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Gwalior

30. Dezember. Zweiter Versuch, nach Gwalior zu gelangen. Nach anderthalbstündigem Warten auf den Zug treten wir die Fahrt an. Unser Führer » That's all«, wie wir ihn nannten, den wir in den letzten Tagen nicht haben konnten, weil er, wie alle Menschen, die etwas auf sich halten, in Delhi war, traf noch im letzten Augenblick vor der Abfahrt des Zuges auf dem Bahnhof ein. Er war in seinem schönsten Staat, in wattiertem und von oben bis unten gesteppten Rock. Der Babu hatte uns » That's all« nachgesandt, und wir nahmen ihn mit, weil er da war und so ein flehendes, unschuldsvolles Gesicht schnitt. Gebraucht hätten wir ihn durchaus nicht. Ohne ihn hätten wir wohl ebenso viel gesehen, und es hätte die Hälfte gekostet, denn » That's all« entpuppte sich als ein ganz durchtriebener Gauner, der mit den Kutschern Halbpart machte und uns für eine Fahrt statt mit 2½ Rupien mit 8½ Rupien belasten wollte. Diese Unverschämtheit ging uns denn doch über die Hutschnur. Mit Hilfe eines liebenswürdigen Halfcast, den wir auf der Station in Gwalior trafen, wurde die Angelegenheit in Ordnung gebracht. Man zahlt hier für eine Stunde zwölf Annas, d. i. eine Mark. – Aber ich greife vor. – Also, wir besteigen den überfüllten Zug in Agra, der sich unter unendlichem Geschrei in Bewegung setzt.

Die Fahrt nach Gwalior führt über den Fluß Tchambal, der alljährlich zur Regenzeit gegen hundert Fuß steigt, durch eine sehr interessante Gegend. Kurz vor Dholpur passiert man eine lange, großartig gebaute, eiserne Brücke. Auf dem jenseitigen Ufer des Flusses durchkreuzt die Bahn eine höchst seltsame Landschaft. Ein Labyrinth von Gräben und Erdspalten, die neunzig Fuß tief und drei bis vier Meilen lang sind, zieht sich vom Flusse fort ins Land hinein und erinnert an die Gran Cañon in Kolorado. Diese sandigen Schluchten sind das reiche Jagdgebiet des Panthers. Ueberall sieht man Rudel von Antilopen aufstehen, die stutzend zu uns herüberschauen, um dann, wie auf ein Signal, flüchtig zu werden. Zahlreiche Kamelherden weiden auf dieser gelben Erde, auf der kein Halm, nicht das kleinste Blättchen wächst, und nur ein armseliges Kraut gedeiht, das die Farbe des Bodens trägt. Nach zweistündiger Fahrt nahen wir uns unserm Ziel. Die Feste Gwalior wird schon von weither sichtbar. Imposant und malerisch zugleich liegt sie auf einem unvermittelt aus der Ebene steil aufsteigenden dreihundert Fuß hohen Gopagiri – einem Bergrücken, der nach drei Seiten hin so schroff abfällt, daß die Felsenabhänge kaum zu erklimmen sind. Wegen dieser vorzüglichen Position übte die Festung als strategisch wichtiger Punkt von jeher eine starke Anziehungskraft aus, und die Trümmer von Hindu-, Jain- und mohammedanischen Tempeln zeugen von der wechselnden Herrschaft, unter der Gwalior gestanden hat.

Die Station, bei der wir ausstiegen, ist ungemein armselig, und das Frühstück, das wir einnahmen, zeichnete sich weniger durch Güte, als durch die Abwesenheit von Genußmitteln aus. Auch die geschlossene Droschke, die wir später bestiegen, ließ sehr viel zu wünschen übrig. Zwei katzengroße Pferdchen mit zerzausten Mähnen und zerschundenem Leib, die sich vor Schwäche hilfesuchend gegeneinander lehnten, krochen mehr, als daß sie liefen, auf der staubigen Landstraße in brennender Sonnenhitze unter Peitschenhieben mühsam vorwärts. Wie gerne würden wir zu Fuß gegangen sein, wenn solch tierschutzfreundliche Gedanken den armen Rößlein zugute gekommen wären, und wenn es unsere Leistungsfähigkeit überhaupt erlaubt hätte! In diesem Indierlande aber kann nur der Eingeborene laufen, und der geht hübsch langsam! Nach kurzer Fahrt halten wir vor einem hocheleganten Haus, dem vom Maharadja von Gwalior »distinguierten« Fremden zur Verfügung gestellten Bungalow, doch ist es geraten, sich telegraphisch anzumelden, falls man hier zu übernachten wünscht. Der Verwalter des Bungalow vermittelt die Bestellung des Elefanten, welchen der Maharadja zur Besteigung des Forts bereit hält, und verabfolgt die Einlaßkarten in dasselbe.

Die Festung Gwalior ist 275 nach Christi Geburt von Suraj Sen gegründet. Als dieser Radja einst den Bergwald jagend durchstreifte, traf er, von Durst gequält, den hier hausenden Eremiten Gwalita, der ihm einen Trunk Wasser reichte und ihn durch diesen von der Lepra heilte. Zur Erinnerung an seine glückliche Genesung errichtete Suraj Sen auf dem Berg das Fort und nannte es nach dem Namen des Einsiedlers Gwaliawar oder Gwalior.

Wir hatten den Elefanten zur Besteigung des Forts dankend abgelehnt und schlichen mühselig den steilen Anstieg hinauf. Die Straße führte dicht an dem schroffen Felsen entlang, in den einzelne, sehr gut gearbeitete Reliefs eingehauen sind und ein Vishnu-Tempel aus dem neunten Jahrhundert eingebaut ist. Man durchschreitet sechs gewaltige Tore, ehe man die l¾ Meilen lange Plattform betritt, auf der die Festung mit ihren Palästen und Tempeln liegt. Unabsehbar breitet sich die Ebene vor unsern Blicken aus. In einer Entfernung von etwa fünfundvierzig Kilometern sieht man den kolossalen Tempel von Sahanija und weit dahinter die roten Berge von Dholpur, an denen wir heute morgen vorbeigefahren waren. Unten am Fuße des Felsens, auf dem die Zitadelle ruht, liegt die alte Stadt Gwalior, ein wenig südlicher davon die neue Stadt Laschkar, d. h. Lager, und ringsum ein unendliches mit Dörfern besätes Flachland. Von den Toren, die wir durchschritten, ist das zweite, das Hindolator, als guter Bau der Hinduarchitektur interessant; sehr schön aber ist das letzte, das Elefantentor, welches, mit geschmackvollen Steinhauerarbeiten geschmückt und von einem reizenden, luftigen Pavillon gekrönt, sich wahrhaft feudal präsentiert. Durch dieses Tor betritt man das Innere des Forts und befindet sich gleich vor dem Glanzpunkt von Gwalior, dem »Man-Sing-Palast« aus dem 15. Jahrhundert, der seiner wundervollen Rückwand halber berühmt ist. Diese mächtige, fensterlose Mauer wird von fünf eingebauten Rundtürmen unterbrochen, welche sieghaft die Lande beherrschen. Majestätisch erhebt sich die hundert Fuß hohe Wandfläche auf dem senkrecht ins Tal abstürzenden Felsen; mit prachtvollen, in emaillierten Kacheln ausgeführten Mosaiken verkleidet, schillert sie herrlich in grünem, blauem und goldenem Farbenglanz. Ein breiter Fries legt sich um den oberen Teil der Mauer, auf dem den Brahmanen geweihte Enten, wie spanische Azulejos-Kacheln leuchtend, in langen Reihen dargestellt sind. Die Tiere erscheinen wohl plump in der Form, es fehlt ihnen alle charakteristische Behandlung, aber sie wirken höchst dekorativ.

Elf Hindutempel liegen im Fort zerstreut, von denen zwei Sas-Bahus, d. h. »tausendarmige Tempel«, Grabstätten sind. Der größere Tempel, ein mächtiger, schwerer 5teinbau, dessen jetzt eingefallene ungeheure Kuppel von vier kolossalen, reich mit Bilderschmuck dekorierten Pfeilern getragen wurde, ist einer »Schwiegermutter« gewidmet. Die Säulen füllen durch ihre wuchtige Masse den inneren Raum beinahe ganz aus. In nächster Nähe steht auf einem kleinen Hügel in Form eines Kreuzes das zum Andenken einer »Schwiegertochter« errichtete »Sas-Bahu«. Nach allen Seiten hin offen, gewährt es einen prachtvollen Blick in die Ferne.

Sehr interessant ist auch der einst dem Vishnu geweihte Tempel Teli-Ka-Mandir mit pyramidalem Portikus, welcher an die Gopuren Südindiens erinnert. Ueber dem Tore schwebt das Fabelwesen Garuda, ein geierartiger, als Reittier dienender Vogel, der sich, wie der Stier »Nandi« auf den Tempeln Shivas, auf jenen Vishnus abgebildet findet. Zu beiden Seiten dieses Tores stehen reiche Figurengruppen, die ähnlich jenen am Grabmal Papst Clemens XIII. von Canova in St. Peter dem Grab-Eingang zustreben. Rings um diesen Tempel sind alle Ausgrabungen von künstlerischem Wert, die auf Gwalior gemacht wurden, aufgestellt.

Als das weitaus Interessanteste auf Gwalior dürfen die für Nordindien höchst eigenartigen, berühmten Felsenfiguren betrachtet werden. Diese gigantischen Steinskulpturen, welche bis zu hundert Fuß hohe Jain-Idole darstellen, sind auf den verschiedenen Seiten des Berges in Nischen eingehauen und verteilen sich auf fünf Gruppen. Die Urvahischlucht, die verhältnismäßig leicht zu erreichen ist, umschließt zweiundzwanzig dieser nackten Heiligenfiguren. Starr und steif sitzen oder stehen sie da in ihren Nischen. Sie machen, zwischen enge Felsspalten eingeklemmt, mit ihren kolossalen Verhältnissen einen erschreckenden Eindruck. Neben einem dieser Steingiganten in der oberen rechten Ecke der Nische befindet sich ein Basrelief, das eine eigentümlich bewegte, zarte Gestalt zeigt, die in der Linienführung an Perugino erinnert und sich seltsam fremdartig in dieser brutalen Riesenwelt ausnimmt. Wie überall, wo die Moslems geherrscht haben, ist alles Figürliche verstümmelt, und kaum waren diese Kolosse vollendet, als sie auch schon 1527 von König Barbar, der damit seinem Namen Ehre machen wollte, geköpft wurden. In späteren Zeiten haben die Jains ihren Heiligen neue Köpfe aus Stuck aufgesetzt, doch sind diese Restaurierungen recht ungenügender Art.

Auf der Straße, die durch die Urvahischlucht führt, herrscht ein starker Verkehr. Ungeheure, von zwanzig Pferden und Ochsen gezogene Lastwagen schleppen das zu Bauzwecken benötigte Material auf das Fort.

Wir waren durch die Hitze und die lange Wanderung in brennender Sonne so erschöpft, daß wir auf den Besuch von Laschkar mit seinen 105 000 Einwohnern verzichteten, obwohl es mit seinem phantastischen Maharadja-Palast, seinen Türmen und Kuppeln, sowie seinen weißen Nawab-Palästen verführerisch aus dichtem Grün herüberlockte. Aber todmüde, unfähig, noch eine Stadt mit ihrem Gewimmel und Geschrei zu ertragen, beschlossen wir die Rückkehr. Zuvor pflückten wir noch eine Handvoll Blätter von dem berühmten Tamarindenbaum, der auf dem Grabe des Tondichters Tansen steht. Da das Kauen dieser Blätter der Stimme ganz besondere Weichheit verleihen soll, so suchen sich die Noatschmädchen dieselben zu verschaffen und kauen sie mit großer Vorliebe. – Ein schönes Kuppelgrab, unter dem Mahomed Gaus, ein Heiliger aus Akbars Zeiten ruht, besichtigten wir noch im Vorübergehen und eilten dann, halb verdurstet und verhungert, der Station zu. Hier hatten wir mit unserm Führer » That's all« die schon erzählte, schmerzliche Auseinandersetzung, welche damit schloß, daß wir nach tarifmäßiger Entlohnung des Kutschers » That's all« definitiv verabschiedeten und ihm zur Strafe für seine Gaunerei den Tagelohn nicht auszahlten. Als Führer von Gwalior hatte er sich völlig unzureichend erwiesen. Er konnte nicht mehr erklären, als was wir sahen: daß ein Baum ein Baum, ein Haus ein Haus sei, und wir mußten uns einen zweiten Führer nehmen, der auf dem Fort Bescheid wußte.

Der Zug, welcher uns nach Agra zurückbringen sollte, war bei seinem Eintreffen in Gwalior ganz überfüllt, und ich verdankte es nur der Liebenswürdigkeit zweier englischer Damen, die mich in ihr reserviertes Coupé einsteigen ließen, daß ich nicht zurückbleiben mußte. Es waren zwei, wie es schien, sehr vornehme englische Ladies, die mir Gastfreundschaft gewährt hatten. Sie kamen direkt von England und waren vom Vizekönig zum Durbar geladen. Aus Furcht, etwas von ihren Sachen zu verlieren oder bestohlen zu werden, trugen sie ihren Schmuck, den sie für die Festlichkeiten mitgebracht hatten, auf, an und unter den Kleidern, hatten ihr Gepäck, das kleine sowohl wie das große, in ihrem Coupé turmhoch aufgestapelt, und ich fand kaum auf der Ecke eines Koffers einen schmalen Sitzplatz. Die Damen lagen lang ausgestreckt auf den Sofas, knabberten aus ungeheuer hohen, runden Büchsen sonderbar aussehende Kakes und hatten kalte Kompressen auf dem Kopf. » Do you like India?« stöhnte die eine, » is'nt it horrid,« hauchte die andere, und beide nahmen ihr Riechfläschchen, als ich sie versicherte, daß ich Indien wundervoll fände. – Mit dieser Erklärung endigte unsere Beziehung, sie machten die Augen zu, ich sah zum Fenster hinaus mit sonnetrunkenem Entzücken.

 

31. Dezember. Mährend ich im Bette sitze und schreibe – es ist kalt genug – hören wir merkwürdige Töne. Alfred frägt: »Sind das Turteltauben oder Heulweiber?« »Nein, das sind Heulmänner,« sage ich. Ich hatte diesen Klageton, den die eine Leiche tragenden Männer ausstoßen, schon oft gehört. Beinahe jeden Morgen drang dieser Laut wohl eine Stunde lang und mehr aus der Ferne zu mir herüber. Es ist die Zeit, in der die Stadt ihre Toten zur Verbrennungsstätte hinausträgt.


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