Alfred Schirokauer
Lassalle
Alfred Schirokauer

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IV.

In einen frostklingenden Morgen trat Lassalle am nächsten Tage hinaus. Er ging erst einige Schritte nach rechts, dem Potsdamer Tore zu. Dann zögerte er, wandte sich um und nahm die Richtung auf die Brücke. Es war noch früh genug, auf einem kleinen Umwege zum Brandenburger Tore zu wandern. Der Hochzeitszug würde auch so noch lange genug auf sich warten lassen.

Fest in seinen Nerzpelz gehüllt, den spiegelnden Zylinder verwegen in die Stirn gedrückt, den Spazierstock unterm Arm, ging er dahin, das Urbild des Berliner Lebemannes von 1858. Die eleganten Lackstiefel knisterten auf dem hartgefrorenen Schnee.

Kurz vor dem still verschneiten weiten Garten der Heislerschen Bierwirtschaft an der Potsdamer Brücke überquerte er den Damm, durchmaß ein kleines Stück der GrabenstraßeHeute Königin-Augusta-Straße. und bog dann nach rechts in die neu angelegte, zur Feier des heutigen Tages mit dem Namen »Viktoria« getaufte Straße ein.

Staunend blieb er stehen. Welche Veränderung! Er war seit Wochen nicht hier gewesen. Quer durch den prächtigen langgestreckten Konzert- und Biergarten des »Kemperhofes«, in dem er oftmals nach seiner Ankunft in Berlin im Spätsommer die recht gute populäre Musik genossen hatte, war die neue Straße geschlagen. Noch ragten rechts und links des Weges die alten knorrigen Bäume des Parkes, stillgebeugt unter ihrer weißen Schneelast, hinauf in das zitternde Blau des klaren Wintermorgens.

»Rechtes Hohenzollernwetter«, dachte Lassalle und schritt forsch aus. Mitten auf dem Damm stand eine mächtige alte Platane, mitleidig verschont von der vordringenden rodenden Zeit.

Lassalle schüttelte den Kopf. »Wenn man einen Weg bahnt,« dachte er, »soll man alles aus dem Wege räumen, was hindert, oder man soll den Weg lassen. Diese alte Platane mitten in der Straße ist Gefühlsduselei.« Und er stieß mit der Zwinge des Spazierstockes gegen die Borke des alten Baumes.

Als er sich der Bellevuestraße näherte, summte ihm dumpf das Getümmel des Festtages entgegen. Schon winkten bunt einige Fahnen herüber. Und bald schwamm er in dem eifervollen Menschenstrome, der zu der Charlottenburger Chaussee und dem Brandenburger Tore flutete.

Berlin, das neugierige, schaulustige Berlin aller Zeiten, hatte heute seinen großen Tag. Nach altehrwürdigem Brauche sollte die britische Prinzessin vom Bellevueschlosse aus in die Hauptstadt Preußens einziehen mit ihrem jungen Glücke und ihrer jungen Lieblichkeit und ihrem jungen freudeklaren Stolze.

Quer durch den Tiergarten schritt Lassalle auf die SchulgartenstraßeHeute Königgrätzer Straße. zu und bog durch das Tor in die Linden ein. Hier galt es, den festgestauten Menschenwall zu durchbrechen. Rücksichtslos trieb er sich wie einen Keil in die lebendige Mauer, arbeitete nach rechts und links wie ein Schwimmer mit den Ellenbogen, beantwortete das Schimpfen und Fluchen in seinem Kielwasser mit freundlich sänftigendem: »immer gemütlich, Kinder,« landete bei der sperrenden Schutzmannskette, wies seine Tribünenkarte vor, preßte sich dicht an dem Gitter des Wachthäuschens dahin und stand auf dem Pariser Platze.

Die Überraschung rammte den blasiert-skeptischen Mann auf das Trottoir. Jetzt, im verklärenden Zauber der schwirrenden Jubelstimmung bot die althistorische Galastraße einen sinnenfrohen, überwältigend festlichen Anblick. Ein farbenrauschendes sonnenbuntes Gewirr von Fahnen, Bändern, Girlanden, Kränzen, goldschimmernden Inschriften wogte, überdacht von dem schimmernden Schmelz des pastell-blauen Winterhimmels, weit, weit hinauf bis zum fernen Bollwerk des Schlosses. Und als zwei schmerzhaft blendende goldene Bänder spannten sich zu beiden Seiten der breiten Triumphstraße die gleißenden Bajonettspitzen der spalierbildenden Grenadierkordons.

Doch zum Schauen blieb jetzt keine Zeit. Wie die Woge bei steigender Flut warf die Menschenbrandung den staunenden Mann gegen die Tribüne.

Da wurde sein Name gerufen. Seine Augen folgten der Stimme. Und nun gewahrte er Ludmilla Assing. Sie war aufgesprungen und schwenkte einen roten Schal wie eine Jakobinerfahne. Er winkte mit dem Zylinder. Und da – dicht neben Ludmilla, da saß die ganze Clique. Die Dunckers und die Dohms. Rasch klomm Lassalle empor.

»Morgen, Lassalle,« rief Lina Duncker und reichte ihm die kleine feste Hand aus dem großen Muff. »Sie sind natürlich wieder der Klügste und kommen im letzten Augenblick, während wir hier schon langsam zu Menschen der Eiszeit degeneriert sind.« Lachend sah sie zu ihm auf aus ihren seltsamen grünlich-grauen Augen mit ihrem eigentümlich bannenden Glanze.

»Tag,« brummte Duncker, noch ein wenig verkatert vom gestrigen Abend, »gut bekommen?«

»Danke. Und Ihnen?« Lassalle drückte sich in dem engen Gang just an Hedwig Dohms Knien vorbei. Von den fesselnden Reizen ihrer fremdartigen Schönheit gab die dichte Pelzvermummung nur die feine Nase und die braunen weichen »Märchenaugen« mit den samtnen langen Wimpern frei.

»Ich begrüße Sie im Namen sämtlicher vereinigter Eskimoschönheiten,« streckte sie ihm aus dem Pelzgewirr lächelnd den kleinen Finger zu: »Mehr trau ich mich nicht hervor; aber Ihnen den kleinen Finger zu geben, ist ja auch schon gefährlich genug.«

»Ach,« warf Lina Duncker dazwischen, »du in deinen Pelzen hast gut vorsichtig sein. Mir kann heute kein Teufel gefährlich werden. Ich bin hier kühl bis ans Herz hinan.«

Lassalle wollte entgegnen, da faßte ihn Dohm hilfreich und wollte ihn auf den Platz an seiner Seite verstauen. Doch Ludmilla Assing rückte hastig dicht an Dohm heran und gab an ihrer Rechten für den heimlich Geliebten Raum. Sie wollte ihn so weit wie nur möglich von den anderen Damen trennen, ihn durch ihren Körper von jeder fremden Einwirkung isolieren, ihn für sich haben, ganz allein für sich.

»Hier, Herr Doktor,« rief sie, »setzen Sie sich hierher. Hier können Sie alles am besten sehen.«

Und sie entriß den in der Enge Taumelnden Dohms Händen und zog ihn auf die nackte Holzplanke nieder, die als Sitz diente.

Natürlich war es keinem entgangen. Sie lächelten verstehend hinter ihren Muffen und hochgeschlagenen Pelzkragen, und Lina, die Ausgelassene, beugte sich vor und scherzte herüber: »Recht so, Ludmilla, nehmen Sie unseren Freund in Ihre ›warme‹ Hut!«

Doch da gab ihr die feine Hedwig Dohm, an Dunckers Beinen vorbei, einen gelinden Stoß mit dem Fuß. So schwieg die lustige junge Frau und flüsterte nur leise ihrem Manne zu: »Nun wird er die Prinzessin nicht sehen. Ich wette, im kritischen Augenblick versperrt sie ihm aus Eifersucht die Aussicht.«

Inzwischen hatte Lassalle sich eingenistet. Man saß sehr eng, und Ludmilla gab ihm wenig Raum.

Nachdem er nach dem Befinden des Oheims gefragt hatte, sagte er: »Nun wollen wir uns die Ausschmückung mal ansehen. Es scheint wirklich pompös.«

»Ja,« nickte Ludmilla, »es ist äußerst geschmackvoll.«

Sie zitterte vor Kälte. »Aber, Fräulein Assing,« staunte Lassalle, »weshalb legen Sie den Schal nicht um?« Er griff helfend zu.

»Nein, nein,« wehrte sie heftig, »mir ist ganz warm.« Sie hatte sich ganz leicht gekleidet, um ihre zarte schöne Gestalt zur Geltung zu bringen, und wußte, daß der rote Schal sie mißkleidete. Und da fror es lieber, dieses gescheite, geistreiche alternde Mädchen, das in Lassalles Gegenwart vor lauter bebender Befangenheit nie ein vernünftiges Wort fand. Er blickte sie von der Seite an. Die Züge waren schon scharf und herb; sie mochten wohl auch damals nicht allzu reizvoll gewesen sein, als noch die Frische der Jugend sie verklärte. Und da tat sie ihm plötzlich so sehr leid. Er rückte ganz dicht an sie heran und sagte weich: »Kommen Sie, Ludmilla, Sie sind ja ganz blau. Dann doch lieber rot. Sehen Sie so. Es steht Ihnen übrigens prächtig, das rote Tuch zu Ihrem schönen blonden Haar.«

Da ward sie rot wie der Schal und wagte nicht sich zu rühren, und das Blut siedete ihr unter der Berührung seiner Hände brennend in das liebetörichte, alte arme Herz.

Jetzt tippte es sacht in Lassalles Rücken. Als er sich umwandte, sah er in Marie Kraffts goldbraune Augen, die ihm unter der flotten Pelzmütze hervor entgegenleuchteten.

»Guten Morgen, Herr Doktor,« grüßte sie, »ich bin auch da.«

»Ah,« machte Lassalle überrascht, »Sie sind es, die mich – hinterrücks überfallen!«

»Lassalle, lassen Sie die Witze,« tat Dohm ernsthaft. »Ich bitte um Würde. Wir machen momentan Geschichte.«

Lassalle war aufgestanden und reichte dem Vater der Geliebten, einem langbärtigen Hünen von einigen Sechzig die Hand.

»Aber, so sehen Sie doch bloß die Buben!« zupfte ihn Ludmilla. »Sie sehen ja gar nichts!«

Er setzte sich wieder. Dicht neben der Tribüne stand eine alte Linde, die von einigen Schusterjungen finanzkräftig fruktifiziert wurde. Sie hatten eine hohe Leiter an den Stamm gelegt und vermieteten die Äste des Baumes als Orchesterfauteuils zu zwei Groschen das Stück an andere junge Burschen. Die Linde trug schon etliche nette Früchtchen.

»Bravo,« rief Lassalle, »die Bengel gefallen mir. Das sind geborene Rothschilds.«

»Hoffentlich geht es bald los,« trampelte Lina Duncker mit den Füßen, »sonst läßt mich der Finanzgeist der Jungen nicht ruhen und ich eröffne einen Handel mit Eisbeinen.«

»Die würden viele ›warme‹ Verehrer finden,« beugte Lassalle sich nach links.

»Sehen Sie doch den Polizisten,« zupfte Ludmilla, »der dort immer im Kreise umhergeht. Sieht er nicht aus, als sei die ganze Herrlichkeit nur als Folie für seine Amtswürde aufgebaut?«

Lassalle sah gehorsam. »Der Geist Preußens geht um,« scherzte er.

Da hörte er Herrn Kraffts wuchtige Stimme hinter seinem Rücken: »So – so?! Bei Egels sind Sie? Das ist ja sehr interessant.«

Er wandte sich um. Neben dem Fabrikbesitzer saß ein junger Mann mit auffallend intelligentem Gesicht.

»Fein warm?« fragte er Marie vertraulich besorgt.

»FF,« versicherte sie mit beglücktem Lächeln.

»Da kommt Wrangel!« zeigte Ludmilla.

Lassalle wandte sich zurück. Ja, da sprengte der greise Feldmarschall mit seiner Eskorte heran. Gerade unter der Tribüne parierte er den Schimmel. Stürmische Rufe begrüßten ihn von allen Seiten.

»Morgen, Papa Wrangel! Morgen, Papa Wrangel!«

Er hob die behandschuhte Rechte an den blinkenden Helmrand, seine Äuglein zwinkerten lustig über dem hochgesteiften kleinen Schnauzbart.

»Schönes Wetter, was?« rief der populärste Mann Berlins hinauf zu den Tribünen.

»Kalt – kalt!« dröhnte es zurück.

»I! Kalt!« machte der Feldmarschall. »Habt Ihr nicht vorgesorgt?« Und unter tosendem Jubel zog er aus der Satteltasche eine kleine Feldflasche, hob sie empor, rief: »Prost Kinder!« und tat einen kräftigen Zug. Die Herren seines Gefolges lächelten halb gewährend, halb mißbilligend.

Da hörte Lassalle, wie Marie Krafft vorschlug: »Vielleicht kommt Herr Dr. Lassalle auch. Er wollte ja schon immer einmal die Fabrik sehen.«

Schon berührte ihr kleiner Fuß ihn wieder im Rücken, und Marie fragte: »Herr Doktor, hätten Sie Lust, heute nachmittag unsere Fabrik zu besichtigen?«

Lassalle wandte ihr das Gesicht zu. »Sehr gern.«

»Wenn ich bitten darf, kommen Sie nicht zu spät, Herr Doktor. Sie werden gewiß die Illumination sehen wollen heute abend. Vielleicht so gegen vier. Ich werde mich freuen, wenn Sie erst ein Täßchen Kaffee im Bureau mit uns trinken.«

»Danke sehr, Herr Krafft. Ich werde –«

Da riß ihn ein Brausen herum, das von der Charlottenburger Chaussee her die Luft durchschütterte.

»Sie kommen! Sie kommen!« stob alles von den Bänken auf.

Die Pferde der Offiziere unten auf der Straße tänzelten nervös, die Luft zitterte vor Erregung, Kommandoworte schwirrten durch die bewegte summende Stille – »Präsentiert das Gewehr!« kommandierte irgendwo eine krähende Stimme. Des alten Wrangels Degen flog sonnenumgoldet aus der Lederscheide – dum! – donnerte der erste Kanonenschuß vom Lustgarten herüber – Hörner jubilierten – durch das Mittelportal des Tores knatterte die Tête des Zuges, vierzig Postillone, das blinkende Horn an den Lippen – die hohen Häuser des Pariser Platzes warfen ein tausendfältiges Hurra zurück – die goldene Kutsche glitzerte hervor – andere Galawagen folgten – die Kutsche stand wie aus einem Märchen hervorgezaubert unter dem blauen Februarhimmel – Lakaien sprangen vom Trittbrett – öffneten den Schlag – das lieblich-ernste rundliche Antlitz der jungen Prinzessin beugte sich lächelnd vor – neben ihr tauchte der Helm des Prinzen Friedrich Wilhelm auf über dem mannhaft kräftigen Gesicht mit dem blonden, zu beiden Seiten des Kinnes stehenden Barte – Papa Wrangel beugte sich im Sattel zu der Prinzessin nieder – plötzlich war es kirchenstill unter den Tausenden – nur vom Lustgarten her dröhnten die Kanonen und wie ein geweihtes Gewölbe legte sich über das farbenschimmernde Bild das Läuten der Glocken.

Laut tönten Papa Wrangels Worte über den Platz: »Eure Königliche Hoheit habe ich die Ehre namens der Haupt- und Residenzstadt Berlin als deren Kommandant zu begrüßen. Mögen Sich Eure Königliche Hoheit in den Mauern unserer Stadt stets wohl und glücklich fühlen. Die janze Bürgerschaft Berlins schließt sich meinem Wunsche an. Wir hoffen alle, daß Eure Königliche Hoheit hier viele jlückliche Jahre an der Seite Seiner Königlichen Hoheit verleben werden, und daß es Ihnen allezeit bei uns Berlinern jefallen wird. Königliche Hoheit werden sehen, daß es eine janz schöne Jejend ist, und wir Berliner wollen alles tun, Sie hier alles recht jemütlich bei uns zu machen.«

Der Alte richtete sich stramm im Sattel auf. Die Lippen der Prinzessin bewegten sich, sie sagte leise: »Ich danke Ihnen, Exzellenz, und den Bürgern Berlins.« Dann stieß Papa Wrangel den Degen in die Luft – die Lakaien sprangen, die sechs Schimmel warfen sich in die Riemen – das Volk schrie – weiße Tücher wehten – die Kanonen dröhnten – die Glocken sangen, und während der greise Feldmarschall mit seiner Eskorte zur Seite der Goldkutsche dahinsprengte, schmetterten die Postillonshörner hell in den Morgen hinein: »Frisch auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!«

In schneller Fahrt brauste der Zug die Linden hinab, dem Schlosse zu, umrauscht von den bunten flatternden Fahnen der Gewerke und Innungen.

Und während Wagen auf Wagen vorbeiglitt: Prinz Wilhelm, die Prinzessin Augusta, die Mitglieder des Königlichen Hauses, die Minister, der Hofstaat und alles um ihn herum Tücher schwenkte und schrie, stand Lassalle stumm und stolz aufgerichtet oben auf der Tribüne, die Rechte hart um den Elfenbeingriff seines Stockes gekrampft. Er hatte eine Vision. Plötzlich sah er sich in einer gläsernen Goldkutsche von sechs Schimmeln gezogen durch dieses ruhmreiche Brandenburger Tor einziehen in die jauchzende Stadt Berlin. –

Erst Ludmilla Assings sachte Berührung riß ihn aus seiner Verzauberung.

Wie aus tiefem Traume taumelte er empor.

»Was ist Ihnen?« fragte sie in sanftem Staunen. »Sie sahen eben aus wie ein verjüngter Moses, dem Gott auf dem Berge erscheint.«

Er blickte ihr stumm durchdringend in die Augen. »Vielleicht hat ein Gott mir die Gesetzestafeln für mein Volk in die Hand gedrückt,« entgegnete er langsam und folgte den andern, die sich zum Aufbruch rüsteten.

Wie eine Wand sperrte der Menschenstrom die Zugänge zu den Tribünen. Es war nicht leicht, auf die Straße zu gelangen. Schwarz wälzte es sich durch das Tor die Linden hinab. Alles strebte hinunter zum Schlosse.

»Wenn wir versprengt werden, wollen wir uns irgendwo wieder sammeln,« rief Duncker den anderen zu und nahm Linas Arm.

»Bei Spargnapani sehen wir uns wieder,« rief Hedwig Dohm.

»Denn,« wandte sich Lina im Gehen zurück, »uns gelüstet nach einem Baiser. Gelt, Ludmilla?«

Ludmilla hörte nicht, sie sah nur, wie Lassalle sich von Marie Krafft verabschiedete.

»Man geht,« zupfte sie.

»Na, dann kommen Sie,« nickte er und reichte ihr den Arm, »wir werden schon durchdringen. Nur mutig in das Chaos hinein!«

Sie schmiegte sich an seine Seite und folgte. Doch sie kamen nicht weit. Die Flut staute sich vor einem lachenden Wehr. Die Schusterjungen suchten eine künstliche Hausse ihrer fallenden Aktien zu erzwingen. Sie hatten die Leiter von dem Baume entfernt und erwiderten hohnlächelnd auf das Schreien und Zappeln ihrer Kundschaft auf der Linde, zwei Groschen habe das Hinaufsteigen und die Sitzgelegenheit gekostet. Wenn etwa der eine oder andere von den Herrschaften auch noch hinunterzusteigen wünschte mit Hilfe der Leiter, so sei eine neue Gebühr von zwei Groschen fällig. Und unter dem Spottgelächter der Menge fielen die Groschenstücke in die Mützen der wieder einmal witzig sieghaften Berliner Schusterjungen.

Dann ergoß sich die aufgehemmte Flut gurgelnd weiter. Dohms und Dunckers hatte sie schon davongetragen. Die Gesellschaft war längst auseinandergerissen. Lassalle nahm fest Ludmillas Arm und zwängte sich schonungslos mit ihr vorwärts durch dieses kindlich erregte Volk.

Seit bei dem Regierungsantritte Friedrich Wilhelms IV. von Königsberg herüber die schwungvollen Reden des jungen Königs erklungen waren, hatte die nüchterne Berliner Bevölkerung nicht wieder in solch patriotischer Jubelstimmung geschwelgt.

Eine warme royalistische Begeisterung, eine naive Liebe zum Herrscherhause war plötzlich aufgeflammt, man fühlte sich als Mitglied einer Riesenfamilie, die ihrem schönen stattlichen Sohne die liebliche Braut heimgeführt hatte. Und alle wußten zuversichtlich, daß jetzt alle Schikanen des Polizeiregimes, alle Bedrückung, alle Reaktion für immer versenkt waren in das hochwallende Meer der Festtagsfreude.

Und man rief lustig in dem dichten Wirrwarr: »Immer links gehen!« und lachte sich bedeutungsvoll dabei zu und wurde ganz breit vor Freude darüber, daß nun das starre Junkerregiment für alle Zeit gebrochen war. Denn im Schlosse Friedrich Wilhelms III. hatte ja nun der Enkel für sich und seine schöne junge Vicky und für die Freiheit ihres Landes eine Heimstätte in Berlin gefunden.

Als Lassalle sich mit Fräulein Assing langsam, Schritt für Schritt, bis zur Wilhelmstraße vorgearbeitet hatte, sagte Ludmilla: »Ich möchte Onkel nicht so lange allein lassen. Liegt Ihnen sehr viel daran, die andern bei Spargnapani zu treffen?«

Lassalle sah ihr ins Gesicht. Da packte ihn das rührende Bitten ihrer guten Augen.

»Nein,« willigte er rasch ein, »ich begleite Sie sehr gern und sehe mal nach dem Geheimrat.«

Ihre kleine bewegliche Gestalt, die vor innerer Hast immer zitterte wenn sie sprach, vibrierte in Glück, wie das Holz einer Geige unter ihrer schwellenden Tonfülle.

Und da kam über ihre Züge, die eigentlich nicht alt aussahen, doch so, als wären sie nie jung gewesen, etwas Flottes, Übermütiges. Sie hing sich verwegen in seinen Arm, machte ganz große Schritte und rief: »Ach, wie ist's hier gut, nach dem Gedränge in den Linden! Man kann wieder frei atmen und sich freuen an dem Lichte dieses sonnig blauen Wintertages. Sehen Sie nur, wie der Himmel sprüht. Und wie die Fenster des Ministeriums dort drüben blinken, als stieße die Sonne silberblanke Dolche in die dunklen Stuben hinein.« Und sie schnupperte mit ihrer langen Nase in die kalte Luft: »Riechen Sie den Winter? Wie dieser Geruch von Erinnerungen satt ist! Seit Jahren habe ich den Frost nicht so erinnerungsschwer mehr gerochen.

In Hamburg roch es so, als ich noch als Mädchen mit meiner Schwester Ottilie und Mama an der Alster Schlitten fuhr. Da waren ganz blaue Tage. Und Mama erzählte Märchen, und wir kleinen Mädchen staunten zu ihr und der Märchenherrlichkeit auf und glaubten sie. Und als wir älter wurden, da glaubten wir auch noch, uns würde das blaue Märchen des Lebens begegnen.

Und dann starb erst Mama, Onkels Schwester, und bald darauf Papa, kurz vor dem großen Brande 1842. Und da nahm Onkel uns beide zu sich nach Berlin. Tante Rahel war ja schon lange tot. Und wir kamen in das große Haus des Onkels und meinten, hier müsse uns nun gewiß das Märchen begegnen. Doch wir wurden älter und älter. Und dann heiratete Ottilie und ging nach Neuyork. Und ich blieb allein bei dem Onkel. Aber an das Märchen glaube ich im Grunde noch immer.«

Lassalle sah sie stumm von der Seite an.

Die kernige Luft hatte ihre Wangen gerötet, ihre Augen leuchteten froh und kindlich lieb. Da sagte er: »Wie schön Sie heute sind, Ludmilla!«

Er fühlte, wie ihr Arm zuckte. Und hell zu ihm aufblickend, lachte sie ganz jung und mädchenhaft: »Dann muß ich doch wohl verzaubert und mitten in meinem Märchen sein.«

Dann standen sie vor dem alten Hause in der Mauerstraße. Mit raschelnden Röcken sprang sie leichtfüßig die Stufen hinauf. Als er neben ihr vor der Entreetür wartete, gewahrte er zum ersten Male diese zarte gute Linie um ihre Augen. »Sie haben das gütigste Gesicht, Ludmilla, das mir begegnet ist,« sagte er ganz weich. Da hob sie die Hände und stieß hervor: »Sagen Sie das nicht, Lassalle. Das sagen alle. Immer bin ich die Gute, Hilfreiche, Selbstlose.«

Und mit dem Fuß aufstampfend, empörte sie sich: »Ich will nicht immer anderen helfen und selbstlos sein. Egoistisch will ich mir nun endlich meinen Teil vom Leben nehmen, ehe es zu spät ist.«

Da öffnete Dore, die liebe alte Dore, in deren Armen Rahel gestorben war, die Tür.

»Ah,« nickte sie, »Herr Dr. Lassalle! Da wird der Herr Geheimrat sich aber freuen.« –

Als sie abgelegt hatten und in den großen Salon getreten waren, sagte Ludmilla: »Ich werde Sie dem Onkel melden« und eilte hinaus.

Lassalle blickte sich fast ehrfürchtig um in diesem langgestreckten Zimmer mit seinen altmodischen Empiremöbeln, in dem einst das »junge Deutschland« jung gewesen war. Ein feiner Duft entschwundener Tage, wie von verblichenen farbenfrohen Blumen und vergilbten Folianten, die man in der blauen Dämmerstunde wieder einmal aufschlägt, atmete in diesem Salon, der einmal der »Berliner Salon« gewesen.

Da öffnete sich die Tür, und Varnhagens hohe Diplomatengestalt stand auf der Schwelle. In der vornehmen Ruhe seiner Haltung kopierte er ein wenig den alten Goethe.

Mit dem feinen Lächeln, das einst den jungen Heine so bezaubert hatte, trat er auf Lassalle zu, streckte ihm die weiße Gelehrtenhand entgegen und sagte herzlich: »Ich freue mich sehr, Herr Doktor, Sie zu sehen.«

»Und ich freue mich, Herr Geheimrat, Sie so frisch zu finden. Wir haben alle sehr bedauert, Sie gestern unter uns zu missen.«

»Im Grunde,« lächelte Varnhagen, »freue ich mich, Ihren Vergiftungsversuch –«

»Sie wissen schon?« fragte Lassalle emsig.

»Gewiß, gewiß. Ganz Berlin weiß es schon. Mir sagte es Humboldt, der vorhin auf einen Augenblick vorsprach. Aber darf ich Sie in mein Kabinett bitten? Hier ist es kalt – und –« er senkte den Kopf, »hier gehen die lieben Geister meiner Jugend um.«

Sie traten in das an den Salon stoßende hohe Kabinett, das ein ernster Schreibtisch beseelte. Die Wände waren mit Bücherschränken überladen, hinter einem grünen Vorhange lugten unzählige Schachteln und Schächtelchen hervor, peinlich etikettiert und nach dem Alphabet geordnet

Der Greis bot dem Gast einen Stuhl und setzte sich an den mit Papieren übersäten Schreibtisch. Er hatte offenbar gearbeitet, als Ludmilla ihn aufscheuchte.

»Nun,« begann der Alte, sich behaglich in den Stuhl zurücklegend, »ist die liebe künftige Landesmutter in ihre Residenzstadt eingezogen?«

»Ja,« erwiderte Lassalle, »und das Volk hat den Rausch als Morgengabe.«

»Ich wundere mich, daß Sie, der Revolutionär, sich solche dynastischen Feste ansehen,« staunte Varnhagen.

»Ich sehe mir gern meine Zeitgeschichte und ihre Wirkung auf meine Zeitgenossen an,« lächelte Lassalle.

»Ja, ja,« nickte der Geheimrat vor sich hin, »es ist eine herrlich schöne Zeitgeschichte.« Er lächelte, wie er immer lächelte. Doch dem scharfen Blick Lassalles entging nicht das leise spöttische Zucken der Augenwinkel.

»Ich glaube, Herr Geheimrat,« sagte er, »wir beide sehen die Geschehnisse nicht gar zu verschieden.«

Der Alte lächelte geheimnisvoll und diplomatisch. »Vielleicht,« wich er vielsagend aus. Sein Blick huschte hinüber zu den Schachteln und Schächtelchen, in denen seine grimmigen Angriffe gegen das herrschende Regime und seine Vertreter schlummerten, die dereinst nach seinem Tode als Rache für seine Zurücksetzung im auswärtigen Dienst hinausflattern sollten in die überraschte Welt. Er lächelte vor sich hin und malte sich den verblüfften Zorn der herrschenden Mächte und ihrer Schleppenträger an jenem Tage aus, an dem die »Impietäten« des stets liebenswürdig devoten Varnhagen von Ense aus ihrem Hinterhalt hervorbrechen würden. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, diesen klugen jungen Menschen da vor ihm einzuweihen in das Geheimnis, das nur Alexander von Humboldt mit ihm teilte. Doch da öffnete sich die Tür, und Ludmilla, ein Spitzenschürzchen hausmütterlich kokett über dem braunen Rocke, brachte auf silbernem Tablett einen Imbiß.

Es wurde in leichtem Tone geplaudert, bis Lassalle den Geheimrat um die Rückgabe des Briefes bat, den Heine ihm einst aus Paris als Empfehlung an den Berliner Freund mitgegeben hatte.

Der Geheimrat lächelte, doch die Finger, die nervös an dem Eisernen Kreuze zupften, das er sich 1813 erworben hatte und stets im Knopfloche trug, verrieten, wie peinlich ihm dieses Verlangen war.

»Ich würde diese Bitte nicht wagen,« erläuterte Lassalle, »wenn ich nicht wüßte, daß Ihre Heinebriefe ein stattliches Konvolut darstellen.«

»Gewiß, gewiß,« lächelte Varnhagen.

Da schmeichelte auch Ludmilla: »Gib ihn doch heraus, Onkelchen. Dir bleiben ja noch so viele.«

»Liegt Ihnen denn so sehr viel an dem Brief?« fragte der Greis unschlüssig.

»Ungeheuer viel, Herr Geheimrat. Heine hat später, wie Sie wissen, sehr schlecht von mir und meiner Familie gesprochen. Er behauptet, mein Schwager Friedland, mein Vater und ich hätten ihn betrügen wollen und zu einer verfehlten Spekulation in Aktien der Prager Gasgesellschaft verleitet. Natürlich haben wir dem kranken Manne lediglich seine drückende materielle Lage erleichtern wollen. Daß die Sache fehlschlug, war nicht unsere Schuld. Ich bedarf daher jenes Briefes, um darzutun, wie Heine ursprünglich über mich geurteilt hat.«

»Die Gründe sind zwingend,« entschied Ludmilla ermunternd.

Da erhob sich der Alte fast unwirsch und griff zu einer der Schachteln. »Ich bin in meinen alten Tagen Autogrammsammler geworden,« lächelte er sofort wieder. »Es gibt kaum eine bedeutende Persönlichkeit, deren Handschrift ich nicht besitze.«

Er blätterte unter den Bogen. »Die französischen hat mir Heine fast alle verschafft. Da Chateaubriand, Blanche, hier Thiers, da Saint-Beuve, Lafayette, Mirabeau – das ist Robespierre, hier Talleyrand, dies Carnot.« Kindlich stolz wies er seinen Schatz.

Dann nahm er ein sorgfältig umwickeltes Paket Briefe hervor. »Das ist Heine,« nickte er und suchte in den leis vergilbten Blättern. »Hier, lieber Freund, als ein Zeichen meiner tiefen Zuneigung.«

Lassalle griff mit freudigem Dank nach diesem Schreiben, das er vor zwölf Jahren als kostbaren Zauberschlüssel nach Berlin getragen hatte. Er hatte ihm, dem jungen unbekannten Menschen, die ersten Häuser der Stadt weit geöffnet.

Er entfaltete das zusammengelegte Blatt und las in einem Anflug seiner Eitelkeit halblaut vor sich hin:

»Liebster Varnhagen! Mein Freund, Herr Lassalle, ist ein junger Mann von den ausgezeichnetsten Geistesgaben: mit der gründlichsten Gelehrsamkeit, mit dem weitesten Wissen, mit dem größten Scharfsinn, der mir je vorgekommen, mit der reichsten Begabnis der Darstellung verbindet er eine Energie des Willens und eine Habilité im Handeln, die mich in Staunen setzen, und wenn seine Sympathie für mich nicht erlischt, erwarte ich von ihm den tätigsten Vorschub. Jedenfalls war diese Vereinigung von Wissen und Können, von Talent und Charakter, für mich eine freudige Erscheinung.«

»Das klingt doch schon etwas anders, als das, was er später seinem Bruder über mich schrieb,« unterbrach sich Lassalle.

»Lesen Sie weiter!« trieb Ludmilla heftig.

Lassalle lächelte und fuhr in der Lektüre fort:

»Herr Lassalle ist nun einmal so ein ausgeprägter Sohn der neuen Zeit, die nichts von jener Entsagung und Bescheidenheit wissen will, womit wir uns mehr oder weniger heuchlerisch in unserer Zeit hindurchgelungert und hindurchgefaselt. Dieses neue Geschlecht will genießen und sich geltend machen im Sichtbaren; wir, die Alten, beugten uns demütig vor dem Unsichtbaren, haschten nach Schattenküssen und blauen Blumengerüchen, entsagten und flennten, und waren doch vielleicht glücklicher, als jene Gladiatoren, die so stolz dem Kampftode entgegen gehen.«

Lassalle ließ das Blatt sinken, und ins Leere starrend, sagte er: »Welch ein Künder der Zukunft ist dieser große Mann gewesen!«

»Ja,« nickte Varnhagen, »wie vieles, das er vorgeschaut hat, ist schon eingetroffen! An ihm hat sich wieder glanzvoll die Feinheit der lateinischen Sprache erwiesen, die den Dichter vates, den Seher, nennt.«

»Aber,« richtete Ludmilla ihre zierliche Gestalt auf und zitterte vor Erregung, »Sie glauben doch nicht etwa daran, daß Sie einem Kampftode entgegengehen!«

»Ich bin kein Dichter,« wich Lassalle lächelnd aus, »aber das weiß ich, daß ich ein Kämpfer bin.«

Der Geheimrat hatte sich wieder gesetzt und lag plötzlich alt und morsch im Stuhle. Das Gesicht war eingefallen. Er nickte greisenhaft vor sich hin und sagte, wie zu sich selbst, mit der Härte des rückschauenden alten Mannes: »Ja, es ist eine rauhe häßliche Zeit geworden. Wie war das anders in meinen hellen Tagen.« Sein Blick glitt hinüber zu dem Gemälde an der Wand, das Rahels unregelmäßige, starkknochige geistvolle Züge verklärte. »Wie war damals die Welt zart und fein. Wie rauh ist sie geworden. Wenn ich auch dies Zimmer hier kaum noch verlasse, ich lausche von hier aus doch hinaus auf das Geräusch eurer Welt da draußen. Und ich sage Ihnen, junger Freund –« die blauen Schatten unter den weiten Augen hatten etwas unheimlich Ahnendes – »die Menschen werden immer kälter werden, immer brutaler. Der Kampf wird immer rücksichtsloser werden. Die Welt da drinnen,« – er wies mit zitternder Hand nach der Tür des Salons – »diese still beschauliche Welt des Geistes, ist für immer vorbei. An die Türen pocht die Zeit der Rastlosigkeit. Es kommen harte Kämpfe. Der Kampf um die Einigkeit Deutschlands wird bald ausgekämpft sein. Doch dann kommt die Zeit des sozialen Ringens. Wohl mir, daß ich vorher zur Ruhe komme.« Er wickelte sich fröstelnd in den langen schwarzen Rock.

Sie schwiegen bedrückt. Endlich sagte Lassalle: »Sie haben recht, Herr Geheimrat. Die sozialen Kämpfe werden beginnen, sobald ein Führer aufersteht.«

Da rafften Ludmillas nervöse Hände das zerflatternde Gespräch zusammen. »Obwohl ich nun schon solange bei dir und deiner sinnigen Güte lebe, Onkel, der du wie ein Symbol jener geistreichen Zeit zu uns herüberragst, liebe ich doch diese neue Zeit. Ich glaube nicht, daß ihr Alten glücklicher wart mit euren blauen Blumengerüchen, eurer Entsagung und euren Schattenküssen. Ich ziehe es vor, ein Kind dieses neuen Geschlechts zu sein, das genießen will und seine Wirklichkeit mutig lebt.«

Und ihr heißer Blick umglühte Lassalles Stirn. Der lächelte.

Doch der Greis seufzte: »Ach, liebes Kind, gewollt haben wir Alten das ja auch. Nur die heutige Rücksichtslosigkeit im Erringen, die hat uns gefehlt.« – –

Bald darauf verabschiedete sich der Gast.

Und als Ludmilla ihn hinausgeleitet, und er sich mit einem einenden Händedruck von ihr verabschiedet hatte, eilte sie in ihre Mädchenkammer und schaute lange prüfend in den Spiegel. Sie stand und schaute und suchte das Wunder in ihren Zügen. Doch sie waren bleich, leblos und ohne Reiz wie immer. Nur die Augen – ja, die glänzten heute so hell. Bange Zweifel griffen ihr an das liebeshungrige Herz. Aber er hatte doch gesagt: »Wie schön Sie heute sind, Ludmilla!« Nicht »hübsch«, nein »schön« hatte er gesagt. Ob er es am Ende nur aus Mitleid –? Nein, nein! Sie preßte die Hände zusammen. Kein Mitleid von diesem Manne, vor dem alles in ihr, was Lebensgier und Glückessehnsucht war, auf Knien lag. Liebe – Liebe – Liebe! Und sie starrte sich an und fand sich anmutlos wie immer. Doch eine kleine leise Stimme, ganz tief im Herzen, sang wehmütig hoffnungsvoll: »Was gilt das, wie ich mich sehe! Vielleicht bin ich schön in seinen Augen. Es mußte ja einmal kommen wie ein Wunder im Märchen. Und in einem Wunder darf man sich über nichts wundern.« Und sie schritt in dem großen öden Hause der Vergangenheit einher mit der leise singenden Stimme ihrer wunderholden Gegenwart.

Am Nachmittage war Lassalle auf dem Wege zur Krafftschen Eisengießerei in der Lietzower Wegstraße. An der Potsdamer Brücke blieb er stehen und schaute die Grabenstraße entlang aus nach Marie Krafft mit dem Vater. Diesen Weg mußten sie von ihrer Villa in der Bendlerstraße kommen. Doch niemand war auf dem verschneiten Wege zu erblicken. Kalt rauchte es von den Eisschollen des Kanals in die Winterluft.

Lassalle überquerte die schmale Holzbrücke und schritt nun auf dem Landwege dahin. Im Herbst war er hier im tiefen Sande oft hinausgewandert nach Schöneberg auf einsamen Spaziergängen, in denen die letzte Fassung des Heraklit zur Vollendung reifte.

Kein Trottoir, keinen Fahrdamm gab es auf dieser Straße hinter der Brücke. Die wenigen Wagen, die hier fuhren, schufen sich aus eigener Kraft eine feste Fahrschiene im tiefen märkischen Sande.

Mit ausgreifenden Schritten marschierte er auf der festgefrorenen Straße. Nur hier und da stand zur Seite des Weges ein einstöckiges Gartenhäuschen, das Dach tief und knurrig in die Stirn gedrückt. Sonst war hier draußen, wie der Berliner Jargon so treffend sagte, »nichts als Jejend«.

Große Gärten, weite Felder, jetzt alles ruhend im Winterschlafe unter warmer weißer Schneedecke. Der einsame Wanderer dachte an die Spaziergänge im Spätsommer, als das Korn hier überall auf den Feldern wogte und die Gärten grün und früchtereif herübergrüßten. Und Lerchen stiegen, und eines Nachts, als er spät von einer weiten Wanderung heimkehrte, schluchzten rechts und links des Weges die Nachtigallen ihr altes junges Preislied auf die Schönheit der Natur.

Plötzlich tauchte aus Lassalles Unterbewußtsein die Vision des Morgens wieder empor.

Er lächelte ein bitteres ironisches Lächeln. Er durch das Brandenburger Tor einziehen in Goldkutsche mit sechs Schimmeln! Er! Er mußte an seine Kinderjahre denken, als er trotz aller Müdigkeit mit Gewalt den Schlaf verscheucht hatte, um mit wachen Augen zu träumen. In die Begebenheiten der Bücher, die er las, hatte er sich als Held hineingeflochten und tausend gewaltige Dinge erlebt. Ritter und Held, König, Kaiser und Aladin mit der Wunderlampe war er da gewesen. Wie prächtig hätte in diese Kinderschwelgereien die Goldkutsche mit den sechs Schimmeln hineingepaßt!

Er war an der Lietzower Wegstraße angelangt, einem Landweg mit wenigen kleinen Gartenhäuschen. Nur da hinten ragte eigentümlich plastisch in den qualmig grauen Winternachmittag das rote hohe Gebäude der Jungbluthschen Wagenfabrik und dahinter schwarz und massig die Krafftsche Eisengießerei.

Er zog die goldene Uhr. Es war noch Zeit. Er mußte denken. Weiter schritt er auf Schöneberg zu.

Nein, das war eine tolle Vision seines überreizten Hirns. Als Triumphator über welche Mächte sollte er wohl in Berlin einziehen? Eine harte realistische Zeit brach an, die Wundern abhold war. Er ballte die Hände in den Manteltaschen. Aber er wollte, wollte hinauf! Anderen war es doch gelungen, Männern, die auch aus den Niederungen bürgerlicher Existenz kamen, waren hoch emporgestiegen. War er nicht auch aus solchem Eisen gegossen? »Ich will – will hinauf,« summte er grimmig zwischen den Zähnen. Er fühlte es doch, tief da drinnen in der heftig pochenden Brust, er war zu etwas Großem, Himmelragendem erkoren. Fühlte es seit den Kindertagen. Solch Gefühl lügt nicht!

Er stand still und reckte sich. Etwas in ihm schrie: Messias des neunzehnten Jahrhunderts. Starr blickte er über die weißen Felder dem Fluge der krächzenden Krähen nach.

Hatte auch Heine sich geirrt, als er ihn den Messias nannte? Er ging weiter in den fallenden Winterabend hinein und grübelte. Wie war diese Seherkunde über Heine gekommen? Damals in der kleinen Pariser Wohnung im Faubourg Poissonnière war es. Der Dichter saß in seinem Lehnstuhle, das eine Auge war schon ganz geschlossen, die Hälfte des Gesichts gelähmt. Sie hatten lange ins Weite hinaus geschwiegen. Da hob der kranke Mann sich plötzlich aus den Kissen, das gesunde Auge öffnete sich feurig, der gelähmte Mund verzog sich schief und er flüsterte, die zitternde Hand nach ihm ausgestreckt: »Sie werden der Messias des neunzehnten Jahrhunderts sein.«

Damals im Rausch der unbegrenzten Hoffnungen seiner Zwanzig war ihm dieses Prophetenwort nicht wundersam erschienen. Damals wußte er selbst seine große Zukunft. Er hatte nur genickt. Und Heine war wieder in sich zusammengesunken und hatte noch leiser wiederholt: »Ja, Sie werden der Messias des neunzehnten Jahrhunderts sein.«

Aber heute, in den Zweifeln seiner Zweiunddreißig, sah er es anders. Wem sollte er der Messias werden? Wem lohte die Flamme in seinem Herzen? Wem waren alle diese Geistes- und Willenskräfte im Hirn aufgespeichert? Wem? Welcher Helfertat?

Er sann mit gefurchter Stirn. Der Freiheit? Ach, im tiefsten Innern wußte er, daß die Zeit einem Kampfe um die politische Freiheit ungünstig war. Die blutige Reaktion, der »weiße Schrecken«, war niedergebrochen, als Rochows Kugel den Berliner Polizeipräsidenten von Hinkeldey im Duell niederstreckte und verröcheln ließ, als Prinz Wilhelm den geisteskranken König ersetzte. Man sprach von Amnestie der Freiheitskämpfer von 48, von liberalen Reformen, vom Anbruch einer »neuen Ära«. Er wußte zwar, sie würde nicht kommen, gewiß, nicht durch eine englische Prinzessin. Der Prinz, der den Aufstand in Baden mit blutiger Faust niederkartätscht hatte, der »Erbfeind aller Volksrechte«, der wegen seiner volksfeindlichen Gesinnung nach England hatte fliehen müssen, der Mann, der nichts als strenger Soldat war, der war nicht der Mann liberaler Gedanken. Aber man glaubte an ihn, und im Volk war kein Verlangen nach neuen Kämpfen.

»Doch die Zeit wird kommen, wenn sie sich in ihrem Hoffen getäuscht sehen,« verbiß sich Lassalle in seine Helferrolle, »dann wird sie kommen, dann werde ich sie aufrütteln und der Messias der Freiheit werden.«

Er warf sich in die Brust und schritt weiter. Trotz des gewaltsamen Anklammerns an diese Zuversicht wühlte in ihm eine zweifelnde Qual. »Oder bin ich berufen, Deutschland aus seiner schmachvollen Zerrissenheit zu reißen?« grübelte er. »Ist das mein Messiasberuf?« War er von der Vorsehung auserkoren, Österreich niederzuschmettern und unter Preußens Führung Deutschland zu einen? Er blieb wieder stehen und starrte mit gefolterten Sinnen in die Runde. Wo war er nur hingeraten?

Er suchte sich zurechtzufinden. Dort, weit hinten ragte aus der rauchigen Winterluft ein Bauernhaus. Er erkannte es wieder. Es stand auf dem »Alt Schöneberger Feld«.Heute Nollendorf-Platz. Er hatte sich aber tüchtig verlaufen! Nun hieß es schnell zurück. Sie warteten gewiß schon ungeduldig auf ihn, denn sie wollten am Abend in die Stadt hinein zur Illumination. Er machte kehrt und schritt rasch aus. Am Jacobschen Weg,Heute Kurfürstenstraße. erkennbar an den schneegekrönten Sanddünen, eilte er vorbei, dort ragten auch schon gespenstisch in den Abend die Arme der Windmühle an »Blums Mühlenweg«.Heute Steglitzer Straße. So, nun war er gleich da. Er bog in die Lietzower Wegstraße ein, hastete über den schmalen verschneiten Feldrain, der vom Kanal zwischen den dunkelnden Gärten herüberlief,Heute Blumeshof. jetzt schritt er dahin am Zaune der Jungbluthschen Fabrik, wieder ein holpriger Feldweg,Heute Magdeburger Straße. dann stand er vor dem Tor der Krafftschen Eisengießerei.

Er trat ein. Auf der Schwelle eines niedrigen Wächterhäuschens erschien ein junges Mädchen.

»Wohin wünscht der Herr?« fragte sie ein wenig schnippisch.

»In das Privatkontor,« gab Lassalle Bescheid.

»Gleich dort, gradeaus,« zeigte sie und trat in das Haus zurück.

Lassalle eilte zu der gewiesenen Tür, öffnete und stand in einem traulichen Räume. Um einen ovalen weißgedeckten Kaffeetisch saßen Krafft, Marie und ein junger Herr, in dem Lassalle sofort den Tribünennachbar des Fabrikanten wiedererkannte.

Marie war bei seinem Eintritt unbesonnen freudig in die Höhe gesprungen. Jetzt reichte sie ihm mit beherrschter Herzlichkeit die Hand. Der Hausherr stellte vor: »Herr Maschinenbauer Strasser – Herr Dr. Lassalle.« Dann bewillkommnete er den neuen Gast herzlich und schlicht.

»Ich habe mich verspätet,« entschuldigte sich Lassalle.

»Macht nichts,« lachte Krafft in seiner urwüchsigen Gemütlichkeit. »Herr Strasser erzählte uns eben von einem neuen Stern am Künstlerhimmel.«

»Kennen Sie den Bildhauer Reinhold Begas?« fragte Marie eifrig dazwischen und lächelte ihm rasch und heimlich zu.

»Reinhold Begas?« sann Lassalle, sich an den Tisch setzend, »nein. Ich kenne den verstorbenen Maler Karl Begas, dem Namen und den Werken nach.«

»Reinhold ist einer der Söhne,« erläuterte freundlich Strasser.

Da klopfte es an die Tür, und hereintrat mit dampfender Kaffeekanne das junge Mädchen, das vorhin Lassalle den Weg gewiesen hatte. Marie erhob sich und nahm das Tablett. »So, Hedwig,« nickte sie, »das wäre nun alles.« Das Mädchen ging, unter Lassalles prüfendem Blick errötend. Er hatte einen niederträchtig verwirrenden Funken in den blauen Augen, wenn er ranke junge Glieder betrachtete.

Während Marie den Kaffee eingoß und die Sandtorte, die inmitten des Tisches thronte, austeilte, sprach Strasser weiter: »Reinhold Begas ist ein guter Bekannter von mir vom Gymnasium her. Wir haben dort in derselben Klasse gesessen. Er ist eben aus Rom zurückgekehrt und zeigte mir vor einigen Tagen das Gipsmodell seines neuen Werkes, das er von dort mitgebracht hat.«

»Was stellt es dar?« fragte Lassalle.

»› Pan tröstet die verlassene Psyche‹. Ein wunderbares Werk. Ich habe so etwas Herrliches nie geschaut.«

»Sie lieben Kunst wohl sehr?« lächelte Marie freundlich.

»Sehr,« antwortete er mit aufleuchtenden Augen.

»Erzählen Sie bitte weiter von Begas,« ermunterte Krafft und stippte den Kuchen in die Tasse.

»Es ist ein Pan, der einem holdseligen Kinde, das arglos zwischen seinen Schenkeln sitzt, väterlich milde Trost zuspricht. Aber wie das gemacht ist! Diese Lebendigkeit und Naturwahrheit in den Körperformen, dieser durchgearbeitete menschliche Oberkörper des Pan und diese rührende naive Anmut der Psyche – diese geniale Harmonie des Malerischen und Realistischen –! Ich bin überzeugt, es wird das Ereignis der diesjährigen akademischen Kunstausstellung.«

»Ei,« rief Marie lebhaft. »Er will es dort ausstellen? Dann können wir uns ja alle schon darauf freuen.«

Hier sagte Lassalle: »Ich weiß nicht, ich kann mich für solche Darstellungen nicht begeistern. Pan und Psyche! Was soll ich mir dabei denken? Nach meiner Meinung ist die höchste Aufgabe der bildenden Kunst, die Kämpfe für die Freiheit, ihre Siege und das heroische Märtyrertum für die Freiheit darzustellen. Dann erhebt sie sich zu ihrem Zweck, die Menschheit zu erheben.«

»Ich weiß doch nicht,« zweifelte Krafft. Der junge Mann lächelte nur. Marie aber rief: »Herr Doktor, welche Anschauung! Die Kunst soll einen Zweck verfolgen! Auf den Gegenstand der Darstellung kommt es doch überhaupt in der Kunst nicht an. Sondern allein darauf, wie das gemacht ist!«

»Nein,« entgegnete er hitzig, »mir ist der Gegenstand alles.«

Der junge Mann lächelte wieder. Da sagte Marie, den Liebsten beschirmend: »Sie müssen eben alles von Ihrem großen Standpunkte des Freiheitskampfes sehen, Herr Doktor. Das mag manchem einseitig scheinen, aber in dieser Einseitigkeit liegt die Größe des Genies.« Damit streckte sie ihm die Hand zu, über den Tisch herüber.

»Na, dann wollen wir mal 'rein in die Fabrik,« meinte Krafft lächelnd. »Die Herren sind ja wohl fertig. Sonst wird es zu spät.«

Sie traten in die Riesenhalle mit ihrem hellaufklirrenden, dumpfniederbrausenden Dröhnen, Sausen, Hämmern und Schwirren.

Da ratterte und knatterte und wetterte es von hundert schwingenden Schlägen, da ging allmächtig wie das Schicksal der Koloß des Dampfhammers nieder auf glühweiße Eisenbarren, blau knisternde Sternenwelten versprühend unter seiner formengestaltenden Schöpferwucht. Da knarrte und krächzte und kreischte es an den Drehbänken, da feilte es, daß die Zähne schmerzten. Und aus den Höllenrachen der Rundöfen fauchte die rote Glut, und purpurn überhauchte schwarze Zyklopenschatten hantierten davor und schürten die Flamme und zogen an Titanenzangen das weißglutende Eisen mit seinem zitternden bläulichen Dunstgeflimmer hervor.

Als sie eintraten, kam ein älterer Arbeiter mit bravem ehrlichen Gesicht auf sie zu. »Lassen Sie nur, Klingbeil,« schrie ihm der Herr durch den ohrenzersprengenden Lärm entgegen, »ich führe schon selbst.« Er ging wieder an seine Arbeit.

»Mein erster Vorarbeiter,« erläuterte Krafft mit Anspannung seiner gewaltigen Stimmkraft. »Einer meiner Besten. Vielleicht übertrifft ihn nur der junge Mensch dort. Sehen Sie – der schwarze.« Und rasch auf ihn zugehend, fragte Krafft: »Na, Loewe, gelingt die neue Konstruktion?«

Der junge Mechaniker hob den Kopf. Große feurige Genieaugen blickten auf den Chef. »Ich hoffe, Herr,« sagte er schlicht und wandte sich wieder der Arbeit zu.

Krafft und Strasser schritten in eifrigem Fachgespräch weiter. Lassalle blieb an die Drehbank des jungen Mannes gebannt. Etwas in diesem arbeitsversunkenen Gesicht fesselte ihn. »Ein prachtvoller Kopf,« bewunderte er, sich dicht zu Mariens Ohre neigend. Der junge Mann sah auf. Eiserne Energie barst aus den klugen Augen.

»Sie sind Jude?« fragte Lassalle.

»Ja,« antwortete er, ohne sich in der Arbeit stören zu lassen. »Mein Vater ist Lehrer und Synagogenbeamter in Heiligenstadt im Eichsfelde.«

»Wie heißen Sie?« fragte Lassalle liebenswürdig.

»Ludwig Loewe.«

»Ich bin der Dr. Lassalle,« stellte er sich stolzbewußt vor. »Haben Sie von mir gehört?«

»Ja,« nickte Loewe, »Sie haben mal eine Kassette gestohlen.«

Marie und Lassalle lachten. »Das habe ich zwar nicht,« stellte Lassalle richtig, »aber es tut nichts zur Sache. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie aussehen wie einer, der einmal ein Borsig wird.«

»Das weiß ich,« bestätigte der Mechaniker bescheiden und kühn.

»Auf Wiedersehen,« grüßte Lassalle, »vielleicht begegnen wir uns noch einmal irgendwo.«

»Ich hoffe es,« sagte der andere, »denn Sie sehen aus, als hinge für Sie irgendwo eine Krone.«

»Bravo,« klatschte Marie begeistert in die Hände. Dann gingen sie weiter und suchten die beiden andern. Sie waren nicht zu finden. Da schlug Marie vor: »Weißt du was, Ferdinand! Wir benutzen die gute Gelegenheit und gehen ins Bureau zurück und erlisten uns einige Minuten des Alleinseins.«

»Ich möchte aber gern –« wandte er ein.

»Du kommst ein anderes Mal wieder,« bat sie und drängte zum Ausgang. Er folgte widerstrebend.

Und als sie in dem kleinen Zimmer an seinem Halse hing, fragte er: »Wer ist dieser Strasser? Der Mann gefällt mir nicht.«

»Oh,« lachte sie, »mir gefällt er recht gut. Ein feiner, kunstverständiger Mensch. Papa hat ihn heute früh zufällig kennen gelernt. Sie haben viel über Maschinenbau miteinander geschwätzt. Papa sagt, er sei in seinem Fach eminent beschlagen. Er ist einer der leitenden Ingenieure bei Egels.«

»So – so,« machte Lassalle. »Da muß er allerdings was weg haben. Er ist doch höchstens dreißig.«

»Siebenundzwanzig,« berichtigte Marie.

»Du bist ja schon sehr genau orientiert,« grollte er.

Da fiel sie wieder stürmisch über seine Lippen her und lachte: »Bist du eifersüchtig, mein großartiger Frauenverächter!«

»Achtung,« warnte er und löste sich von ihr. »Man kommt.«

Bald darauf traten die Herren ein.

»Ah,« lachte Krafft, »da haben wir die Ausreißer. Ein bißchen laut da drinnen, was?«

»Ein Werk, auf das Sie stolz sein müssen,« rühmte Lassalle ehrlich bewundernd.

»Bin ich auch,« reckte der Hüne sich machtvoll auf. »Habe ich aufgebaut, Stein auf Stein. Als einfacher Schlosserjunge bin ich anno 13 nach Berlin gekommen.«

Marie blickte bewundernd auf den Vater. Doch Strasser sagte geschäftskundig:

»Mit Kraft, Energie, Können und Fleiß ist auch heute in unserer aufblühenden Industrie noch groß zu werden. Nur darf man keinen Gefühlsduseleien nachgehen. Sie haben recht, daß Sie heute arbeiten lassen, Herr Krafft. Wir lassen heute ruhen, damit die Arbeiter den Festtag genießen können.«

»Ih, wo werd' ich!« wies Krafft von sich.

»Ich glaube überhaupt,« fuhr Strasser fort, und die Augen, die vorhin, als er von dem Kunstwerke des Reinhold Begas sprach, in zarter Begeisterung geleuchtet hatten, wurden hart und grausam, »große Erfolge erzielt man nur, wenn man in dem Arbeiter das sieht, was er für den Fabrikherrn sein muß: eine Ware, die er zu dem billigsten Preise handelt!«

Lassalle warf den Kopf auf. Marie bemerkte es. Der alte Krafft nickte eifrig. »Ganz gewiß. Der Arbeiter darf uns nichts sein, als eine Ziffer in unserer Kalkulation. Das ist das ABC jeder Fabrikation.«

»Das heißt mit anderen Worten,« fuhr Lassalle erregt dazwischen, »je größer Ihr Unternehmergewinn ist, desto weniger erhält der Arbeiter.«

»Nein,« klärte Strasser sachlich auf. »Die Frage, ob der Unternehmer viel verdient oder wenig, berührt den Arbeiter kaum. Er erhält als Lohn stets nur soviel, als er zum notwendigen Unterhalt für sich und seine Familie braucht.«

Und begierig, seine Unternehmertüchtigkeit vor dem großen Fabrikherrn zu erweisen, packte der junge Streber seine Weisheit tüchtig aus:

»Weniger als den notwendigen Lebensunterhalt darf der Arbeiter nicht erhalten, sonst gehen die Familien zugrunde. Die Arbeiterzahl nimmt ab, und die Arbeitskräfte werden natürlich teurer. Aber mehr braucht der Unternehmer auch nicht zu zahlen. Denn sowie die Arbeiter mehr erhalten als das, was sie unbedingt zu ihrem Lebensunterhalte brauchen, nehmen die Arbeiterehen zu, die Kinderzeugung steigt, die Sterblichkeit nimmt ab, und es dauert gar nicht lange, so sind die Kinder zu Arbeitsfähigen herangewachsen. Zudem erfolgt in Gegenden, in denen gute Lohnbedingungen herrschen, sofort starker Zustrom fremder Arbeitshände, und alles ist wieder beim Alten. Denn durch das große Angebot von Arbeitskräften kann der Fabrikant, da nun eine große Konkurrenz unter den Arbeitern herrscht und jeder Arbeit haben muß, den Lohn drücken und wieder nur gerade das bieten, was der Arbeiter unbedingt braucht, damit er und seine Familie existieren kann. Das ist das ganze Geheimnis des Lohngesetzes.«

»Aber das ist doch entsetzlich!« empörte sich Lassalle.

Krafft zuckte die Achseln. Der junge Mann lächelte wieder, wie vorher, als Lassalle seine seltsame Ansicht über die Kunst äußerte.

»Ja, aber,« fuhr Lassalle mit der Hand irr über die Stirn, »das ist doch etwas Furchtbares, was Sie da so ruhig hererzählen. Eine Unendlichkeit des Elends. Was Sie da sagen, leuchtet sofort ein. Dann wird doch aber niemals eine Zeit kommen, die dem Arbeiter mehr gibt, als den kümmerlichsten Lebensunterhalt.«

»Nein,« bestätigte Strasser diese kleine Selbstverständlichkeit.

»Aber – aber –!« Lassalle stammelte vor furchtbarster Erregung, »dann – dann – arbeiten die Leute doch unter der grausamsten Hoffnungslosigkeit. Nie wird sich ihr Los bessern. Der allgemeine Reichtum kann wachsen, die Industrie blühen, der Unternehmer Millionen auf Millionen häufen – nie wird dem Arbeiter ein Teil dieses Segens zufließen. In alle Ewigkeit bleibt er auf den Lohn beschränkt, den er zum kümmerlichsten Dasein braucht.«

»So ist es leider,« bedauerte Krafft. »Es mag hart sein. Aber es liegt nun einmal in der Natur des Unternehmertums, das natürlich die Kräfte so billig nimmt, als es sie kriegen kann. Dafür tragen wir aber auch das ganze Risiko.«

Lassalle schwieg. In ihm wogte und wallte es.

»Mein Gott – mein Gott,« flüsterte er, noch ganz benommen von der aufquellenden neuen Erkenntnis, »dann werden ihnen nie die Segnungen der Kultur blühen, nie werden sie die Mittel besitzen, sich ein wenig Schönheit ins Leben zu bringen. Denn das ist Luxus für sie, die nur gerade genug verdienen, das tägliche Leben kümmerlich zu fristen. Es liegt etwas Aufpeitschendes, Hirntötendes in diesem Gedanken der ewig unwandelbaren verzweifelten Ausgeschlossenheit.«

»Gott,« meinte Strasser, »sie sind doch ganz zufrieden. Sie glauben eben, es muß so sein.«

Da sagte Krafft abschließend: »Wir werden es nicht ändern. Wie wär's, meine Herrschaften, wenn wir jetzt zur Illumination führen? Meine Equipage steht vor der Tür.«

An diesem Abend sprach Lassalle kein Wort mehr. Die Illumination strahlte ihm nicht. Stumm saß er Marie Krafft gegenüber, fühlte ihr Knie warm an seinem Schenkel, starrte in die tausend Lichter, die vor seinen Augen wirr flimmerten, und dachte und dachte.

Eine neue Welt des Elends hatte sich ihm ehern erschlossen. Bleich hob sich sein Cäsarenkopf aus dem Dunkel des Wagens. Marie wandte kein Auge von ihm. Nie war er ihr so anbetungheischend und fern aller irdischen Zärtlichkeit erschienen. Ihre tastende Liebe ahnte, daß weltenstürzende Gewalten in ihm sich emporreckten, die das Gespräch entfesselt hatte. Er starrte, starrte hinaus, auf die tausendköpfige jauchzende Menge. Und wußte plötzlich, wer des Messias harrte.


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