer weitschauenden Frauenklugheit. Nur nicht ihrer peinlichen mürben Leidenschaft!

Da meldete Friedrich Marie Krafft. An dem Diener vorbei stob sie ins Zimmer. Der junge Mann ging.

Sie stand vor Lassalle, ihre goldbraunen Augen betasteten hastig forschend sein Gesicht, seinen Körper. Sprechen konnte sie nicht.

»Nun,« lächelte er, »da bist du ja wieder einmal.«

»Bist du heil?« stieß sie hervor.

»Ach so,« er reckte sich großartig. »Hast du schon gehört? Na, ich habe die Strauchritter feste verbläut.«

Sie küßte voll Leidenschaft den blutroten Striemen, der quer über die Wange schnitt.

»Ach, die Schramme,« wehrte er.

Und dann berichtete er ausführlich die tumultuante Szene.

Während er sich in selbstgefälliger Epik erging, irrten ihre Gedanken umher. Und plötzlich sagte sie mitten in seine selbstbekränzenden Worte hinein: »Ich werde heiraten, Ferdinand.«

»Wie?« staute er der Rede Strom.

Etwas in ihr hatte es gesprochen, ihn zu versuchen, in einer letzten verzweifelten Hoffnung, er werde auf sie zustürzen, sie umklammern, halten, schreien, toben: »Du bist mein, du gehörst mir, mir allein, keinem auf der Welt gönne ich dich!« Und sie wäre geblieben, hätte auf Ehe, auf das Kind, auf jedes sitte-umschmiedete Glück mit jubelnder Freude verzichtet.

Doch er tauchte schmerzhaft rasch aus seiner Überraschung hervor, kam zu ihr, reichte ihr freundschaftlich die Hand und gratulierte: »Da wünsche ich dir aber Glück.«

Sie suchte mit dem Rücken am Tische Halt.

»Das ist vernünftig von dir, Marie. Sieh, ich hätte dich ja doch nicht heiraten können. Du aber bist dazu geboren, einen Mann zu beglücken und Kinder zu haben. Wer ist denn der Glückliche?«

»Gustav Strasser,« sagte sie mit letzter Kraft.

»So – so, der!« nickte er gedehnt. »Na, da wird dein Alter ja auch zufrieden sein. Das scheint ja ein recht erfreulicher Arbeitsausbeuter – verzeih – Unternehmer zu sein. Im übrigen hätten wir uns jetzt so wie so trennen müssen. Die Gräfin Hatzfeld kommt nach Berlin.«

»Das trifft sich ja vortrefflich,« erzwang Marie ein armes Lächeln. Dann löste sie sich vom Tisch, trat auf ihn zu, reichte ihm die kalte Hand und sagte: »Ich wünsche dir viel Glück auf deinem Wege hinauf.«

Seine Ahnungslosigkeit staunte: »So feierlich, Kind! Wir werden uns doch noch oft bei Dunckers und bei anderen sehen. Du wirst doch auch ein Haus führen. Ich rechne auf eine Einladung.«

»Gewiß,« lächelte sie. Biß die Zähne zusammen, würgte ein »Lebe wohl, Ferdinand« hervor, ging mit der Hast des letzten Stolzes zur Tür und eilte hinaus.

Lassalle sah ihr kopfschüttelnd nach, »Pauvre enfant!« seufzte er in jähem Begreifen.

Dann setzte er sich an den Tisch, das Schreiben der Gräfin zu beantworten. –

Einige Wochen später, auf dem Wege zum Bahnhof, überholte er in der Potsdamer Straße Hedwig Dohm. Er erkannte die kleine zierliche Frau schon von fern an dem trippelnden Gang. Eine Weile schritt er hinter ihr her und freute sich an ihrer hübschen Erscheinung. Sie trug ein Kleidchen aus einem verschwenderisch mit bunten Blumen bedruckten Batist. Schwere blaue Seidenbänder umschlangen die zarte Taille. Das leichte Gewebe einer weißen Beduine, verziert mit einer Kapuze in der Farbe der Bänder, hing lose um die graziösen Schultern. Als er sie endlich überholte, und ihre dunkellockige Schönheit unter dem weißen Hütchen hervorstaunte, dachte Lassalle: Wie kommt diese liebliche Fremdheit in die nüchterne Berliner Straße?

»Wohin des Wegs?« fragte er.

»Zu Gerson, geschäfteln,« gestand sie lächelnd.

»Darf ich Sie ein Stückchen begleiten? Ich muß zum Bahnhof.«

»Wenn Sie mir garantieren, daß kein Überfall erfolgen wird,« neckte sie.

»Dafür kann ein Mann in meiner Position nie garantieren. Wohl aber dafür, daß Ihnen jeder Angreifer sofort – zu Füßen liegen wird.«

Sie lachte kindlich lieb.

»Holen Sie jemand vom Bahnhof ab?«

Er nickte. Und nach einer kleinen Pause sagte er: »Die Gräfin.«

Sie hob überrascht die samtenen dunklen Augen zu ihm auf.

»Die Gräfin Hatzfeld?«

»Ja. Sie bleibt nun in Berlin.«

Eine Weile ging sie mit kleinen, hastigen Schritten neben ihm her. Dann fragte sie: »Lieber Freund, ich kann offen mit Ihnen sprechen?«

»Völlig.«

»Sie sollten das nicht tun. Es schadet Ihnen.«

»Was?«

»Dieses Zusammenleben mit der Gräfin –.«

Er machte eine heftige Bewegung.

Da legte sie die Hand zutraulich sänftigend auf seinen Arm: »Die ganze Sache kam so schön in Vergessenheit. Sie hat etwas Anrüchiges, glauben Sie mir, das Ihrem Rufe als Gelehrter schadet. Lassen Sie mich ausreden! Daß Sie damals als junger Mensch für die bedrängte Frau eingetreten sind und für sie zehn Jahre gekämpft haben, ehrt Sie. Aber das Drum und Dran! Die Familienskandale, in die Sie hineingerissen wurden, die Kassettengeschichte, die Kriminalprozesse, die sich daran geknüpft haben, das Unglück des armen Dr. Mendelsohn und dann dieses – verzeihen Sie, wenn ich ganz offen bin – dieses öffentliche Verhältnis mit der so viel älteren Frau – –«

»Ich habe bereits 1848 vor den Geschworenen in Köln gesagt, daß die Gräfin nur meine Freundin ist.«

Hedwig Dohms feines Näschen krauste sich. »Das weiß ich. Jedermann in Deutschland hat Ihre Verteidigungsrede gelesen. Aber Sie werden zugeben, daß diese Erklärung für Ihre Diskretion, aber für nichts anderes spricht.« Und rasch fuhr sie fort: »Ich möchte diesen Punkt nicht weiter berühren. Nur das will ich Ihnen sagen, lieber Freund: wir alle, Dunckers und Stahrs und Lübkes und mein Mann und ich, wir sind weiß Gott nicht prüde. Aber ich glaube doch, daß wir diese Frau nicht bei uns empfangen werden.«

Da warf er den scharfgemeißelten Kopf heftig zurück und stieß hervor: »Gut. Dann werden sich unsere Wege trennen. Wer nicht für sie ist, ist gegen mich.«

»Aber, lieber Freund,« beschwichtigte sie. »Nicht doch immer gleich so ungestüm! Ich stelle Ihnen das ja nur vor. Vielleicht geht sie doch wieder nach Düsseldorf zurück.«

»Nein,« schüttelte er trotzig den Kopf. »Jetzt werde ich darauf dringen, daß sie hier bleibt. Was mich jetzt an die Frau fesselt, ist nichts als eine tiefe große dankbare Freundschaft. Wissen Sie, was solche Freundschaft ist, Frau Hedwig?«

»O ja,« sagte sie mit großen Augen. »Ich kenne den schönen Vers von Simon Dach:

»Der Mensch hat nichts so eigen, nichts steht so wohl ihm an,
Als daß er Treu erzeigen und Freundschaft halten kann.«

Sie waren zu dem armseligen Gebäude des Potsdamer Bahnhofs gekommen. Lassalle blickte nach der Uhr.

»Ich habe noch Zeit,« sagte er, »ich begleite Sie noch ein Stückchen die Leipziger Straße hinab.«

Als sie die Gleise der »Kommunikation« überschritten hatten und an den Torhäuschen vorbeikamen, nahm er das Gespräch wieder auf.

»Wegen dieser schönen Worte Simon Dachs will ich versuchen, Ihnen das ureigenste Wesen meiner Freundschaft zu der Gräfin klarzulegen, und dann sollen Sie sagen, ob Sie Ihr hartes Anathema aufrechterhalten.«

Er sann einige Sekunden, die klaren blauen Augen umzogen sich mit einem Schleier, dann begann er, zögernd, sinnend: »Die Gräfin ist mein Freund – nicht meine Freundin. Ich spreche von dem allein Wertvollen an unserer Gemeinschaft. Trotz einiger Gegensätze und Unterschiede, die ich nicht einmal missen möchte, weil sie durch den Unterschied des männlichen und weiblichen Charakters bedingt sind, besteht zwischen ihr und mir eine solche Gleichheit des Denkens und Fühlens, eine solche Gleichheit des innersten geistigen Wesens und fast aller Anschauungen, wie ich sie noch bei keinem andern Menschen wieder angetroffen habe. Diese innerste Gleichheit ist es, die den unendlich wohltuenden Genuß gibt, im andern die Welt des eignen Innern wiederzufinden und sich als ein Wesen mit ihm zu wissen. Darum habe ich seit je gesagt, sie ist mein Freund und nicht meine Freundin.«

Sie überschritten die Wilhelmstraße. Hedwig schwieg. Eifrig fuhr er fort: »Die Gleichheit des Charakters und Gefühls, der ganzen geistigen Anlage, war schon vorhanden, als wir uns kennen lernten. Im Laufe dieser zwölf Jahre hat sich nun, wie natürlich, auch eine Gleichheit der Gedankenmasse, ihrer geistigen Bildung und Entwicklung daraus hergestellt. Wir sind jetzt, und schon sehr lange, auch jeder in dem Gedanken des andern zu Hause wie in dem eigenen Kopf. Und nun kommt noch die Gleichheit der äußeren Schicksale hinzu, der Kämpfe und Erlebnisse. Jeder hat dem andern soviel Treue und Edelmut bezeugt, wie hundert der rührendsten Romane, ausdrücklich zur Verherrlichung dieses Themas gedichtet, nicht enthalten könnten.«

Und mit weiten blauen Augen sprach er, fast vor sich hin: »Sie steht vor mir wie meine eigene Geschichte, meine eigene Entwicklung. Sie ist identisch mit allen Gefahren und allen Triumphen, allen Ängsten und aller schweißtriefenden Arbeit, allen Leiden, Anstrengungen und Siegesgenüssen, allen weitfliegenden Sehnsüchten, kurz, mit jedem Erleben, das meine Seele je durchzittert hat. Sie ist meine Seele selbst.«

Da fragte Hedwig Dohm leise: »Was ist Ihnen Seele?«

»Das in eine Einheit zusammengefaßte Ganze, der Brennpunkt der gesamten Masse von Eindrücken, die man je erfahren.« Und aufatmend schloß er mit gutem Lächeln: »Ich kann also von ihr sagen, wie Wallenstein von Max: sie steht vor mir, wie meine Jugend, wie jene ›ungestüme Jugend‹, deren ich mich so manchmal elegisch erinnere.«

Er schwieg. Da sagte Hedwig Dohm: »Jetzt begreife ich vieles.« Und ihm beherzt die kleine Hand gebend, lächelte ihre Anmut: »In meinem Hause soll sie willkommen sein. Ich will auch mit Lina Duncker und den andern sprechen.«

Dann eilte Lassalle zurück. Jetzt, da er sich selbst durch den fremden Widerstand eifervoll zur Klarheit durchgesprochen hatte, war jedes Mißbehagen von ihm gewichen. Er freute sich auf das Wiedersehen.

Offen und ehrlich wollte er mit ihr sprechen, wie ihre Vergangenheit es forderte. Ihr vorstellen, daß sie sein Freund war und ewig bleiben sollte, sein bester nächster Freund und Waffengefährte. Daß sie um dieser ewigen Freundschaft willen auf jenes andere, zeitliche, verzichten wollten.

Er hastete zu dem kümmerlichen Bahnhofsgebäude hinüber und bebte vor Erwartung, ihr von dem neuen Lebensplane zu erzählen, der in ihm nach Klarheit rang. Und er wußte, daß keiner ihn so innig verstehen und alle Zweifel und Kämpfe mit ihm durchringen würde, wie sein Freund Sophie Hatzfeld.

Auf dem Bahnhof erfuhr er, daß der Zug eine Viertelstunde Verspätung habe. Mit erregungshektischer Röte über den scharfen Backenknochen durchmaß er den sandigen schmalen Bahnsteig und dachte sich tief zurück in diese Gemeinschaft, die für sein ganzes Leben entscheidend geworden war.

Er entsann sich noch so gut jenes grauen nebligen Novemberabends, an dem ihn der Oberst Graf Keyserling in die notdürftige Wohnung der Gräfin eingeführt hatte. Er fand in seiner Brust noch heute die ahnende Spur dieses ungebändigten sehnsüchtigen Verlangens, das ihm gleich beim ersten Begegnen das junge Herz spannte, diese schöne hohe Frau mit den wehen Augen zu streicheln, zu kosen, sie zu schirmen mit seiner sprudelnden Kraft, Heldentaten für sie zu tun. Und am nächsten Tage besuchte er sie allein. Da erzählte sie mit verhaltenen Tränen ihr herbes Geschick. Mit lachenden ahnungslosen Sechzehn hatte die junge Fürstentochter den schönen gräflichen Vetter geheiratet. Und der Himmel war so licht und so hell. Aber schon nach dem ersten Jahre hatte er begonnen, sie unflätig zu beschimpfen und bald zu schlagen und grausam zu quälen. Ohne äußeren Anlaß, aus ruchloser Verkommenheit. Lange, lange Jahre hatte sie aus Scham schweigend ihre Erniedrigung erduldet. Dann war das zertretene Weib in ihr aufgestanden zu leidenschaftlichem Widerstande. Ganz allein stritt sie den Kampf um ihr Menschentum und ihre Kinder. Die Verwandten wollten aus Furcht vor dem Skandal vertuschen, mahnten zur Geduld, wandten sich von ihr ab, als sie sich nicht fügte. Doch sie hielt aus und verteidigte ihre Frauenwürde. Da peitschte er sie aus dem Schlosse, entriß ihr die Kinder mit roher Gewalt. Nur den Jüngsten, Paul, hielt sie mit eisernen Mutterhänden, die keine Macht entklammern konnten, an den Busen gepreßt. So floh sie ins Leben hinaus, ohne Pfennig, hinaus in die zerfleischende Not, in den schmerzenden Hunger, suchte mit ihren verwöhnten feinen Händen das Brot für sich und ihr Kind zu erraffen, während er seine Millionen mit seinen Dirnen verpraßte.

In ihren Bericht funkelte die Glut ungestillter Leidenschaft, blitzten Haß und Verachtung, reckte sich grell die Verzweiflung über ein verfehltes Leben.

Lassalle war zwanzig Jahre. Die Brust voll von berstendem Verlangen, zu tun, zu helfen, zu retten. Das war nicht das Schicksal einer unseligen schönen Frau, das sich ihm da blutig enthüllte. Das war die getretene Menschheit, die da zu ihm als Retter aufschrie. Das war die zertretene Armut, die sich aufbäumte gegen die Macht des Adels und des Reichtums. Oh, das war verlockendste Erfüllung für diesen jungen Flammenkopf, der mit Fünfzehn den Tyrannen Kampf bis aufs Messer geschworen hatte, für das Recht dieses zermarterten Weibes im Kampfe die Arme zu regen.

Noch in der Nacht schwor er ihr Rache und Sieg. Und noch in dieser Nacht gab das geschundene, verschmähte, leidenschaftliche Weib dem begeisterten jungen Rächer mit den verehrungshellen Augen und dem kühnen hinstürmenden Verlangen alles, alles, was ihr geblieben war von dem Reichtum und der Herrlichkeit ihrer glücklichen jungen Tage.

Er stürzte sich wie ein Berserker in den ungleichen Streit. Der Graf höhnte den lächerlichen Gegner. Doch bald spürte er des Löwen Tatze, als die Prozesse hereinwetterten. Da griff er zu einem perfiden Mittel. Einen Angriff auf die gewaltigen Fidei-Kommißgüter brauchte er nicht zu fürchten. Die konnten ihm nicht entrissen werden. Aber sein enormes anderes Vermögen, all seine Allodialgüter, verschrieb er seiner Maitresse, der Baronin Meyendorf. Lassalle mußte sich Gewißheit über diesen neuen Frevelakt verschaffen. Er beauftragte seine jungen ergebenen Freunde, den Dr. Mendelsohn und den Assessor Dr. Oppenheim, den Sohn eines der angesehensten Berliner Patrizierhäuser, die Baronin zu beobachten und zu versuchen, näheres über die Schenkungsurkunde zu erfahren. Pflichteifrig reisten sie der Baronin überall nach. In Köln, im »Mainzer Hof«, stiegen die Verfolger zugleich mit der Meyendorf ab. Da bemerkte Oppenheim unter den Gepäckstücken der Baronin eine Kassette. Aufzuckte in ihm die Vermutung, daß diese Kassette jene Urkunde berge, ohne weiteres Überlegen griff er sie auf und eilte damit in Mendelsohns Zimmer. Der Arzt erbleichte. Doch um den Freund nicht zu verraten, barg er sie, da Oppenheim in der Eile ohne Koffer gereist war, in dem seinen. Dann fuhren sie Hals über Kopf davon, da man die Entwendung bereits bemerkt hatte. In der Kassette fand sich nichts als 3000 Franken in Papieren, ein Kamm und ein Zopf vom Haupte der Baronin. Bald darauf wurde Oppenheim verhaftet und wegen Diebstahls vor die Geschworenen gestellt. Sie sprachen ihn frei.

Jetzt kehrte Mendelsohn von Paris, wohin er geflüchtet war, heim und stellte sich den Gerichten. Wenn der Täter freigesprochen worden war, konnte ihn, der nur dem Freunde nach der Tat beigestanden hatte, doch keine Strafe treffen. Doch das Unglaubliche geschah. Er wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Freilich wurden sie im Gnadenwege zu einem Jahr Gefängnis gemildert. Doch sein Leben war vernichtet.

Nach Verbüßung der Strafe zog er in die Fremde, trat als Arzt in türkische Militärdienste und starb bald darauf im Krimkriege auf einem Parforcemarsche nach Bajazid.

In tiefem schmerzlichen Gedenken schritt Lassalle den Bahnsteig auf und nieder.

Da riß ein durchdringender Pfiff ihn empor. Langsam, schwerfällig prustend ratterte die Lokomotive des Eilzuges in den Bahnhof.

Dort grüßte auch schon aus dem geöffneten Coupéfenster der schöne Maria Theresia-Kopf heraus.

Das Blut sprang ihm ins Herz. Er stürzte auf die Tür zu, umklammerte ihre fröhlich winkende kleine energische Hand und lief wie ein jauchzender Bub neben dem Zuge her. Dann riß er den Schlag auf und hob ihre gewichtige Stattlichkeit heraus. Und hätte sie im Überschwang der Wiedersehensfreude mitten auf dem wimmelnden Bahnsteig umarmt, wenn sie ihn nicht unter der strengen Zucht der Enthaltung, die sie sich in der Öffentlichkeit stets auferlegten, mit sanfter gebietender Milde ferngehalten hätte.

»Wie gut du aussiehst!« glühte er in freudestaunender Überraschung. In der verärgert peinlichen Furcht vor ihrem Kommen hatte die Erinnerung ihm stets das Bild einer alten welkenden Frau vorgebangt.

Und nun stand sie vor ihm in ihrer lebhaften würdevollen Schönheit, ihrer prächtigen Gestalt der Reife, ihrem frischen Alabasterteint, mit den strahlenden lebensfrohen braunen Augen, ihrem grauen, üppigen, kunstvoll koiffürten Haar, in ihrem geschmackvoll eleganten Reisekleide, das Urbild starker herbstlicher Weiblichkeit.

Ihr Blick glitt glückstränenheiß über seine Augen, seine Stirn, seinen Mund, streichelnd lind wie die Hand einer Mutter, die den Sohn, rührend beschirmend wie die Finger einer Künstlerfrau, die den müde heimkehrenden, wild dereinst fortgestürmten Geliebten endlich, endlich wieder hält in ihrer zärtlich zagen Hut.

»In Ihren Augen ist etwas,« sagte sie, sofort das »Sie« der Vorsicht aufnehmend.

»Was?« lächelte er, einem Gepäckträger winkend.

Sie schwieg und forschte. »Etwas – Neues, wie von fremden Gedanken.«

Er preßte ihre Hand. »Ihre lieben Augen haben es gleich gefunden. Da brodelt viel Neues, hier drinnen.« Und an ihrer Seite den Perron hinabwandelnd, schwelgte er: »Wie habe ich mich gefreut, es Ihnen anzuvertrauen! Schreiben ließ es sich nicht. Es ist noch zu vag. Aber sprechen – mit Ihnen kann ich darüber. Und bei Ihnen es widerhallen lassen und es an Ihrer reinen Klugheit klären.«

Ihre reife herbe Schönheit strahlte weich und beseligt. Er hatte sie gleich ins Hotel geleiten wollen. Jetzt bat er leise: »Wir wollen erst zu mir, ja?«

»Nein,« wehrte sie, »lieber ins Hotel.«

Er kannte diesen resoluten Ton, gegen den es keine Auflehnung gab, ließ die Koffer auf die Droschke verladen und befahl: »Hotel de Rôme.«

Und dann suchte er ihre Finger und umspannte sie mit seinen beiden Händen und fühlte sich plötzlich so seltsam geborgen, als wäre er aus irgendeiner Gefahr errettet.

Der Einfluß, den diese Frau nun zwölf Jahre auf ihn ausübte, hatte ihn, den sonst so starken, festen, selbstsicheren, sofort wieder umsponnen, ihn zum Kinde gemacht, das sich warm einhegte in der Mutter still sorgende Güte.

Sie saß stumm, glücksdurchrieselt. Und er sprach und sprach. Wie die Reise gewesen sei und der Abbruch ihrer Häuslichkeit in Düsseldorf? Er habe schon für sie eine Wohnung gesucht und eine sehr hübsch geeignete in der Grabenstraße, im ersten Geschoß des Schleicherschen HausesKönigin Augustastraße, dort, wo heute das Reichsversicherungsamt steht. gefunden.

Und dann wies er hinaus auf die Straßen. »Nun bist du wieder in Berlin, Liebe! Sieh, da das Brandenburger Tor. Nein, bist du lange nicht hiergewesen! Was ist alles in der Zwischenzeit geschehen. Unser ganzer Kampf von 1848 und unsere Prozesse und unser wunderherrliches Idyll und unser trotziges Flüchtlingsasyl in Düsseldorf.«

Sie lächelte stumm vor sich hin, und ihre Hand preßte leidenschaftlich seine Finger.

Dann, als die Tür des Hotelzimmers sich hinter dem Kellner, der es ihnen gewiesen hatte, schloß und die auffordernde Einsamkeit sie umfriedete, kam eine Sekunde lang das frühere Unbehagen über Lassalle. Er empfand ernüchternd die Erwartungen der Lage. Etwas in ihm sträubte sich gegen die Frau empor. Nein, nein, keine leidenschaftlichen Zärtlichkeiten! Bei ihr sein, ihre gute Hand in der seinen fühlen, die Ausstrahlung ihrer warmen Mütterlichkeit empfinden – ja – ja. Aber – – Doch in chevalereskem Zwange trat er auf sie zu, hob die Arme – – Da warf sie den majestätischen Kopf in eisernem Entschluß in den Nacken, das Gesicht war fahl, die Augen schimmerten feucht. Und mit belegter Stimme rang sie hervor: »Ich will es dir gleich sagen. Ich wäre nicht zu dir nach Berlin gekommen, wenn ich mich nicht unbeugsam dazu entschlossen hätte. Du weißt, ich kann durchführen, was ich einmal gewollt habe.«

Er starrte erstaunt in ihr schmerzzuckendes Gesicht. Die erhobenen Arme sanken zögernd.

Sie schloß die Augen, die Lider zitterten, als sie weiter sprach: »Die Vergangenheit soll uns nicht tot sein. Nein. Sie soll uns bleiben in süßer heiliger Lebendigkeit. Doch sie soll vergangen sein. Ich werde im August 53, du bist im April 33 geworden. Ich bin keine Liebesgenossin mehr für dich. Ich will dein ›Freund‹ sein, wie du mich so oft genannt hast. Das will ich sein bis an mein Lebensende.« Sie öffnete weit die umflorten Augen.

Einen Augenblick stutzte Lassalle. Dann raste ein Taumel von Erlöstsein, Freude über ihren Entschluß, Rührung und Achtung vor ihrem Heldentum durch sein Hirn. Ungestüm riß er sie an sein Herz.

Mit geschlossenen Lidern preßte sie sich an ihn, sog sich vergehend fest an seinen Lippen, krallte die Finger, haltend, haltend, zum letzten Male haltend, in seine Arme. Dann löste sie sich gewaltsam von ihm, ordnete mit tastenden Händen das verflatterte Haar und lächelte mit blutlosen Lippen: »Das war der Abschied von unserer Liebe. Nun gib mir die Hand als Freund.« In mutiger Herbheit drückte sie die dargebotene Rechte. »So, und jetzt, lieber Freund,« lächelte sie dann, »geh hinab ins Lesezimmer und erwarte mich dort. Ich möchte mich vom Reisestaub reinigen und umkleiden.«

Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, fiel die starke Frau in den Sessel, die Stirn schlug nieder auf den Tisch und schwere Tränen tropften herab und bildeten schwarze böse Flecke auf dem roten Plüsch der Decke. So saß sie lange, biß die Zähne tief in die Lippen, das Schluchzen der Auflehnung zu meistern, und weinte, weinte, wie innerlich junge Frauen zu allen Zeiten geweint haben und weinen werden um das Hinwelken der äußeren Jugend und das Sterben des Mutes zum Glück. –


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