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29.

Gleich darauf öffnete sich die Tür, und Inspektor Crawford trat ein. Belling stand noch ganz unter dem Eindruck des Berichtes, den er eben gehört hatte.

»Inspektor, jetzt sind wir einen entscheidenden Schritt weitergekommen«, sagte er und erzählte schnell das Wesentliche seiner Unterhaltung mit dem Maurerpolier. »Mr. Selby erwartet eine Belohnung«, schloß er.

»Das ist ja ein glücklicher Zufall, daß Sie sich gemeldet haben«, wandte sich Crawford an Selby. »Ich komme sofort auf die Sache zurück. Belling, haben Sie Miß Ferguson angerufen?«

»Ja, sie will um Viertel nach fünf kommen.«

Der Inspektor sah nach der Uhr – es war dreiviertel fünf.

»Ich kann nicht überall zu gleicher Zeit sein. Fahren Sie mit der Arbeitskolonne des Überfallkommandos nach der Bruton Street. Ich werde alles Nötige anordnen. Mr. Selby begleitet Sie natürlich. Er kann an Ort und Stelle noch nähere Auskunft geben.«

»Ich dachte, ich sollte die Arbeit im Akkord ausführen«, erwiderte Selby enttäuscht.

»Nein, dazu ist jetzt keine Zeit. Aber wenn unsere Bemühungen Erfolg haben, können Sie eine gute Belohnung bekommen, die mindestens ebensoviel wert ist wie die Akkordarbeit.«

Crawford telephonierte an die verschiedenen Dienststellen im Amt, und zehn Minuten später setzten sich die Polizeiwagen nach der Bruton Street in Bewegung.

»Halten Sie mich telephonisch auf dem Laufenden«, sagte der Inspektor vorher noch zu Belling. »Sobald Sie etwas finden, rufen Sie sofort an.«

»Jawohl.«

»Übrigens hatte ich auch schon die Absicht, im Keller nachzugraben, denn die gelbliche Erde unter den Stufen der Wendeltreppe hat mir zu denken gegeben.«

Als sie vor dem Hause Sir Richards ankamen, öffnete Sergeant Pemberton. Sofort gingen die Beamten von Scotland Yard ins Laboratorium. Der Linoleumbelag wurde entfernt, und nun bemerkten sie in der Mitte eine unregelmäßige Stelle, die dunkler angelaufen war. Vorsichtig machten sie sich an die Arbeit.

Belling wußte, daß es noch einige Zeit dauern würde, aber er war erwartungsvoll auf einen der Arbeitstische geklettert, um einen besseren Überblick zu haben. Der Raum war so eng, daß nur zwei Leute zu gleicher Zeit mit Spitzhacken arbeiten könnten. In verhältnismäßig kurzer Zeit war ein Loch in den Betonboden geschlagen, und nun trat die gelbliche, sandige Erde zutage.

In dem Augenblick wurde Belling ans Telephon gerufen. Inspektor Crawford wollte ihn sprechen.

»Nun, wie steht es?«

»Wir haben eben die Betondecke in der Mitte entfernt.«

»Seien Sie um Himmels willen vorsichtig. Sie dürfen jetzt nur ganz langsam eine Erdschicht nach der anderen abheben.«

»Das habe ich schon angeordnet.«

»Lassen Sie die Erde nicht in Körben nach draußen tragen, sondern durchsieben.«

»Es arbeiten ja nur erfahrene Leute daran, die solche Aufgaben schon mehr als einmal durchgeführt haben.«

»Also gut. Rufen Sie aber sofort an, wenn Sie etwas finden.«

Crawford war begreiflicherweise aufgeregt. Fast tat es ihm leid, daß er Belling die Leitung der Arbeiten im Keller übergeben hatte, aber die Besprechung mit Miß Ferguson war mindestens ebenso wichtig.

Er hängte den Hörer ein. Als er gerade nach der Zeit sehen wollte, schlug die große Turmuhr vom Big Ben das erste Viertel, und wenige Sekunden später wurde auch Miß Ferguson gemeldet.

»Es ist äußerst liebenswürdig von Ihnen, daß Sie gekommen sind und der Polizei helfen wollen. Bitte, nehmen Sie Platz«, begrüßte er sie.

Dann nahm er das Protokoll von der Unterredung mit dem Maurerpolier Selby und las das Datum nach.

»An welchem Tage haben Sie zuletzt für Sir Richard gearbeitet?«

»Am siebzehnten Juni. Als ich am achtzehnten morgens kurz nach neun wieder ans Haus kam, öffnete mir die Frau des Butlers und sagte, Sir Richard hätte am vergangenen Abend einen Unfall gehabt und könnte nicht aufstehen. Ich ging deshalb wieder nach Hause. Später entließ mich Rechtsanwalt Stetson.«

»Wie hieß denn der Butler?«

»Tembroke.«

»Können Sie mir auch seinen Vornamen nennen?«

»Ja. Albert.«

Crawford sprang auf.

»Albert Tembroke? – A. T.! Jetzt haben wir die Erklärung des Monogramms auf dem Zigarettenetui!«

Sofort nahm er seine Mappe zur Hand und holte die Photos heraus.

»Miß Ferguson, erkennen Sie Tembroke nach diesem Bild wieder?«

Sie sah lange darauf, dann nickte sie.

»Ja, das ist er.«

»Großartig! Das hilft uns weiter. Der Tote, der die Rolle von Sir Richard gespielt hat, war also niemand anders als der Butler Albert Tembroke, und der wiederum ist identisch mit Alec Maxwell.«

Er erklärte ihr rasch die Zusammenhänge.

Miß Ferguson nickte lebhaft und interessiert.

»Eben sagten Sie etwas von der Frau des Butlers – das muß die Frau von Albert Tembroke gewesen sein. Haben Sie eine Ahnung, wo sie jetzt wohnt?«

»Ja. Deshalb wollte ich gerade mit Ihnen sprechen. Während der Verhandlung der Totenschau dachte ich nicht daran, aber später fiel mir ein, daß das doch für die Aufklärung des Falles äußerst wichtig wäre. Ich habe sie vor etwa vier Wochen getroffen, als ich am Sonntag einen Ausflug nach Broxbourne machte. Sie wohnt dort in einem kleinen Haus, und sie freute sich, als sie mich erkannte. Ich sah sie in ihrem Garten, und sie nötigte mich, hereinzukommen. Wir sprachen von früheren Zeiten, und ich fragte sie auch nach ihrem Mann. Sie erwiderte, daß er mit Sir Richard eine große Reise machte und ein so gutes Gehalt bekäme, daß er ihr jeden Monat zehn Pfund für ihren Unterhalt zahlen könnte.«

»Die Sache stimmt aber mit anderen Dingen nicht überein, die wir gerade heute nachmittag entdeckt haben.«

Er las ihr die Hauptpunkte aus dem Gespräch Bellings mit dem Maurerpolier Selby vor. Als er damit fast fertig war, klingelte das Telephon, und schnell nahm er den Hörer ab.

»Ist dort Belling?«

»Ja. Wir haben die oberste Erdschicht abgenommen und bereits festgestellt, daß ein Toter dort verscharrt liegt. Vorsichtig wird jetzt die Leiche freigelegt. Die Kleider sind zum Teil noch erkennbar. Der Tote trug einen braungestreiften Sakkoanzug.«

»Arbeiten Sie behutsam weiter. Ich komme mit Miß Ferguson nach dort.«

Kurz teilte er ihr mit, was Belling berichtet hatte.

Sie wurde bleich.

»Den Anzug trug er, als ich ihn das letztemal sah.«

»Ich möchte Sie bitten, mich zu begleiten und im Arbeitszimmer zu warten. Wahrscheinlich können Sie uns wertvolle Dienste leisten, wenn Sie die einzelnen Gegenstände, die wir bei der Ausgrabung finden, identifizieren.«

Crawford fuhr mit Miß Ferguson in seinem schnellen Wagen zur Bruton Street und trieb den Chauffeur zu höchster Eile an.

Als sie ankamen, bat er Miß Ferguson, allein die Treppe hinaufzusteigen und oben zu warten, da er sofort ins Laboratorium gehen wollte.

Dann eilte er die Wendeltreppe hinunter. Er sah, daß im Hintergrund einer der Arbeitstische abgeräumt war, und daß man die Überreste dorthin gebracht hatte. Der Polizeiarzt Dr. Reynolds war auch schon zur Stelle.

»Sind die Kleiderreste untersucht worden?« fragte Crawford, nachdem er Delling und den Arzt flüchtig begrüßt hatte.

»Ja.«

»Was haben Sie denn gefunden?«

»Verschiedene Gegenstände – teils in den Kleidern, teils in der Erde. Mehrere Beamte haben die sandige Erde durchsiebt.«

Es waren nur nebensächliche Dinge. Crawford nahm ein Stück des Anzugstoffes und ging damit nach oben. Als er ihn auf die Tischplatte des Schreibtisches legte, so daß Miß Ferguson ihn genau betrachten konnte, sah er, daß sie tiefbewegt war, und trat zur Seite, um ihr Zeit zu geben, sich zu fassen.

»Erkennen Sie den Stoff wieder?« fragte er nach einiger Zeit.

»Ja, diesen Anzug trug Sir Richard am siebzehnten Juni.«

Er ging wieder ins Laboratorium hinunter, wo die Beamten ihre Arbeit inzwischen beinahe beendet hatten. Die Knöpfe des Anzugs waren zum großen Teil gefunden worden, und auf einem stand der Name einer bekannten Firma in Savile Row.

»Armstrong, rufen Sie das Geschäft an und fragen Sie, ob Sir Richard Richmond dort hat arbeiten lassen.«

Zwei Beamte waren damit beschäftigt, die einzelnen Gegenstände mit Wasser zu säubern und ein Verzeichnis aufzustellen.

Als Inspektor Crawford wieder die Treppe hinaufstieg, fand er Miß Ferguson in der Galerie.

»Im Arbeitszimmer war es mir zu unheimlich. Ich konnte den Blutflecken auf dem Teppich nicht mehr sehen und ging nach draußen.«

»Ich habe eine große Bitte an Sie. Würden Sie mit mir nach Broxbourne hinausfahren und Mrs. Tembroke beisuchen? Es wäre sehr wichtig, daß die Sache so schnell wie möglich untersucht und aufgeklärt wird.«

»Natürlich begleite ich Sie.«

»Es ist eine Fahrt von etwa fünfundzwanzig Kilometern von hier aus, wenn man die vielen Straßenbiegungen mitrechnet. In spätestens zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten können wir dort sein. Steigen Sie bitte schon ein, ich will meinen Leuten nur noch einige Anweisungen geben.«

Als er in die Halle trat, meldete Detektiv Armstrong, daß Sir Richard fast seine ganze Garderobe bei der betreffenden Firma in Savile Row bezogen hatte.

»Es werden sich sicher auch noch andere Anhaltspunkte finden. Aber schon damit ist die Person des Toten festgestellt.«

Crawford nahm Dr. Reynolds beiseite und bat ihn, seinen Bericht gleich fertigzustellen, dann wandte er sich an Sergeant Belang.

»Sorgen Sie dafür, daß alle einzelnen Gegenstände nach Fertigstellung der Listen in meinem Büro ausgelegt werden. Ich fahre jetzt mit Miß Ferguson nach Broxbourne, bin aber bald wieder zurück.«

Unterwegs sprachen die beiden nur wenig miteinander. Als sie ihr Ziel erreichten, gab Valery Ferguson dem Chauffeur die nötigen Anweisungen, und bald darauf hielt der Wagen vor einem einfachen, kleinen Haus an der Grenze des Ortes.

Zwei Fenster waren erleuchtet.

»Sie ist in der Vorderstube. Ich werde vorausgehen«, sagte sie.

Crawford folgte ihr aber unmittelbar.

Als sie klingelte, öffnete eine einfache Frau von hübschem Aussehen. Crawford war überrascht, als er sie sah, denn unwillkürlich hatte er sie sich älter vorgestellt.

Sie begrüßte Miß Ferguson herzlich und nötigte auch den Inspektor hinein, den sie für einen Freund der Sekretärin hielt.

»Sie wohnen in einem schönen Häuschen, Mrs. Tembroke«, sagte er freundlich, »und Miß Ferguson hat mir auch erzählt, daß Sie einen wunderbaren Blumengarten haben.«

Sie freute sich über das Lob.

Er unterhielt sich einige Zeit mit ihr, um ihr Vertrauen zu gewinnen, dann brachte er allmählich das Gespräch auf Albert Tembroke.

Ein Schatten ging über ihr Gesicht, und ihr Blick wurde traurig, als er fragte, ob sie öfter Nachricht von ihm bekäme.

»Nein. Er hat mir die ganze Zeit noch nicht ein einziges Mal geschrieben. Aber das Geld schickt er regelmäßig.«

Crawford hatte den Eindruck, daß die Frau nicht eingeweiht war. Zeitungen schien sie auch nicht zu lesen, sonst wäre sie doch über den Mord unterrichtet gewesen.

»Wie schickt er Ihnen denn das Geld zu?«

»Ich bekomme es jeden Monat von der Bank.«

»Von welcher Bank?«

»Von der Westminster-Bank.«

Die Frau wurde argwöhnisch wegen dieser seltsamen Fragen, und Miß Ferguson mußte dem Inspektor helfen. Aber schließlich holte er durch geschickte Fragen alles aus ihr heraus. Es zeigte eich jedoch, daß sie nichts wußte. Er überlegte sich, ob er ihr von dem Tod ihres Mannes erzählen sollte, aber dann unterließ er es. Das hatte noch Zeit bis morgen.

Nach einer halben Stunde verabschiedete er sich mit Miß Ferguson und fuhr nach London zurück.

Er setzte seine Begleiterin bei ihrer Wohnung ab, und um acht Uhr war er wieder in seinem Büro in Scotland Yard.

Inzwischen waren mehrere Nachrichten eingelaufen. Pemberton hatte einen schriftlichen Bericht zurückgelassen; er hatte alle Aufträge erledigt und auch den Inhalt des Safes bei der Westminster-Bank festgestellt.

Crawford setzte sich an den Schreibtisch und sah die verschiedenen Meldungen durch; dann überlegte er lange, bis Belling eintrat und die Funde der Ausgrabung auf einem Tisch ausbreitete.


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