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Bombay

8. Dezember. Es ist noch stockfinster, als wir früh um halb sechs Uhr in Bombay ankommen. Das bunte nervöse Treiben auf dem Bahnhof hat noch nicht begonnen. Wir können ohne Drängen und Stoßen ruhig eine enge Gepäckdroschke besteigen, in welche sich die Aya im letzten Augenblick einschiebt, aus Todesangst, sie möchte wieder verloren gehen. Durch die noch stille, schlafende Stadt fahren wir zum »Wattson Anex Hotel«, einem hohen fünfstöckigen Bau, in dem wir Quartier bestellten und bekommen. Aber was für eines erwartet uns wieder! Das ganze Haus ist überfüllt, und Graf Lippe muß mittels einer Hühnertreppe einen Holzbau erklettern, über unzählige schlummernde Boys wegsteigen, um ein Zimmer zu erhalten, dessen Fenster in einen gedeckten Abfallhof geht, während die Türe in einen Korridor mündet. Wir beziehen eine Art Höhlengang, lang, schmal und dunkel. Das sogenannte »Zimmer« liegt mit dem Hof auf gleicher Höhe, hat zwei Glastüren, die zu einer Art Veranda führen, in der Kisten und alte Möbel aufgestapelt sind, und die nur durch ein Holzgitter von dem Platz abgetrennt sind, auf dem die bestellten Wagen der Fremden stehen, deren Kutscher mir jetzt belustigt zusehen, wie ich in luftigem, sehr luftigem Gewande eifrig schreibe. Außer dieser Türe hat unsere Höhle noch ein dunkelrotes Fenster, das man aber nicht benutzen kann, denn vor demselben promeniert die Gesellschaft des Hotels auf und nieder. In einem kleinen finsteren Loch neben unserm Schlafraum steht das tragbare Klosett und eine große Badewanne, aber das Wasser tröpfelt nur, und die Wanne füllt sich kaum handhoch mit dem ersehnten Naß.

Ich war durch die lange Fahrt ermüdet, ließ mir deshalb mein Breakfast durch unsern Boy, den die Aya hoheitsvoll dirigierte, im Zimmer servieren und kam erst zum Tiffin wieder zum Vorschein, während die Herren unterdessen die Umgebung des Hotels durchforschten. – Nach dem Tiffin machten wir eine Rundfahrt durch die Stadt.

Bombay, mit zirka 900 000 Einwohnern, liegt auf einer Insel, die dem Festland vorgelagert ist. Das »Fort«, wie der Stadtteil kurzweg heißt, macht mit seinen Verwaltungsgebäuden und den Geschäftshäusern der Europäer einen ganz modernen und sehr eleganten Eindruck. Erstere ähneln Palästen und sind in einem von den Engländern vielfach in Indien angewandten Stil erbaut, einer Mischung von Hindustil, italienischer oder englischer Gotik, mit Loggien, Türmen und hohen Bogenfenstern. Die zwischen prachtvollen Anlagen und schattigen Bäumen liegende Gruppe von Palästen grenzt an die weitläufige Esplanade, den Sportsplatz von Bombay, der von schönen Alleen durchzogen wird und sich bis nach der Back Bay ausdehnt, an deren sandigem Strand abends die ganze fashionable Gesellschaft der Stadt zusammentrifft. Von Appollo Bander, dem Landungsplatz der Passagierdampfer, zieht sich durchs Fort eine schöne breite Straße bis zur »Native-town« (Eingeborenenstadt), in der sie sich in tausend Straßen und Gäßchen verliert.

Es hatte angefangen, ganz fein zu regnen. Schwüle, feuchte Luft versetzte uns in einen fast unerträglichen Zustand. Wir waren in Schweiß gebadet und fröstelten, wenn vom Meere her ein kühler Windstoß über uns hinblies. – Mit geteilten Gefühlen (es starben im Bezirk Bombay allwöchentlich 7000 Menschen an der Pest) fuhren mir durch die Menschenmenge, die sich wie ein großer wirrer Knäuel in den engen, schmutzigen Gassen des Basars einherwälzte. – Die Basars sind meist lange Kaufmannsstraßen, in denen sich rechts und links endlose Reihen von Läden hinziehen. Hier findet der Eingeborene alles was er braucht, Lebensmittel sowohl wie die Erzeugnisse des Handwerks und des Kunstgewerbes, Fabrikate aller Art und tausend Dinge » made in Germany«, die dem orientalischen Geschmack angepaßt sind. Jede Branche hat ihre eigene Straße. Der Basar für Kleiderstoffe z. B. umschließt ein ganzes überdecktes Straßenviertel. Alle Produkte des großen indischen Reiches findet man hier aufgestapelt. Sie bestehen hauptsächlich in: Reis, Hirse, Weizen, Gerste, Kartoffeln, Indigo, Gewürzen, Tee, Kaffee, Chinin, Zucker, Tabak (aber nur für einheimischen Gebrauch), Opium (unter Staatskontrolle), Jute, Wolle, Seiden-, Samt- und Teppichgeweben, Töpferarbeiten (einfachen bis zu reich dekorierten Stücken), Waffen, Götterbildern, Goldspitzen, Intarsien, Elfenbein- und Holzschnitzereien, kostbaren Kaschmirshawls, Musselinen, Stickereien in Leder, Tuch, Seide, Samt und Flanell, gedruckten Stoffen usw. – Seit europäische Kapitalisten sich des Handels bemächtigt haben, ist die einheimische Industrie außer Wettbewerb gesetzt, und nur jene Handwerke, die manuelle Geschicklichkeit und künstlerische Begabung erfordern, sind noch immer mit Europa konkurrenzfähig. Der Handwerker in Indien arbeitet mit ungemein primitiven Werkzeugen, da sich aber die einzelnen Gewerbe von Geschlecht zu Geschlecht in der Familie forterben, so ist die Uebertragung der Fertigkeit erleichtert.

Die indische Bevölkerung wird bekanntlich von altersher in vier Gesellschaftsklassen eingeteilt: 1. Die Brahmanen-Priester und Gelehrte. 2. Die Xatrijas, entsprechend unserm Adels-, Militär- und Beamtenstand. 3. Die Waishyas, welche Ackerbau und Gewerbe treiben. 4. Die Shúdras, annähernd gleich unserer Arbeiterschaft. Die ursprüngliche Benennung für die vier Stände ist im Sanskrit »Warna«, während »Kaste« – »Casta« portugiesischen Ursprungs ist und erst viel später in Aufnahme kam. Die Bezeichnung Warna legt bei der Einteilung der einzelnen Stände das Gewicht auf die Hautfarbe, Abstammung und Vererbung, während Kaste mehr die Familienangehörigkeit oder auch Art, Gattung bedeutet. »Djatis« dürfen nicht mit Warna und Kaste verwechselt werden. Die Djatis sind gewissermaßen Unterabteilungen der Kasten. Sie stellen eine Vereinigung dar, etwa wie es unsere alten Zünfte und Innungen waren, nur daß z. B. bei den Brahmanen andere Bestimmungen als bei den Waishyas bestehen, welche die Zusammengehörigkeit der einzelnen Djatis bedingt. Bei den Brahmanen ist die Familienangehörigkeit allein maßgebend. Jede solche Familiensippe (Djatis) führt ihren Ursprung auf einen aus Brahma direkt entsprungenen halbgöttlichen Stammvater zurück. Bei den Waishyas dient zur Unterscheidung der Djatis vor allem die Spezialisierung des Gewerbes. Alle Familien, an denen z. B. das Schusterhandwerk haftet, bilden Djatis. – Die Djatis, die teils durch Familienangehörigkeit, aber vor allem durch die Gewerbebetriebe bestimmt werden, verteilen sich oft auf mehrere, manchmal auch auf viele Gemeinden. Die einzelnen Djatis haben eine unbedingte Macht über ihre Mitglieder, sie schreiben das Alter vor, in denen das Mädchen heiraten soll, verbieten die Wiederverheiratung der Witwe, den Genuß des Fleisches, des Weines und narkotischer Mittel; von ihnen hängt es ab, ob eine Reise ins Ausland (zu dem auch Ceylon gehört), die für gewöhnlich verboten ist, erlaubt wird; sie stoßen ihre Mitglieder aus, machen sie kasten- und familienlos, wenn sie sich nicht ihren Gesetzen unbedingt fügen. Die Djatis haben allein organisatorische Bedeutung, und ihre Vorschriften müssen unweigerlich befolgt werden. Jede Djatis übt gewissermaßen eine private Polizeiaufsicht über all ihre Angehörigen aus, und achtet auf die genaue Erfüllung aller religiösen und andern Gesetze, und so bestehen Tausende und Abertausende von abgeschlossenen Machtbezirken, die in den Ansprüchen an ihre Mitglieder ebenso rigoros sind, wie es seinerzeit die Warnas waren, die jetzt nur mehr ideell fortbestehen. Alle Angelegenheiten werden in den Djatis erledigt, und in dieser neuen Kasteneinrichtung, welche die Bevölkerung in unzählige kleine Teile mit Privatinteressen scheidet, liegt zusammen mit dem Neid und Haß, der den Hindu von dem Moslim trennt, der Hauptgrund für die Möglichkeit, daß die Engländer mit einer Handvoll Leute Indien regieren.

Die Fahrt durch den hiesigen Basar ist außergewöhnlich interessant. Welch ein Völkergemisch: wollhaarige Neger, bezopfte Chinesen, Araber mit grünem Turban, Männer aus Guzerat mit spitzen, roten Mützen und weißem Turban, Mahraten mit rot-weiß umschlungenen flachen Hüten, Parsen in schwarzem Gehrock, weiß umhüllte Hindus, ernst und verschlossen, dunkle Afghanen, gelbe Maleien, Eurasier und Europäer, und in einer Schneiderwerkstätte an einer Nähmaschine heftig tretend ein Tamile »wie ein Adam, bloß und nackt!«

Die Moschee, in der die Unruhen zwischen Moslims und Hindus 1894 ausbrachen, ein einfacher Bau mit zwei Minaretts in engem Hofe zwischen Häuser eingekeilt, wurde uns gezeigt. Sie sieht mit ihren beiden übereinander gebauten Betsälen recht uninteressant aus. Wir konnten uns deshalb nicht entschließen, den Wagen zu verlassen, um uns in das unheimliche Menschengewühl zu mischen. Auch von den dreihundert Hindutempeln, die es in Bombay geben soll, besuchten wir keinen einzigen. Es sind alles geschmacklose, überladene und bemalte Barockbauten, die nichts von dem alten eigenartigen Hindustil bewahrt haben.

Als wir zu unserm Hotel zurückkehrten, wurde eben ein Mensch aus demselben fortgeschafft. Zwei hintereinander gehende Kulis trugen resp. balancierten die ganz geschlossene, lange, schwarze Bahre auf ihren Köpfen, ohne sie auch nur mit den Händen zu halten. Eine unvorsichtige Bewegung des Getragenen mußte die Bahre unfehlbar zum Schwanken oder zum Sturze bringen. War es ein Kranker oder ein Toter, der in ihr lag? wir haben die Wahrheit nie erfahren.

Nach dem Dinner, das wir im großen Speisesaal im Zug der Punkah und der offenstehenden Fenster und Türe einnahmen, gingen wir bald zu Bett, denn wir wollten den nächsten Morgen sehr früh zu den »Türmen des Schweigens«, der Begräbnisstätte der Parsen, fahren. – Die Parsen gelten als die reichsten Leute Bombays und die geschultesten Kaufleute Indiens, als die Juden des Ostens. Sie sind Perser, die der Religion Zoroasters treu blieben, aber durch die fanatische Verfolgung der Mohammedaner aus Persien vertrieben wurden und im 7. Jahrhundert nach Indien zogen, wo sie sich hauptsächlich in Bombay und seiner Umgebung niederließen. Die Parsis sind Arier von ziemlich heller Gesichtsfarbe und an ihrem uniformartigen Anzug kenntlich. Sie tragen einen langen, bis an den Hals zugeknöpften, schwarzen Gehrock und eine hohe, schwarze Wachstuchmitra.

 

9. Dezember. Unsere erste Nacht in Bombay verlief sehr unruhig, wir schlafen sozusagen im Garten, und Gott weiß, was alles durch das weite Holzgitter ein- und aussteigt, denn die Glastüren können wir nicht schließen, wollen wir nicht ersticken. Ich hatte zwar ein Nachtlicht angesteckt, aber was bedeutet so ein armseliges Kerzchen in unserer tiefen Höhle. Die ganze Nacht hörte ich viel – und sah nichts. – Eine wirklich beinahe unerträgliche Zugabe des hiesigen Aufenthaltes ist das ganz entsetzliche, im höchsten Grade enervierende, unausgesetzte Geschrei der Millionen Raben, die vom frühesten Morgen an bis zum späten Abend die Luft mit ihrem mörderischen, sinnenraubenden Gekrächz erfüllen, hinter dem jeder andere Lärm verschwindet. Lange vor Tagesgrauen hatten die gräßlichen Tiere, denen die Reinigung der Stadt obliegt, ihr spektakulierendes, kreischendes Geschwätz begonnen, und ich lag schon wach, als die Aya mir das »Tschota hazerie« brachte, während es Alfred durch den Boy gereicht wurde.

Der Morgen war trübe und der Himmel grau, als wir unsere Fahrt zu den »Türmen des Schweigens« antraten. Auf einer vortrefflichen Straße führt der Weg an den Totenstätten der Hindus, Mohammedaner und Christen vorbei, den Malabar Hill hinauf, durch wundervolle Anlagen zu den schaurigen Begräbnisstätten der Parsen. Schon von weitem sieht man die herrlichsten Palmen aus dunkeln Bosketts emporragen: gewaltige Kronen, so dicht und massig, wie wir noch keine sahen. Doch kommt man näher, so gewahrt man entsetzt, daß die übermächtige Fülle nicht durchaus üppiges Grün. Zwischen den Wedeln der Palmen sitzen eng zusammengedrängt, kolossale Aasgeier. Sie putzen sich die Federn, wetzen die Schnäbel und halten Umschau, ob nicht ein neuer Fraß in Sicht. Viele Hunderte – siebenhundert, sagt der Führer – dieser ekelhaften kahlhalsigen Tiere hocken fett und faul rings auf den Bäumen. Durch ein düsteres Tor gelangen wir in den schattigen Vorhof der Begräbnisstätte und verlassen den Wagen. Ein ernster Parse geleitet uns die breiten, steilen Stufen hinauf in den nächsten Umkreis der geheimnisvollen Türme. Ein Blick, wie wir ihn wunderbarer kaum je gesehen, breitet sich vor unsern Augen aus. Der Nebel hat sich gelichtet, die Sonne dringt hellleuchtend durch die Wolken. In violettem Schein tauchen die Berge, die Inseln aus der blauen Flut, der ganze Hafen liegt in blendender Pracht zu unsern Füßen. Ein sich weit ausdehnendes Amphitheater mit den prächtigsten Steinpalästen und den ärmlichsten Lehmhütten, baute sich vom Meer aus bis zu unserer Höhe auf. Inmitten der prächtigsten Gärten Indiens liegen, Land und Meer beherrschend, die düsteren Todestürme.

Um die Elemente durch tote Körper nicht zu verunreinigen, läßt der Parse seine Toten von Aasgeiern fressen, und die Asche von reich und arm vereinigt sich, wie es die Lehre vorschreibt, in einem tiefen Schacht. Fünf weißgetünchte Türme stehen in den Gartenanlagen verteilt. Der größte ist fünfundzwanzig Fuß hoch und hat zweihundertzweiundsiebzig Fuß im Umkreis, ein kleinerer dient für Selbstmörder, und einer befindet sich im Privatbesitz einer reichen Parsenfamilie. Die Türme sind rund und nach oben offen. Der sich trichterförmig nach unten verjüngende Innenraum ist ganz mit Steinen ausgelegt. Drei Kreise umziehen den Mittelpunkt; in dem innersten, dem tiefsten Kreis, werden die Kinder, in dem nächsten die Frauen, in dem dritten, höchsten Kreis, die Männer, nackt und der Sonne zugekehrt, niedergelegt. An einem kleinen Modell kann man die Einteilung studieren. In weniger denn zehn Minuten haben die Vögel eine Leiche bis auf die Knochen abgenagt. Diese bleiben liegen, bleichen, zerfallen und werden dann in die schachtartige Grube des Mittelpunktes gekehrt, wo sie, übereinander gehäuft, einen chemischen Prozeß durchmachen, der sie zu Staub auflöst. Was übrig bleibt, ist so wenig, daß sich in 40 Jahren kaum ein Aschenhaufen von fünf Fuß Höhe ansammelt.

Die Parsen sind Feueranbeter, aber Wasser und Erde ist ihnen gleich heilig, nur, daß das Feuer der einzige Gegenstand ihres Kultus ist. Allreinigend verkörpert das Feuer den Kern ihrer Ethik, die sich in die Worte faßt: »Rein denken, rein sprechen, rein handeln.«

Die mit einer Leichenbestattung verbundenen Zeremonien bestehen, nachdem der Tote durch die Träger in die Türme niedergelegt ist, aus reinigenden Waschungen und Gebeten. Kein Lebender, außer den Trägern, darf den Turm je betreten, und es kursiert eine entsetzliche Geschichte, wonach ein junges Mädchen scheintot in den Turm gebracht wurde und dort sterben mußte. Der Vater, ein reicher Mann, versuchte alles, sein Kind zu retten, als er die schaudervolle Kunde von ihrem Erwachen durch die von Grauen erfaßten Wärter vernahm, aber es gab keine Möglichkeit, die religiösen Satzungen zu durchbrechen. Die Geschichte ging durch alle Zeitungen.

Die Träger, welche die Leiche in den Turm bringen, gehören einer eigenen, gemiedenen Klasse an, und obwohl sie Handschuhe tragen, werden sowohl diese, als auch die Kleider jedesmal nach dem Betreten der Türme verbrannt, ehe sie das reinigende Bad nehmen, wozu ein eigenes Badhaus errichtet ist, das nur von diesen Bediensteten benutzt werden darf.

Für die Leidtragenden stehen am Ausgang des Gartens große Bassins, aus denen sie mit einer Lota Wasser schöpfen und sich Hände und Füße abspülen. Die Angehörigen bleiben in den Anlagen beisammen. Sie nähern sich den Türmen nicht, nehmen, nach Hause gekehrt, ihre reinigenden Waschungen, Bäder, Gebete vor und ziehen sich dann für eine fest normierte Zeit, je nach dem Verwandtschaftsgrad des Toten, von allem Verkehr mit der Außenwelt, zurück, bis sie ihre »Reinheit« wieder gewonnen haben. – Der Parse glaubt an eine Wiederauferstehung der Atome, an eine Wiedervereinigung derselben, und sieht in der gerade nach oben strebenden Zypresse das Symbol des Weges zum Himmel.

Es rauscht in den Bäumen. Mit schwerem Flügelschlag erheben sich die raubgierigen Vögel und umkreisen in langsamem Flug die Türme, um sich dann auf der Mauer in enger Runde nebeneinander niederzulassen. Sie sind auf ihrem Posten. Es ist neun Uhr, und der erste Leichenzug des Tages naht; wir müssen eilen, den friedlich stillen Garten zu verlassen.

Umschlossen vom tiefen Grün der üppig sich ausbreitenden Mimosen, Musa- und Mangobäume, der farbigen Fülle tropischer Blumen, inmitten der lautlosen Ruhe, der tiefen Einsamkeit, vergißt man des Schauders, den die Stätte anfänglich ausübt; feierliche und ernste Empfindungen regen sich, leise beginnt man die Schönheit des Gedankens zu fassen, welcher der brutalen Wirklichkeit zugrunde liegt. – Langsam schritten wir die achtzig steilen Stufen hinab, die vom Tore des Gartens zu einem malerischen, in tiefem Baumschatten liegenden Vorhof führt.

Viele reiche Parsenfamilien haben in der Nähe der Türme kostbare Besitzungen und locken sich einen der unheimlichen Leichenfresser in ihre Gärten – eine Art fliegendes Erbbegräbnis.

Zurück nach dem Hotel fuhren wir am Meer die Backbay entlang und kamen dabei an dem Tummelplatz aller uneingefahrenen und unzugerittenen Pferde vorüber. Ein prachtvoller, kräftiger, vor einen schweren Karren gespannter Schimmel verliert bald seinen kühnen Uebermut und wird lammfromm. Ein metallglänzender Goldfuchs scheint durch die Luft zu galoppieren und steht auf zwei, statt auf vier Beinen, aber nach ein paar Runden trabt er zahm an der Longe im Kreise herum. Der tiefe Sand bändigt alle. Dort kommt eine Gruppe prachtvoller Pferde; auf jedem Tier sitzt ein Reiter; Troßdiener in bunten Kostümen laufen nebenher. Es ist der Rennstall eines Nawabs.

Wir nähern uns dem Fort. In den Lüften ertönt das markerschütternde: »Rab, rab«. Rund um uns beginnt das Gewimmel der Stadt: Menschen von allen Hautfarben, in allen Kostümen oder in gar keinem, mit flatternden Gewändern oder eng anliegenden Kleidern! Unmassen von Vögeln: Geiern, Habichten, Stößern in den Straßen, auf den Dächern! Stolz aufgeschirrte europäische Equipagen und Hunderte von zweirädrigen Zebukarren! Alles in wirrem Gedränge. Zum ersten Male begegnen wir einem halbnackten Eingeborenen mit kleinen, spitzen, roten Schuhen an den Füßen, der leicht und graziös auf seinem Rad flüchtig dahinschwebt. Nichts hemmt seine Bewegung, und sein weißwallender Schleier gleicht Flügeln, die ihn tragen.

Zum Tiffin waren wir bei Graf Pfeil, unserm deutschen KonsuI, geladen. Er residiert, wie Europäer und Parsen überhaupt, auf Malabar Hill. Die Europäer bewohnen meist gemietete Bungalows, wofür sie monatlich etwa vierhundert Rupien zahlen. Alle diese Landhäuser liegen inmitten herrlicher Gärten. Sie haben gewöhnlich nur ein rings von Veranden umzogenes Erdgeschoß, in welches zahlreiche Türen führen. Diese stehen immer offen, um die Luft durchziehen zu lassen, da der Aufenthalt in geschlossenen Räumen unerträglich wäre. Ganz im Gegensatz zu diesen gartenhausartigen Villen, sind die Häuser der Parsen Prunkpaläste mit hohen Fassaden und Balkons. Ihre Bewohner scheinen »musikalisch« zu sein, denn beinahe aus jedem Gebäude tönt eine Drehorgel oder ein Musikwerk. Graf Pfeil hatte uns der größeren Bequemlichkeit halber in den nahen Jachtklub geladen. Wir trafen beim Dejeuner den österreichischen Konsul, Herrn Jelitschka, einen liebenswürdigen, feingebildeten Mann, der aber nicht für Indien schwärmt. – Uebrigens ist niemand, der länger hier lebt, von dem »Wunderland« auf die Dauer entzückt. Für einen bleibenden Aufenthalt scheint es doch sehr viele Mängel zu haben. Graf D…, welcher kürzlich hier war, soll Indien für einen »großen Schmutzhaufen« erklären, was mir aber ein zu einseitiges Urteil scheint.

Seit Mittag regnet es wieder in Strömen, es ist sehr heiß, und man befindet sich unausgesetzt in entsetzlicher Transpiration.

 

10. Dezember. Die Fahrt nach Elephanta, die wir für heute projektiert hatten, mußten wir wegen eines Zyklons aufgeben. Es ist sehr schade, aber da keine Aussicht auf Verminderung des Seegangs besteht, haben wir unsere Weiterreise für heute abend festgesetzt. – Wir promenieren morgens dem Meere entlang. Ein herrlich schönes, imposantes Bild liegt vor uns. Der Hafen mit seinen vielen Inseln, seinen jäh aufsteigenden Bergen, die sich kulissenartig ineinanderschieben und hintereinander aufbauen, erscheint unbeschreiblich reizvoll und großartig. Selbst Neapel muß hinter diesem Eindruck zurückstehen. Türkisblau wölbt sich der Himmel, tiefschwarz wogt das Meer, ungeheure Wellen wälzen sich vom Ozean herein und brechen sich in hoher, weitspritzender Brandung an den Felsen und der Hafenmauer. Der Strand ist sehr belebt. Der Steamer, mit dem die englischen Gäste des Vizekönigs erwartet werden, befindet sich in Sicht. Eine größere Anzahl eleganter Herren, Nawabs und Offizials hat sich zur Begrüßung versammelt. Prachtvolle Karossen mit Kutschern, Dienern und Vorläufern in glänzenden Kostümen sind für die zum Durbar geladenen Gäste an der Landungsbrücke aufgestellt. Der Dampfer tanzt auf den Wogen; die Passagiere sehen sehr angegriffen aus, als sie das Land betreten. Sie erzählen von einer außerordentlich stürmischen Ueberfahrt. – Wie glücklich waren wir dagegen gewesen!

Zwischen fünf und sieben Uhr findet am »Apollo Bandar« Korso statt, aber er ist heute wenig besucht, da die Begrüßung der Festgäste mit Musik im Jachtklub vor sich geht. Nur die Parsenfrauen, in farbenreiche, kostbare Gewandungen wie Römerinnen aus der Kaiserzeit drapiert, sitzen mißvergnügt in ihren hocheleganten Equipagen. In langen Reihen stehen sie längs des Trottoirs, das sich am Jachtklub hinzieht, verlangend schauen die schönen Frauen nach dem unerreichbaren Ziel ihrer Sehnsucht hinüber, wo die europäische »Monde« sich zum »five o'clock tea« Rendezvous gegeben hat. Auf einer ins Meer hinausgebauten Terrasse genießt die elegante Welt sogenannte »Abendkühle«, die aber trotz des heftigen Windes erdrückend schwül ist.

Abends um halb neun Uhr fuhren wir nach Colaba-Station. Colaba ist eine schmale Insel, auf der sich die Kaserne und Hospitalbauten der europäischen Truppen, sowie die Baumwolllager befinden. – Auf der Fahrt nach dem Bahnhof kamen wir an ausgedehnten, mit Bäumen bepflanzten Plätzen vorüber, die mit großen, hell erleuchteten Zelten bedeckt waren. Man konnte genau ihre innere Einrichtung übersehen. Hätte man nicht gewußt, daß dies nur Zelte seien, man würde geglaubt haben, in das höchst gemütliche Zimmer eines Landhauses zu blicken. Der Boden des Salons ist mit Teppichen belegt, die Wände sind mit Bildern geschmückt. Eine grün beschattete Lampe hängt über dem großen, runden Tisch, an welchem die Familie sitzt und Zeitungen liest, komfortable Sofas, Sessel und Liegestühle stehen gemütlich verteilt, kurz, der Einblick in dieses Zeltheim ist sehr einladend; man möchte wohl selbst gern einmal diese Art des Wohnens probieren.

Die » Servants« brachten heute eine große Aufregung in unsere Abreise, denn als wir nach neun Uhr auf den Bahnhof kamen, waren sie nicht da. Graf Lippe fuhr nach dem Hotel zurück, aber dort waren sie auch nicht mehr. Endlich, um halb zehn Uhr kamen sie mit zwei Bullockcarts an – der Zug geht allerdings erst um zehn Uhr – aber welche Umständlichkeit ist mit der Abfertigung des Gepäckes verbunden! Wie lange dauert sie, und wie schwierig ist es, die richtige Stelle zu finden, an der sie vor sich gehen soll. In der großen Bahnhofshalle stehen einzelne Pulte zerstreut, um die sich die Kollis auftürmen, und es ist Glückssache, gleich das richtige Pult zu finden, an dem z. B. nach Ahmedabad registriert wird. Zweimal mußten wir heute abend mit unseren Effekten von einem Pult zum andern wandern. Die Boys hatten den Kopf verloren, weil Eile not tat; sie waren darüber so nervös, daß sie sich nicht mehr verständigen konnten, und die vierhundertundsiebzehn Sprachen Indiens, die hier um die Ohren schwirren, raubten ihnen vollends ihr bißchen Verstand. Der ganze Wirrwarr und das Durcheinander, das Stoßen, Drängen und Schieben, das Schreien und Lärmen wäre zum Verrücktwerden gewesen, hätten wir nicht schon gelernt, jedem Ereignis die größte Ruhe, ja Gleichgültigkeit entgegenzusetzen, denn schließlich kam doch immer alles in Ordnung. So geschah es auch heute. Nach vielem Hin und Her bestiegen wir kurz vor zehn Uhr unser reserviertes, schönes, geräumiges Coupé. Die Boys hatten die Betten bereit gemacht. Wir freuten uns, nach der dumpfen Höhle von Bombay, des guten, federnden Lagers, der frischen Luft im laufenden Wagen, hatten eine ausgezeichnete Nacht und schliefen vortrefflich, trotzdem wir zweimal Quarantäne passierten, zweimal die Hand zum Pulsfühlen und die Zunge zur Besichtigung zum Coupéfenster hinausstrecken mußten.

 

11. Dezember. Um sieben Uhr halten wir in Baroda, der Hauptstadt eines wichtigen Marathastaates, dessen Fürst alljährlich Europa besucht, um eine Kur in Karlsbad zu brauchen und sich für unsere Damen zu begeistern. Die Stadt liegt zwischen dichten Bäumen versteckt. Wir konnten deshalb den modernen, phantastischen Lakshmi-Villa-Palast nur flüchtig durch die Zweige glänzen sehen.

Die Provinz Guzerat (spr. Guscherat), die wir jetzt durchfahren, ist außerordentlich fruchtbar. Ueberall üppiges Laub an den uralten Bäumen. Jedes Dorf hat seinen Tank und seinen Tempel. Frische Bäche, kleine Flüsse durchqueren Wiesen und Felder, die mit grünen blattlosen Röhrensträuchern (dem Milchstrauch) eingefaßt sind. Den Bahndamm entlang springen langgeschwänzte, gelbe Affen. Bunte Papageien sitzen wie Schwalben auf den Telegraphendrähten, graue Reiher mit roten Köpfen spiegeln sich im Weiher, hochbeinige Störche suchen kleine Kinder im Sumpf, und die Antilope schaut, zur Flucht bereit, gespannt zu uns herüber. Wir fahren wie durch einen herrlichen Park.


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