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Karte mit Reiseroute

Der Beginn der Reise

»Eine Reise ist ein Trunk aus dem Quell des Lebens.«

Hebbel.

Am Sonntag, den 9. November 1903, verlassen wir München, um die Fahrt nach Indien anzutreten.

Auf dem Bahnhof haben sich unsere Angehörigen und Freunde getreulich eingefunden. Ihre guten Wünsche sollen uns in die unbekannte Zukunft begleiten. Obwohl es mich mit unwiderstehlicher Gewalt nach dem Land der Palmen und Märchen zieht, so bleibt mir doch der Abschiedsschmerz nicht erspart. Die Trennung fällt mir sehr schwer!

In Genua treffen wir mit unsern Reisegefährten zusammen: Frau v. R., Baron und Baronin Gemmingen, Herr Federer und Graf Lippe.

Wir sind alle in mehr oder weniger erregter Stimmung. Die letzten Stunden vor der ersten so großen Reise wecken die verschiedensten Gefühle: Man freut sich. Man bangt. Man möchte den Reiseplan nie gefaßt haben. Man kann es nicht erwarten bis die Anker gelichtet werden. Kurz, man ist trotz der besten Nerven nervös. Nicht genug mit dieser Unruhe, gesellte sich zu unserm Reisefieber noch ein lähmender Schreck. Der Kreditbrief war verschwunden! Was beginnen?! Alle teilen unsere Aufregung! Ich packe die Koffer aus, die Taschen, die Hutschachteln! Nirgends etwas zu finden! Wir suchen fieberhaft, überall, nur nicht dort, wo die Sorge um seine Sicherheit den Kreditbrief versteckt hatte. – Im Futter des Tropenhelms lag der Schatz verborgen.

13. November. Baron und Baronin Novellis, die von La Spezzia herübergekommen sind, um »Lebewohl« zu sagen, bringen uns in ihrer Dampfbarkasse an Bord des »König Albert«. – Die Freunde verabschieden sich. Solange sie uns zu erkennen vermögen, begleiten sie mit ihrer Dampfbarke unser stolzes Schiff, das majestätisch den Hafen verläßt. Winkend und grüßend stehen wir am Reeling. Die Barkasse wird kleiner. Sie entschwindet. Mehr und mehr weicht die Küste zurück. Sie versinkt.

Nach einem kurzen Orientierungsgang durch das Schiff, währenddessen wir uns versichert haben, daß die schriftlich bestellten Plätze für unsere Liegestühle auf dem Promenadedeck reserviert sind, begebe ich mich in unsere Kabine, um mich in ihr häuslich einzurichten. Wer weiß, wie lange »Meeresstille und ruhige Fahrt« freie Bewegung erlauben.

 

14. November. Die erste Nacht auf See war recht unangenehm. Unsere Kabine ist zwar für vier Personen eingerichtet und gilt daher für sehr geräumig. Allein mir erscheint sie trotzdem eng! An die beschränkten Raumverhältnisse, wie an vieles andere, muß man sich gewöhnen: An den Lärm im allgemeinen, an das Türzuschlagen im besonderen, an das Stöhnen und Stampfen des Schiffes, an die unermüdlichen Spaziergänger auf dem Promenadedeck, an die Laufspiele der Kinder.

Ich habe das untere Bett gewählt. Alfred klettert auf einer schmalen Leiter in das obere Stockwerk. Die Betten sind weich und bequem. Jedoch Alfreds Bettrost ist defekt. Durch die Last, die auf ihm ruht, beschwert, senkt er sich zu mir herab. Ich kann mich nicht aufrichten, ohne daß sich meine Haare in dem Drahtnetz verwickeln. Alfred rührt sich zwar kaum, und doch, so oft er Atem holt, prasselt es über mir, als ginge ein Hagelwetter auf ein Glasdach nieder. An Schlaf ist für diesmal nicht zu denken. Mögen Boreas und Neptun erlauben, daß ich während der nächsten drei Wochen mehr Ruhe finde!

Heute um ein Uhr mittags ankern wir vor Neapel. Der Süden wird in allen Tönen hörbar. Unzählige kleine Barken umtänzeln unsern dreistöckigen Koloß. In einem Kahn sitzt eine musikalische Familie, und nach dem Klang der Violine und Mandoline tanzt ein Kinderpaar Tarantella in schwankendem Boote. Ein Mann im Trikot taucht nach Silbergeld. Kähne mit Blumen und Obst, Dampfbarkassen, welche die Passagiere an und von Land bringen, umlagern in wildem Durcheinander das Schiff.

Nachmittags Fahrt durch Neapel. Um halb elf Uhr sollen die Anker gelichtet werden.

Die Nacht ist herrlich, der Mond beleuchtet scharf die Konturen der Berge, die den Golf umgrenzen, seine Strahlen gleiten sanft über die gekräuselten Wasser hin, tausend geheimnisvolle Zeichen aus der Tiefe zaubernd, die bald wie chinesische Buchstaben, bald wie Millionen kleiner glitzender Schlänglein durcheinanderschwirren. Von allen Seiten tönt »Santa Lucia« und »O bella Napoli!« In den Barken wird getanzt, und fröhlich klingt das »Buon Viaggio« herauf. Ein umgestülpter Regenschirm, an dessen Stiel eine Laterne befestigt ist, schwingt begehrlich auf und nieder; von den verschiedenen Etagen des Schiffes fliegen Soldis in diese höchst originelle Sammelstelle.

Die Welt liegt in friedlicher Pracht da. Man begreift nicht, daß diese ruhige, silberschimmernde Fläche sich auch wild aufbäumen kann, um all dieses genießende Wohlsein in jammerndes Elend zu verwandeln. Wir wiegen uns in dem Gedanken, daß der Zauber andauern müsse, trotzdem um den Mond langgestreckte Wolken ziehen, die, sich auflösend, jene kleinen Cirruswölkchen bilden, welche als Vorboten schlimmer Stunden gelten.

Ich gehe noch vor Lichtung des Ankers zu Bett und schlafe die ganze Nacht ausgezeichnet, denn Alfred hat sein Bett über mir verlassen und benützt aufopfernderweise das Sofa, welches nicht schmäler, aber vielleicht doch nicht ganz so gut wie das Bett ist.

 

15. November. Herrliche Fahrt entlang der Küste. Der Vulkan Stromboli, ein stumpfer Kegel, ragt einsam aus dem Wasser. Sein Krater schweigt für den Augenblick, aber ist es nicht wunderbar, daß unter diesem feuerspeienden Berg sich eine Ortschaft gebildet hat, deren Einwohner friedlich und unbekümmert in der ewig drohenden Gefahr leben und lieben! Es folgen die Liparischen Inseln, und gegen Mittag durchfahren wir die Meerenge von Messina. Alles ist in herrlichen Sonnenschein getaucht. Ultramarinblau breitet sich das Meer mit seinen Buchten vor uns aus. Schiffe mit unzähligen kleinen und großen Segeln schweben gleich Schwänen über die glatte Flut. – Mit Kap Spartivento entflieht uns das letzte Stückchen europäischer Erde, und wir stampfen hinaus in die weite See, wo gleich ein ganz neuer, ungewohnter Wellengang einsetzt. Die Wogen schlagen über das Vorderdeck, und Alfred, der den Lockungen der schönen Braut von Tientsin leichtfertig gefolgt ist und mit ihr dort spaziert, wird ganz durchnäßt. Die Braut von Tientsin ist eine junge Frankfurterin – Fräulein A… –, die mit ihrer zukünftigen Schwägerin, Fräulein von P…, dem Brautkleid und dem Schleier nach Tientsin zur Hochzeit reist.

 

16. November. Wetter unverändert, ziemlich hoher Seegang. Nachmittags kommt Kreta in Sicht. Das Meer hat sich ein wenig beruhigt. Der Leuchtturm der Insel Gavdos blickt kaum sichtbar aus der Ferne herüber. Das Wasser ist tiefschwarz, und die weißen Katzenpfötchen, die auf jeder Welle gierig vorkrabbeln, scheinen an den herabgelassenen Leinenvorhängen des Promenadedecks heraufzugreifen und kratzend die ganze Länge des Schiffes entlang zu huschen. Alles, was nicht krank, liegt auf Deck und genießt die frische, kräftigende Luft.

Das Leben auf dem Schiff ist nicht sehr tatenreich. Es besteht aus Essen, Trinken und Schlafen. Früh um halb acht erschallt das Trompetensignal: »So leben wir, so leben wir alle Tage«, und wirklich, bis heute leben wir in Freuden und ohne Seekrankheit. Zugleich mit dem Signal streckt die Badefrau, Madame Schwepke, ihren roten Kopf in die Kabine und ruft: » Bath ready!« Das ganze Schiffspersonal spricht nämlich englisch, so gut oder schlecht es geht, und wenn man deutsch antwortet, scheinen sich die Leute erst auf ihre Muttersprache besinnen zu müssen, so sehr sind sie die britischen Passagiere gewöhnt. Ich eile ins Bad; man muß sehr pünktlich sein, denn jede halbe Stunde ist vergeben. Nach dem Bade finde ich dann in meiner Kabine eine Tasse Tee mit Kakes und Früchte bereit. Ich lege mich aufs Bett, um möglichst wenig Platz zu verbrauchen, und frühstücke so, während mein Herr Gemahl, der mittlerweile auch gebadet bat, sich ankleidet. – Um halb neun Uhr ertönt neuerdings Trompetensignal. Nun bedeutet es, daß das »Breakfast« fertig ist und bis zehn Uhr bereit gehalten bleibt. Wir dejeunieren um neun Uhr. Ich beschränke mich bald auf Porridge – Hafergrützsuppe –, die den Vorzug hat, nach nichts zu schmecken, und auf gefüllten Pfannkuchen, der verhältnismäßig auch nach möglichst wenig schmeckt. Alle Speisen sind zwar so gut zubereitet, daß man wirklich nicht klagen kann, indessen, man wird der vielerlei Gerichte rasch müde und wählt bald ausschließlich das einfachste. Nach dem »Breakfast« macht man eine Promenade, nimmt sich vor, zehnmal um das Oberdeck herumzulaufen, aber schon nach dem fünftenmal liegt man bereits wieder, ein Buch in der Hand, auf seinem Stuhl und liest – nein, man liest nicht, sondern paßt auf, ob der Nachbar nicht einschläft und man, ohne sich vor ihm schämen zu müssen, auch einen Nicker machen darf. Es ist unglaublich, wieviel man an Bord schlummern kann. Plötzlich fallen die Augen zu, das Buch in den Schoß, und man verliert das Bewußtsein.

Um elf Uhr hört man das ganze Schiff entlang eine hohe Stimme teilnehmend fragen: »Bouillon oder Limonade gefällig?« und einen Ton tiefer eine andere: »Belegte Brötchen?« Man nimmt Bouillon, die weniger angenehm, aber gesünder als Limonade ist, und Käse-, Wurst- oder Schinkenbrötchen dazu, welche in unwandelbarer Reihenfolge auf der ganzen Reise nebeneinander liegen. Zweimal die Woche werden Bouillon und belegte Brötchen mit Musik begleitet, serviert. Denn »Musik muß sein«, sie erfrischt die Lebensgeister, wie unser vorsorglicher Kapitän Pollack sagt, der allmorgendlich einen Rundgang über das Promenadedeck macht, wo die meisten Passagiere versammelt sind, jedem einen guten Tag wünscht, sich nach dem Befinden eines jeden erkundigt, ermuntert und beruhigt, aber wohlweislich niemals sagt, was für Wind und Wetter zu erwarten steht. An den Morgenbesuch, den er den Passagieren abstattet, schließt sich eine Besichtigung des ganzen Dampfers an, die man mitmachen kann, wenn man will.

Zwischen elf und ein Uhr tut man, was man vorher getan hat. Um halb ein Uhr trompetet es »Bereitmachen zum Lunch«. Man stürzt in die Kabine, um auf das zerzauste Haar einen besseren Hut zu setzen und sich »smart und neat« zu machen. Um ein Uhr Trompetensignal »Lunch bereit«; nun strömt man von allen Seiten hungrig herzu. Das Dejeuner besteht aus zwei warmen Gängen und kalten Speisen je nach Wahl, dann Käse und Obst. Die Gäste sitzen an einer langen Tafel, die in der Mitte des reich ausgestatteten Saales steht, und an quer in den Saal hineingestellten Tischen zu je acht Personen. Wir hatten einen Tisch dicht neben der Ausgangstüre, was uns ein schnelles Verschwinden bei stürmischem Wetter ermöglichte. Nach dem Dejeuner wird auf Deck Kaffee serviert, und dann ruht man sich männiglich hier oder in der Kabine von den Anstrengungen des Tages aus.

Gegen vier Uhr erscheint die Gesellschaft wieder. Auf einem Teil des Decks werden die Stühle an die Wand gerückt; Engländer und Amerikaner beginnen ihre lärmenden Bewegungsspiele. Es wird wettgelaufen, gesprungen, geworfen und geschoben, während die unbeteiligt im Hintergrunde Sitzenden ihres Lebens nicht sicher sind und stets fürchten müssen, daß ihnen irgendeine Holzscheibe an den Kopf fliegt oder ein luftspringender Engländer in den Schoß fällt. Um vier Uhr erscheint ein großer Tisch mit Tee- und Kaffeeservice, um den sich die ganze Gesellschaft drängt. Während einer halben Stunde klappern jetzt nur Tassen und Teelöffel; das entsetzliche Gepolter des »Boccia«, das mit flachen Scheiben gespielt wird, das Klirren des Ringwerfens verstummt und die Platten des »Schaffelbords« sausen einem nicht mehr zwischen die Füße. Nach dem Tee zerstreuen sich die Passagiere; jeder sucht Raum für einen Dauerlauf, der eine auf dem Sonnendeck, der andere auf dem unteren Promenadedeck, oder er macht einen Rundgang durch alle Räume, was nur den Reisenden der ersten Kajüte erlaubt ist, während jene der andern Klassen auf ihre Abteilungen angewiesen bleiben. Ein paar »Kilometerfresser« rasen wie wahnsinnig hundertmal ums ganze Schiff, stoßen an alle Stühle und rempeln die Entgegenkommenden an. Wie ein Blitz fahren sie an uns vorbei, die wir ruhig dasitzen und schreiben, statt zu laufen.

Der Sonnenuntergang ist neben den Mahlzeiten das bedeutendste Ereignis des Tages. Man steigt auf die höchste Höhe des Schiffes, um möglichst lange den Rand des schwimmenden Feuerballs zu sehen und streitet dann darüber, ob der Untergang der Sonne gestern schöner oder heute interessanter gewesen sei. Um sieben Uhr erklingt die Fanfare »Wohlauf Kameraden«, was soviel bedeutet wie »Dinner in Sicht«. Wer nicht schon verschwunden ist, um sich zu »dressen« (das heißt in der Schiffssprache, Toilette machen), der eilt jetzt in die Kabine; die Herren um den »Smoking« anzulegen und die Damen, um sich zu verschönern, denn im Laufe des Tages sehen die meisten derselben gar nicht hübsch aus, ein wenig verfroren und sehr zerzaust. Um halb acht Uhr bläst die Trompete »Dinner ready«. Wie zu einer großen feinen Abendgesellschaft, gepudert und gebrannt, in langer Schlepprobe, rauschen die Damen, im Frack oder Smoking stolzieren die Herren steif daher. Der Speisesaal ist taghell beleuchtet, die Goldwände strahlen, der weiße Damast der Tafel glänzt, das Silber funkelt, das Kristall glitzert, die Musik erklingt – kurz, es ist alles sehr festlich arrangiert. Nur, daß sämtliche Flaschen, Gläser und Teller in Rahmen stehen, damit sie nicht abgleiten, stört die Tafelfreuden, denn wenn diese Vorsorge getroffen wird, dann ist Sturm im Anzug.

Es dauert lange, bis das Essen beginnt; ich halte mich deshalb an die »Toasts«, die ich in ungeheuren Quantitäten verzehre, um meinen Magen zu beschäftigen und um eine Rebellion desselben zu verhüten. Das Dinner besteht aus siebzehn bis siebenundzwanzig Gängen. Es wird sehr gut und aufmerksam serviert. Alle Stewarts tragen einheitliche kurze dunkle Matrosenjacken; der erste derselben, der wie ein eleganter hübscher Leutnant aussieht, steht hinter dem Kapitän am oberen Ende der Tafel, dirigiert die Dinner-Stewarts mit einem leichten Augenzwinkern und Stirnrunzeln, reicht wohl auch selbst einmal, wenn er gnädig aufgelegt, ein besonders gutes Gericht herum. Nach dem Essen wird auf Deck promeniert, geplaudert, »geflirtet« und dazu Kaffee herumgereicht. Später spielen die Deutschen Skat, die Amerikaner Poker. Erstere trinken Bier, letztere Whisky; alle rauchen. Von zehn Uhr ab lichten sich die Reihen, und um halb zwölf liegt jeder in seiner Koje. Ein Tag gleicht dem andern, doch vergeht die Zeit auffallend schnell. Ob wir der gleichen Ansicht sein werden, wenn wir eine Woche auf Wasser waren, bezweifle ich.

 

17. November. Man wählt die heiße Luft Aegyptens und braucht sich nicht mehr so einzuhüllen. Heute ist Brieftag; morgen um sechs Uhr früh sind wir in Port Said, wo die Post in die Heimat aufgegeben wird. Die Punkahs und Ventilatoren werden wohl morgen zum erstenmal in Bewegung gesetzt werden. In unserer Kabine ist ein kleines Rädchen angebracht, das Kühlung »drehen« soll.

 

18. November. Port Said. Ich habe mich erkältet, war die ganze Nacht sehr krank und fühle mich nach jeder Richtung entsetzlich elend, unsäglich erschöpft. Aber trotzdem bin ich, obwohl eine halbe Leiche, gezwungen, um sechs Uhr früh aufzustehen, denn wir müssen das Schiff verlassen, bevor häßlicher Kohlenstaub das Innere des Dampfers durchdringt. Hier wird nämlich der ganze Bedarf an Heizmaterial für die Fahrt nach Colombo geladen.

Es ist ein echt orientalisches Bild, das sich uns durch das Einnehmen der Kohlen bietet. Tiefe breite Kähne liegen längsseits des Schiffes, und die schwarzen Gestalten der Lastträger bilden einen scharfen Gegensatz zu der farbig bunten Bemannung der Passagierboote. Mit rasender Geschwindigkeit gleiten die kohlentragenden Kulis aus ihren Kähnen zum Kohlenbunker, denn in sechs Stunden muß die Ladung beendet sein. Wenn ich wohl wäre, könnte ich all das Neue genießen, aber ich bin so angegriffen, daß ich kaum auf den Beinen zu stehen vermag.

An Land gekommen, nahmen wir uns einen Wagen und fuhren nach dem arabischen Viertel, das mit seinem sonnenbestrahlten Schmutz höchst originell wirkt. Die Straßen sind breit, hinter angelehnten Türen sieht man die studierende Jugend. Die arabischen Weiber, in schwarze Umhüllungen ganz eingewickelt, mit langen schwarzen Schleiern, die an einer goldenen, über die Nase gelegten Verzierung befestigt sind, sehen in dem leuchtenden Licht feierlich und ernst aus. – Halbtot setze ich mich in ein Café, aber nirgends ist Ruhe zu finden. Auf allen Seiten werden wir von Knaben belagert, die »Stiefel putz« wollen. In allen Sprachen wird hier gestammelt, und man verliert selbst die Fähigkeit, sich auszudrücken, weil man in das gleiche Stammeln verfällt, um verstanden zu werden. Scheußliche Mißgeburten, Krüppel, Akrobaten und sonstige Arme umringen uns und betteln in so drangvoller Nähe, daß man zu ersticken meint. Um elf Uhr dürfen wir endlich wieder an Bord. Wir können die Heimkehr aus Staub und Kot, Geschrei und Gewühl zu unserm herrlichen Schiff kaum erwarten. Aber es ist eine Enttäuschung, denn alles liegt noch im argen. Verrußt sieht der Dampfer aus. Nichts kann man berühren, weiß nicht wohin sich wenden. Ueberall hocken Chinesen mit langen Zöpfen, die waschen, putzen und fegen; das ganze Schiff ist eine große Wasserlache. Mir ist zum Auslöschen, und ich sehe in den besorgten Zügen unseres Reisegefährten, Graf Lippe, daß er meiner Gesundheit nicht traut. – Um ein Uhr setzen wir uns in Bewegung.

Der Suez-Kanal ist das denkbar langweiligste und traurigste. Nur der erste Teil, die Einfahrt in den Kanal mit dem Blick in die Wüste wirkt geheimnisvoll anziehend. Man sieht die Wüste in weiter durchsichtiger Ferne, von den lybischen Bergen begrenzt. Wie Pyramiden winken die eckigen Höhen, hinter denen sich ein glänzender Streifen hinzieht. Man glaubt das Meer zu schauen, aber es ist nur Luftspiegelung. Ab und zu passiert man Schiffe und Signalstationen. Kapitän, Mannschaft und Passagiere sind nervös, alles ist sehr nervös, denn man fürchtet, jeden Augenblick festzufahren und dann stundenlang liegen bleiben zu müssen. Wir haben nur zwei Fuß Wasser unter dem Schiff und bewegen uns schneckenartig fort, um von den Dämmen kein Erdreich zu lockern. Jahrein, jahraus sind Baggermaschinen zur Sicherung der Kanaltiefe tätig.

 

19. November. Nachmittags vier Uhr in Suez. Die Einfahrt bietet einen entzückenden Anblick. Dutzende von Kähnen liegen in der Bucht verstreut; mit geblähten, weißleuchtenden Segeln, gleiten sie selbstbewußt auf den dunkelfarbigen Wassern daher. Sobald wir halten, nahen blaue und rote mit hohen Mastbäumen und noch höheren Segelstangen ausgestattete Fahrzeuge, von handeltreibenden Muselmännern besetzt, unserm Schiffe. Aber es ist ihnen das Betreten desselben verboten. Sie legen deshalb ihre Barken fest an den Dampfer, und nun beginnt ein höchst spaßhaftes, affenartiges Klettern, erst mittels einer Strickleiter an den Mastbäumen empor und dann an der steil gestellten Segelstange hinauf, die bis zum ersten Promenadedeck reicht. Hier oben hocken nun in schwindelnder Höhe die Leutchen in lange, grüne, weiße und gelbe Kaftans gehüllt, behängt mit allem, was es zum Handeln gibt. Sie haben klug ersonnene Vorrichtungen zur Hand, um dem Kauflustigen Gewünschtes darzureichen. Die Kühneren versuchen von der Segelstange aus durch eine behende Schwingung aufs Schiff zu kommen und stehlen sich dann mit Zeitungen, Postkarten, Korallen und Bernsteinketten heimlich auf das obere Deck. Wieder andere bleiben in echt orientalischer Ruhe auf dem Boden ihrer Barke sitzen und bieten nur einen Strick zum Auffangen an. Hat man den Strick erhascht, so befestigen sie einen Korb an denselben, füllen ihn mit Muscheln, Tinten- und Schweinefischen, und senden alles zur Auswahl herauf. Es ist ein lustiges Treiben voll Liebenswürdigkeit und ohne sichtliche Enttäuschung, wenn der Kauf mißlingt. Ein Obsthändler, welcher mit seinen grünen Früchten keinen Käufer findet, beginnt mit Humor seine unreifen Aepfel selbst zu verzehren, um so die Lust danach zu reizen. Alles geschieht mit Grazie, in sorglosem Gleichmut.

Mittlerweile ist es fünf Uhr geworden, und die Abendbeleuchtung hat die Welt in magischen Glanz gehüllt. Am Horizont entlang zieht sich die Wüste als lichter, rosafarbiger Nebelstreif. Der Meeresstrand scheint uns ganz nahe gerückt. Hell schimmernd und klar sind die buntfarbigen Häuser von Suez deutlich sichtbar. Vom sanften Abendwind bewegt, kräuselt sich in hundertfältigen Nuancen das Wasser. In all der Helligkeit bleibt nur ein einziger dunkler Ruhepunkt für das Auge: der große, schattige Baum neben dem Hause am Ufer. Die noch vor einer Stunde prosaischen Berge verschwimmen in märchenhaften Tinten. Wir gleiten aus der Bucht mit zweifelnden Gefühlen, ob es auch Wirklichkeit, was wir schauen, oder ob es nur Schein ist. So kommen wir ins Rote Meer, das grün, blau und klar vor uns wogt. Abends liegen wir bei Vollmondschein auf dem sogenannten Sonnendeck. Die silbernen Strahlen Lunas strömen in glitzerndem Glanz dem Schiffe zu und lösen sich in dem weißschäumenden Kielwasser auf, das mit breiter Welle in die Weite strebt.

 

20. November. Meer – Meer – Meer. Die Temperatur ist ideal. Der Ober-Stewart stellt Gegenwind in Aussicht und das Barometer fällt. Eben zieht Herr Federer seinen Ueberzieher an und ich meinen Mantel. Käme uns der Wind entgegen, wir würden wahrhaftig im heißen Roten Meer frieren. Der Sonnenuntergang ist heute besonders schön. Die feurige Kugel schwindet hinter dem Horizont, ein breiter, glühender Streifen umzieht den ganzen westlichen Himmel, schwarzer Dunst steigt auf, ein grün-grauer Schleier bedeckt halb durchsichtig den brennenden Himmel. Die tiefdunkle See wälzt sich in schweren Wellen unter das Schiff, um auf der andern Seite desselben als ultramarinblauer Strom hervorzuwogen. Der Mond kämpft mit den Wolken und dringt schließlich in völlig veränderter Gestalt durch die Trübung; er sieht sehr nüchtern aus, ganz wie ein Topf ohne Deckel. – Meerleuchten sahen wir bis jetzt noch nicht; nur dort, wo das Kondensatorwasser aus dem Schiffe strömt, beobachteten wir es manchmal.

 

21. November. Nachts in der Kabine fünfundzwanzig Grad Reaumur – doch soll es die kühlste Nacht sein, deren sich die bekannten »ältesten Leute« um diese Jahreszeit erinnern! Als wir auf Deck kamen, blies eine kräftige Nordwest-Brise, und ich fürchtete, der Tag werde ein Ende mit Schrecken nehmen. – Aber der Schrecken trat nicht ein. Obwohl der Wind furchtbar sauste und brauste und das ganze Meer mit sich überschlagenden weißköpfigen Wellen bedeckt war, glitt unser Dampfer doch ruhig dahin. Kein neues Erlebnis. – Fliegende Zwergfische sollen gesehen worden sein; ich gewahrte nichts als endlose, leere Weite.

Heute planen die Amerikaner einen Fancyball – als ob man dergleichen nicht zur Genüge in der Heimat hätte! Ueberhaupt, als ob man nicht schon an Bord den ganzen Tag hinreichend zu packen und zu räumen hätte, um der verlangten Eleganz gerecht zu werden!

 

22. November. Eine schrecklich heiße Nacht, sechsundzwanzig Grad Reaumur ohne den geringsten Luftzug.

Um acht Uhr passieren wir die Insel Perim. Auf unserer Seite des Schiffes erblicken wir durch die Kabinenluke eine Reihe Inseln mit ganz kleinen Bergen, spitz- und kegelförmig, wie aus der Puppenschachtel. Eine leichte Brise hat etwas abgekühlt. Wir fahren der sandigen Küste Arabiens entlang. Eigentümlich geformte Höhenzüge bilden hier die Ufer. Sie sehen aus, als bestünden sie aus Schlamm und als wären die einzelnen Ablagerungen je nach der Anschwemmung getrocknet. Die Berge wirken wie Silhouetten, die Luft zeichnet die Konturen mit unendlicher Schärfe. Oft glänzt ein weißer Punkt zwischen eintönig gelbgrau gefärbten Hügeln, die nur durch die auf ihnen ruhenden samtweichen Wolkenschatten Gestalt bekommen. Die weißen Punkte sind Häuser der Kamelherdenbesitzer, welche sich in einiger Entfernung von dem Araberdorfe angesiedelt haben, um dem entsetzlichen Geruch zu entfliehen, der aus den Hütten der Eingeborenen aufsteigt, von denen als Brennmaterial Kamelmist verwendet wird. Außer Kamelkraut wächst hier nichts.

Nach vier Uhr nahen wir uns Aden, das in verzweifelt schattenloser Lage an fahlem Bergabhang liegt. Ein einsamer grüner Baum im Garten des Gouverneurs ist alles, was man von Pflanzen zu sehen bekömmt. Brennende Hitze scheint von dem kahlen Boden aufzusteigen, den die Strahlen der glühenden Sonne ganz versengt haben. – Wir fahren nicht in den Hafen ein, sondern bleiben außerhalb liegen, um die Hafensteuer zu sparen; hat doch die Durchfahrt des Suezkanals bereits 62 000 Frcs. gekostet.

Der »König Albert« dessen Masse nach der Kanalmessung 7195,31 Tonnen beträgt, zahlt pro Tonne 8,50 Frcs. Ferner wird ein Kopfgeld vom Norddeutschen Lloyd für die an Bord befindlichen Passagiere erhoben und zwar Frcs. 10 pro Erwachsene und Frcs. 5 pro Kind. Achtzehnhundert Personen können mit dem »König Albert« befördert werden. Das Schiff war auf dieser unserer Reise beinahe ganz besetzt.

Sobald unser Dampfer gestoppt hatte, kamen Scharen kleiner Boote mit Somalijungen von allen Seiten heran und umlagerten uns, die Gelegenheit erspähend, an Bord zu gelangen.

Die Frau des Gouverneurs von Aden hatte die »Ausreise« mit uns gemacht, eine geschminkte, zierliche Dame mit tadellosen Löckchen, die bei Sturm und Hitze ihre Position nicht änderten und wohl ein Perückchen waren. In seinem von einer Dampfbarkasse geschleppten großen, schlanken Boot mit dreizehn Matrosen als Bemannung, alle weiß mit rotem Fez, kam der Gouverneur der Gattin entgegen. Es ist ein alter, vertrockneter, hinkender Mann. Die Begrüßung bildete ein Händedruck, kühl und förmlich. Nur von November bis Januar währt dieses alljährliche Zusammensein. – Dann erschien der deutsche Konsul in einer eleganten Dampfbarke. Der Kapitän, der in diesen gefährlichen Gewässern die ganze Nacht auf der Kommandobrücke gestanden hatte, würde den Besuch mit Vergnügen entbehrt haben, man sagt jedoch, die Herren kämen immer gerne deshalb an Bord, weil sie dann einmal wieder etwas Gutes zu essen erhielten.

Einige Reisende gehen an Land, aber das Meer ist bewegt und nur ein kurzer Aufenthalt vorgesehen, so daß wir auf die Fahrt verzichten und an Bord bleiben. Hier geht denn auch bald wieder ein buntes, lebhaftes Treiben los. Aus den das Schiff umkreisenden Barken sind die Händler auf Deck geklettert. Bernsteinketten, Pfauen-, Straußenfedern, Bastgewinde, Muschelarbeiten, Antilopenfelle usw. werden gehandelt. Eine Engländerin kaufte eine Bernsteinkette, die ihr um 3 Pfund = 60 Mark angeboten wurde, für 15 Schillinge. Sie ist sicher falsch und » made in Germany«, wie so manches, was man hier zum Kaufe angeboten bekommt. Merkwürdig sehen große geflochtene Flaschen aus, die man als Körbe verwendet. Die Juden, die eigentlichen Straußfedernhändler, fehlen heute, denn es ist Samstag und wir sind nach Sonnenuntergang nicht mehr vom Lande aus zu erreichen. – Es wimmelt von jungen Burschen, mageren Gestalten mit langen, affenartigen Armen ohne alle Muskeln, aber teilweise mit ganz angenehmer Physiognomie. Als größte Schönheit gilt helles Haar und, um dies zu erreichen, rasieren sich die Kerls den Kopf, schmieren ihn dann mit Kalk an, der die Farbe des durchwachsenden Haares auslaugt und blondet! Wie die Teufel sehen diese blonden Schwarzen aus. Ich versuchte einige photographische Aufnahmen, gab es aber wieder auf. Es lag auf den armen schwarzen Gesichtern so viel schmerzliche Verzweiflung, als ich das Objektiv auf sie richtete, daß es mir ein Verbrechen schien, ihre religiöse Anschauung, die jede bildliche Darstellung der Person verbietet, zu verletzen. Einige ergriffen, sobald sie meine Absichten bemerkten, ein großes Tuch und mummelten sich derart ein, daß nur noch ein Auge listig hervorblinzeln konnte. Wie die Katzen klettern die Somalis an den Wandungen des Schiffes herauf, laufen auf dem äußeren schmalen Rande unter dem ersten Promenadedeck entlang und vermitteln den Handel zwischen ihren im Kahn sitzenden Kameraden und den Passagieren. Stricke gibt es hier keine mehr; kurze, festgedrehte und aneinandergeknüpfte Bastenden ersetzen sie.

Das große Lastboot, in dem die Waren an und von Bord kommen, liegt zur Hälfte geleert an Backbord und bildet den Tummelplatz aller jener Somalibuben, die nichts zum Handeln haben, als höchstens ein paar Süßhölzer, welche zur Pflege der Zähne benutzt werden. Da es nicht mehr erlaubt ist, » to have a dive« (nach Geld zu tauchen), weil die Haifische zu viel Unheil angerichtet und zu viele Kinder verstümmelt haben, begnügt man sich damit, der kleinen Bande Kupfermünzen ins Boot zu werfen, auf die sie sich wie die Wiesel stürzen. Für einen Augenblick sieht man nur einen Haufen krabbelnder und strampelnder Beine, lauter Fußsohlen; dann stehen plötzlich die Buben wieder mit grinsenden schwarzen Gesichtern, aus denen wie ein weißer Strich die schneeweißen Zähne blitzen, aufrecht da. Wenn unsere Geberlaune erlahmt, erschallt von unten ein Lied, begleitet von wilden Sprüngen. Sie singen »Traradibumdiä«, das, für die Tropen umgearbeitet, die kleine Schar mit taktmäßigem Anschlagen der Ellenbogen gegen den Körper lachend vorträgt. Jeder Schlag der Ellenbogen klang, als ob eine Schweinsblase platzte. Flog dann wieder ein Geldstück herunter, so wiederholte sich mit beispielsloser Unermüdlichkeit dasselbe Spiel. Der Anblick erinnerte mich an den Plansee, wo an einem Stückchen Brot Legionen kleiner Fischlein zerren.

Lauernd und berechnend stand abseits ein kräftiger Junge mit blondem Teufelshaar, der immer, wenn alles auf dem Boden lag, sich mit langem, froschartigem Sprung unter die Suchenden schob und meist das Geld erwischte. Erst später, als all unser kleines Geld hinabgeflogen war und der Junge im Boote stand, sah ich, daß er sich einer Krücke bediente. Es fehlte ihm das untere Bein, wohl auch die Folge des früher erlaubten Tauchens nach Geld. – – Große, mächtige Aasgeier umkreisen zutraulich unsern Dampfer; es sind schöne, dunkelfarbige Vögel mit braungefiederten Flügeln. Wir werfen Brot ins Meer, auf das sich die Tiere stürzen. Sie nehmen das Stück mit in die Luft, um es dort behaglich aus der Klaue zu verzehren.

Wie in Suez, so liegen wir auch hier in Aden wieder zur günstigsten Tageszeit vor Anker, kurz vor Untergang der Sonne, die noch in vollem Glanz stand und doch den Abend ahnen ließ. Das Land wirkt wie ein Luftgebild, umwallt von lichtem, diaphanem Nebelschleier, der, opalgleich schillernd, Himmel, Berge, Wasser und Felsen tönt. Die kurze, Aden gegenüberliegende Bergkette ist höchst bizarr geformt. Es sind feine, spitze Zacken, wie Nadeln oder mächtige Säulen, und breite Felsenmassen. Sie wecken die Vorstellung einer weiten Burg mit Zinnen, Türmen und Bogen; man hat die Empfindung, als wären es versunkene Bergriesen, auf deren Höhen Paläste ruhen, die mit ihren märchenhaften Bewohnern allabendlich aus geheimnisvoller Meerestiefe auftauchen, um die letzten Strahlen der scheidenden Sonne zu trinken. – Es scheint nämlich wirklich, als wären die Berge, die man erschaut, nur der obere Teil eines wilden Gebirges, das aus den Wassern ragt: eine fein ziselierte Dolomitenkette, deren obere sechshundert Meter dem Auge sichtbar sind. – Ein unbeschreiblicher Eindruck, wonnevoll, wonneselig gleiten wir, von goldenem Lichtglanz umflossen, auf dem ruhig fahrenden Schiffe dem Ozean zu.

Nun entschwindet für acht Tage alles Land; bis Ceylon nur Wasser, Wasser, das manchmal breiter als lang, dann wieder länger als breit erscheint. Das Kap Guardafui und Sokotra werden wir wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wir sind jetzt auf der Höhe von Madras, zwölf Grad nördlicher Breite; bis Colombo müssen wir noch vier bis fünf Breitengrade südlicher. Der frische Nordost wirkt wahrhaft erquickend und macht die Nacht auf dem Deck geradezu herrlich; selbst die Temperatur in der Kabine ist angenehm.

 

23. November. Sonntag. » Lord have mercy upon us« tönt es gedämpft aus dem Speisesaal der ersten Kajüte, wo die englischen und amerikanischen » miserable sinners« ihren Gottesdienst abhalten.

Die Chinesen haben heute großen Rasiertag. Sie sitzen am Bugspriet, sich mit einem Fächer gegen die Sonne schützend und lassen sich von einem Freund den vorderen Teil des Haares entfernen, was die Stirne unsympathisch verlängert. Jede Bewegung wird mit einem kleinen Spiegelscherben kontrolliert. – Abends sind wir bei Kapitän Pollack zum Kaffee geladen. Er ist ein höchst liebenswürdiger, gemütlicher Mann und hält sein Schiff in ganz musterhafter Ordnung. – Sein Diener, der Chinese Bankock, mit ein paar großen, hilflosen Augen, lebt seit zwölf Jahren bei ihm; er spricht geläufig deutsch, trägt einen langen Zopf, dessen Enden in seinen Rocktaschen stecken, und einen Kranz 2 cm breit abgeschnittener Haare, die ihm wie ein Heiligenschein vom Kopfe abstehen. – Die beiden Punkah-Chinesen sind weniger angenehme Leute, obwohl sie ihren Dienst mit verständigem Gemüte erfüllen. Mit rührender, stiller Ergebenheit hocken sie stundenlang mit der Mauer zugewandtem Gesichte am Boden und ziehen unermüdlich und gleichmäßig den Strick, der die Punkah bewegt, hin und her. Letztere ist eine nahe am Plafond befestigte, freihängende Holzrolle, über die ein Teppich geschlagen ist. Das Ganze, über unsern Köpfen hin- und herbewegt, bringt einen angenehmen, belebenden Luftzug hervor.

 

24. November. Infolge einer Erkältung fühlt sich Alfred sehr unwohl, Herr und Frau Frowein, die die Reise um die Welt machen, stehen mir freundlich zur Seite. Trotzdem die Wellen hochgehen, der Wind unheimlich stöhnt und pfeift, fahren wir gleichmäßig schwankend, ohne unangenehmes Rollen. Miß Cook wird auf der obersten Stufe der Hintertreppe ohnmächtig und wäre unfehlbar tot gewesen, hätte sie nicht die »grüne Miß« mit der falschen Amberkette und Baron Gemmingens starker Arm aufgefangen. Heute beginnt das viertägige Abschiedsfest zu Ehren von jenen, die in Colombo das Schiff verlassen. Den Anfang macht ein großes Diner mit maskiertem Menu, die Gäste werden in den Speisen verewigt, und eine Schleimsuppe heißt heute Soup à la Hase – die kleinen Reiskrustaden werden à la Nerrazini serviert, Savarin gibt es à la Frowein.

 

25. November. Nach dem Lunch beobachteten wir fliegende Fische – sie streichen wie die Bekassinen, sind so groß wie Heringe und sehen aus wie Schwalben. – Dr. Roques, der liebenswürdige Erzähler, Dr. Baum, der ruhige Witwer, und Alfred, der wieder gesund ist, spielen Skat. – Abends Konzert mit Gesang, Klavier, Deklamation in allen Tonraten und Sprachen. Der Kapitän rezitiert erst ein deutsches Soldatenlied, dann ein englisches Gedicht und die kleine königliche Hoheit Prinz Benja von Siam produziert sich als Mandolinenvirtuose.

 

26. November. Wasser, Wasser, Wasser. Abends führen die Engländer Scharaden auf.

 

27. November. Großer Maskenball. Mit erstaunlichem Geschick haben sich die Passagiere maskiert. Frau Frowein ist eine reizende Küchenfee. Die »kranke Dame«, die nur die Kabine verläßt, wenn getanzt wird, hat ihren Mann und sich als »Römer und Römerin« kostümiert. Er trägt eine aus den rohseidenen Vorhängen seines Bettes angefertigte Toga; sie ist stilgerecht in ein Betttuch gehüllt. Der »Aequator« schreitet langsam über das Promenadedeck, halb schwarz, halb weiß. In seinem ineinander gesteckten Doppelanzug, halb im Frack, halb im Tropensmoking, muß der junge Mann echte Aequatorhitze leiden. Ein »Globetrotter« kann sich vor lauter praktischen Unentbehrlichkeiten nicht rühren, und der englische Prediger ist als »Baby« sehr, sehr kurz geschürzt, dabei sehr ausgelassen. Eine Menge netter und ingeniös ausgedachter Masken erschienen hier; jeder tut sein möglichstes, um den Preis zu erringen, der einerseits für die schönste, und anderseits für die witzigste Maske ausgesetzt worden ist.

 


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