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Lucknow

Lucknow hat 273 000 Einwohner, wovon drei Fünftel Hindus sind, und ist nach Kalkutta, Bombay und Madras die größte Stadt Indiens. Seit 1775 die Hauptstadt von Audh, liegt es am Gumtifluß. In dem »Jahre der mutiny« (1857) war Lucknow ein blutiger Schauplatz erbitterter Kämpfe.

Lucknow gilt als die gesündeste und beliebteste indische Garnison. Die herrlichen Gärten in der Stadt, die prachtvollen Parkanlagen vor derselben, nicht zum wenigsten ihr gemäßigtes Klima, machen sie zum Mittelpunkt aller sportlichen Vergnügungen der europäisch-indischen Gesellschaft. Im Januar und Februar versammelt sich hier die ganze elegante Welt Indiens zu den großen Pferderennen, an denen die reichen Nawabs mit ihren prachtvollen Rennställen teilnehmen, und Wettkämpfe aller Art finden dann statt. Ungeheure Summen werden verspielt und ein kolossaler Luxus soll hier in dieser Zeit entfaltet werden. Man kann die Stadt das Baden-Baden Indiens nennen. Jetzt in der »toten« Saison scheint es ausgestorben wie ein Modebad.

Unser Hotel liegt nicht nur in einem Garten, sondern auch an einem großen, grünen Platz, an den sich ein zweiter und dritter, alle mit Blumen und Bäumen bepflanzt, anschließen. Um diese Anlagen gruppieren sich die Regierungsgebäude. Hier befindet sich auch der »Regenschirmpalast«, also genannt wegen des goldenen Schirmes, der den Pavillon seines Daches beschattet. Im Regenschirmpalast – Chatr Manzil – ist heute das englische Klublokal installiert. Die leidlich erhaltenen Prunkgemächer sind zu Eß-, Lese- und Spielräumen verwendet. Ein schöner Ballsaal mit Bühne und eine große, gute Bibliothek sind ebenfalls vorhanden. Alle Staatsgebäude repräsentieren einen eigentümlichen Mischstil von französischer und italienischer Renaissance, mit maurischen Kuppeln, zackigen Bogen und flachen, mit Pavillons gekrönten Dächern. Auf diesen Dächern ist der Versammlungsort der Familie. Dort oben und in den Straßen gibt sich alt und jung dem beliebten Vergnügen hin, rote Drachen steigen zu lassen. Auffallend erscheint, wie viel heiterer die Gemütsart der hiesigen Bevölkerung gegenüber derjenigen der südlicheren Provinzen ist.

Von Marmor und edlerem Baumaterial dürfte in der ganzen Stadt kaum etwas zu sehen sein. Alles gemeine Tünche und Ziegelbauten mit überladener Stuckarbeit. Unsere Rundfahrt führte uns zuerst zum Museum, das hier in der indischen Volkssprache »Ajaib Gar«, d. i. »Kuriositätenhaus« heißt. Das Museum wird von einem gewissen Dr. Führer mit der knappen Summe von neunhundert Rupien als gesamte Dotation geleitet und enthält archäologische, ethnographische, sowie naturhistorische Sammlungen, vor allem aber sehr interessante buddhistische Skulpturen, die auf den Einfluß hellenischer Kunst deuten und bei Muttra, einer alten Stadt in der Nähe von Agra, 1891 ausgegraben wurden. Hier fand ich auch endlich, ausgestopft und klassifiziert, den Geier, den ich so oft zwischen Hühnern herumstolzieren sah, und den Alfred immer zu einer grauen Gans oder alten Riesenhenne degradieren wollte. »Neophron Gringiriniamus« ( Indian vulture [scavenger]) ist in der Jugend ganz weiß und wird erst mit den Jahren dunkel, hat einen langen, gelben Hakenschnabel, weiße Brust mit schwarzen Flügelbändern.

Außer den wissenschaftlichen Sammlungen ist im Museum auch das Modell der englischen Minister-Residenz aufgestellt, wie sie sich zur Zeit der mutiny 1857 präsentierte. Bei Berücksichtigung der ungünstigen Position der Briten, der hingegen außerordentlich vorteilhaften und gedeckten Stellung des aus nächster Nähe angreifenden Feindes läßt sich die verzweifelte Lage der ersteren ermessen. Es war gut, daß wir dieses Modell sahen, bevor wir die weitläufigen Gartenanlagen besuchten, in denen die Ruinen der » residency« zerstreut liegen, wir bekamen hierdurch einen Begriff der schrecklichen Verhältnisse, unter welchen die mutige Besatzung, sowie die unter ihren Schutz geflüchteten Frauen zu leiden hatten. Mit unvergleichlicher Tapferkeit und beispielloser Zähigkeit hielten die Belagerten die täglichen Angriffe des Feindes standhaft aus, obschon Seuchen und Hungersnot wüteten, bis in letzter Stunde der Ruf durch die Straßen klang: » the Campbeils are coming«, und das schottische Regiment an der Spitze des ersehnten Entsatzes heranrückte. Mit regem Interesse durchwandelten wir den prachtvollen Kirchhof, in dem unter herrlich schattigen Bäumen und wildwuchernden Lianen 2000 Männer, Frauen und Kinder begraben liegen. Ergreifende kurze Inschriften stehen auf den Grabsteinen, rührende Worte treuer Gatten – zärtlicher Mutterliebe – bescheidenen Heldenmutes.

Unser alter Führer drang darauf, uns noch nach dem »Aran brajas« zu führen. Was konnte das nur sein? Das Kauderwelsch, welches der Mann sprach, war nicht zu verstehen. Im »Murray«, dem indischen Bädeker, stand diese Sehenswürdigkeit nicht verzeichnet, aber »Murrays Lucknow« ist überhaupt konfus geschrieben. War es ein Palast – ein Grabmal? Nein, es war die aus England importierte » iron bridge«, die über den Fluß Gumti führt, an dem Lucknow liegt. Sie ist von einem uns völlig unbekannten König mit unaussprechlichem Namen erbaut.

Durch Gärten, Anlagen und schöne Alleen fuhren wir den Gumtifluß entlang. Hier fanden wir auf einem mächtigen Baum eine reizende kleine Affenfamilie mit ein paar dicken Onkels und alten Großvätern. Die Kleinen näherten sich mit zierlichen Sprüngen in mutwilligem Spiel, sie bewarfen uns neckisch mit eichelartigen Nüssen und trieben tollen Schabernack, während die Alten, eklig grunzend, uns ihre rosa Rückseiten zuwendeten.

Abends war große Illumination zur Feier der » coronation«. Sämtliche Fenster der Häuser, alle Blumenbeete der Gartenanlagen, die Konturen der Ruinen waren mit Oellämpchen besetzt, alles flimmerte und glitzerte; ganz Lucknow war auf den Beinen und strömte gaffend der » residency« zu, in deren Garten ein großes Feuerwerk abgebrannt wurde. Die dunkeln Eurasierinnen, deren es hier auffallend viele gibt, nahmen sich in ihren europäischen Kleidern wie maskierte Affen aus.

 

2. Januar. Wir leben in unserm Hotel mit unbeschreiblichem Behagen. Welch ein Genuß ist es aber auch, wieder einmal schmackhaft essen, in reinlichen Betten schlafen und sauberes Waschwasser benützen zu können. Die größte Sehenswürdigkeit von Lucknow scheint mir unser Hotel, und ich säße viel lieber in meinem prachtvollen Zimmer auf bequemem Stuhl, als daß ich mich der Mühe unterziehe, ramponierte Kaiserpaläste zu besuchen oder über Land zu fahren, um den geschmacklosen Hallenbau zu sehen, wo unter einer Steinplatte und einer Menge Glaskronleuchtern der Nawab von Audh seinen ewigen Schlummer schläft. Aber wirkliches Vergnügen bereitet die Fahrt durch die einzig schönen Anlagen in und vor der Stadt. Entzückend sind die drei Gärten der »Gartenbaugesellschaft«. Herrlich ist der große Rehpark mit der »Dilkusha«, der »herzerfreuenden Villa«, wundervoll der immense und dabei tadellos gehaltene Windfieldpark, welcher mit seinen ungeheuren grünen Rasenplätzen, Bambusriesen, ragenden Palmen, dichten Buschgruppen, mächtigen Schattenbäumen, Hecken von gelben Rosen, Farrenkräutern und Orchideen sowie mit seinen rot bestreuten Wegen, seinesgleichen kaum findet.

Stundenlang fuhren wir durch den meilengroßen Park, an dessen südöstlichem Ende die »Martinière«, ein bizarres Gebäude liegt. Man versteht darunter eine großartige Stiftung, welche Ende des 18. Jahrhunderts von einem französischen, später englischen Soldaten und schließlich enorm reich gewordenen Indigohändler, General Martin, gemacht wurde. Die »Martinière« ist ein Erziehungsinstitut für etwa zweihundert Knaben, die hier unentgeltlich erzogen werden.

Nur einen kurzen Besuch statteten wir dem durch seine entsetzliche Fliegenmenge unerträglichen Basar ab. Es gab dort nichts, was unsere Kauflust hätte reizen können. Eine Spezialität Lucknows hatten wir bereits in dem Laden gekauft, der dem Museum angeschlossen ist, und der für reelle Preise wie gute Arbeit Garantie bietet. In eisenartiges Metall sind silberne Verzierungen eingelegt, welche die heraldischen Tiere von Audh – zwei Fische – darstellen. Gefäße, Teller und Schirmgriffe werden in dieser aparten Zusammenstellung gefertigt, und erinnert dieselbe sehr an sarazenische Arbeit.

Zum erstenmal sah ich heute eine Karawanserei, das »Hotel der Eingeborenen«, wie unser Führer erklärte. Es ist ein von allen Seiten durch eine Kolonnade umschlossener Hof. Je zwischen zwei Säulen wird ein Raum durch Mauern abgeteilt, in welchem immer eine Familie haust. Im Hof stehen Ekkas (Droschken) und Kamelkarren, die zweistöckigen Reisewagen der Eingeborenen.

Die Temperatur in Lucknow kann einem schönen europäischen Herbsttag verglichen werden. Um die Mittagszeit ist es sehr warm, später wird es geradezu kühl, und es fröstelte uns, als wir zum Hotel zurückkehrten. Wir waren seit der schlechten Nacht in Khanpur erkältet, und ich ging in die Apotheke, um lindernde Mittel für unsern Katarrh zu holen. Während ich auf das geheimnisvolle Gebräu warte, sehe ich einen Menschen, mit auf dem Rücken eng zusammengeschmiedeten Händen, wie ein Raubmörder, ängstlich an den Häusern hinschleichen. Die dürre, in graubraune Fetzen gehüllte Gestalt blickt weder rechts noch links, hebt die Augen nicht vom Boden und ist ganz kahl geschoren. Da man in den indischen Zuchthäusern die Gefangenen so menschenfreundlich behandelt, daß man sie alle Wochen auf ihr Gewicht hin prüft, halte ich im ersten Augenblick den mit Handschellen gefesselten Mann für einen Verbrecher, der seinen »Ausgang« hat. Aber nein, es ist ein Büßer, einer jener Sanyasis, die in selbstertötender Askese ihr Leben verbringen, um sich von aller Wiedergeburt zu erlösen. Der Apotheker meinte achselzuckend: » Oh, it's only a fanatic!« und deren gibt es hier viele!

Der Hindu hat eine ungeheure Furcht vor der Seelenwanderung, vor ihrer auf- und abwärtssteigenden Stufenleiter, und unterwirft sich, um dieser drohenden Gefahr zu entgehen, lieber auf Erden unglaublichen und schmerzhaften Bußübungen, um neuen Wiedergeburten zu entgehen oder sie wenigstens zu vermindern. Asketen, Sanyasis, Jogis, Munis und Rischis, alle drängen danach, zu den »bei Lebzeiten Befreiten« zu gehören, zu jenen, die durch die »erlösende Erkenntnis« die »unsichtbare Kraft«, die frühere Schuld verflossener Inkarnationen, vernichtet haben und keine Wiedergeburt mehr über sich ergehen lassen müssen. Jeder sucht sich die Erlösung auf seine eigene Art zu verschaffen, der eine dadurch, daß er mit Handschellen durchs Leben schleicht, oder jahrelang auf einem Beine aufrecht steht, oder mit emporgerecktem Arm auf den Fersen hockt, oder auf einem Stachelbette schläft, oder in die Sonne starrt bis er erblindet, während andere die Vereinigung mit ihrem Gott unmittelbar durch das Versenken in sich selbst suchen.

 

3. Januar. Infolge der Erkältung in Khanpur fühlen wir uns noch immer nicht ganz wohl, und verlängern deshalb, um einer möglichen Erkrankung vorzubeugen, unsern Aufenthalt in Lucknow.

 

4. Januar. Der Tag der Ruhe in Lucknow war uns sehr wohltuend gewesen, und wir traten unsere Fahrt nach Benares in gehobener Stimmung an. Wir hatten in Benares im Hotel de Paris Zimmer bestellt, stiegen aber dann in Clarks Hotel ab, wohin uns der Manager von Wutzlers Hotel in Lucknow mit der Versicherung empfohlen hatte, alle aus diesem Wechsel entstehenden Konsequenzen tragen zu wollen. Natürlich waren wir kaum in Clarks Hotel eingetreten, als auch schon ein Babu aus dem Hotel de Paris mit einem Schreibebrief erschien, indem wir reklamiert oder angehalten wurden, volle drei Tage Pension zu zahlen. Wir übergaben mit Grandezza das Schriftstück dem Manager unseres Hotels, der alles mit einem Wink ordnete. Der Babu verschwand, und wir wurden nicht mehr belästigt. Wahrscheinlich haben sich die beiden Hotels freundschaftlich in uns geteilt.

Wir sind mit einer Stunde Verspätung um zwei Uhr in Benares angelangt, fanden aber doch noch das Tiffin bereit, das ganz genießbar war, jedoch nicht aus den Wutzlerschen Fleischtöpfen stammte; auch die Zimmer waren mehr indisch als schweizerisch, und ich glaube, Clark zahlt an Wutzler für seine Empfehlung so viel, daß ihm nichts mehr übrig bleibt, um seine Zimmer weiter als mit zwei Betten und einem Stuhl zu möblieren.

Gleich nach dem Tiffin engagierten wir den von unserm Manager empfohlenen Führer, der einen achtunggebietenden Eindruck machte. Er glich einem würdigen, behäbigen Lehrer, trug eine Hornbrille mit großen runden Gläsern auf der breiten Nase und sprach sehr gut Englisch. Chatung Lall war ein gelehrter, aber armer Brahmane, so eine Art »Pandit«, der jedoch nicht nur Führerdienste während der kurzen Touristenzeit tut, sondern sich auch als Agent einer Lyoner Goldfadenfabrik betätigt. Für gewöhnlich ist ein Pandit kein Geschäfts- und Handelsmann, sondern ein Weiser, der das Wesentliche aller Disziplin beherrscht, im großen ganzen keine spezielle Religion, sondern vielmehr eine philosophische Weltanschauung besitzt, an das Vedanta-System glaubt und höchstes Wissen erstrebt, vermöge dessen man das eigene Selbst, d. h. das innerste Selbst als die Welt und die Welt als sich erkennt – wonach man in Wahrheit also nichts anderes ist, als das ungeteilte Brahman. Der Pandit wähnt, die höchste Erkenntnis erreicht zu haben, nimmt an, daß für ihn eine Wiedergeburt möglich sei, aber nur eine Wiedergeburt mit göttlicher Würde. Bei allem Respekt vor unserm trefflichen Chatung Lall, glaube ich zwar nicht, daß seine nächste Inkarnation eine gottähnliche sein wird, wie ich denn auch bezweifle, daß er alle Disziplinen, als da sind, Grammatik, Philosophie, Astronomie, Astrologie, Rhetorik und Poetik, Rechtswissenschaft und Medizin, beherrscht, aber er ist ein sehr unterrichteter, belesener, intelligenter Mann, und gab uns über Sitten, Gebräuche und religiöse Anschauungen der Hindus interessante Aufklärungen, welch letztere er immer mit den Worten einleitete: » Our creed is,« was eine große Toleranz bedeutet. Ich würde jedem Reisenden raten, sich solchen soit disant »Pandit« statt einem gewöhnlichen »Babu« zum Führer in Benares zu wählen.


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