Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10.

Richmond eilte die Treppe hinunter und winkte eine Taxe herbei.

»Bruton Street 34«, rief er dem Chauffeur zu, während er einstieg.

Ria Bonati schien gefährlich zu werden. Er nahm sich vor, die Verhandlungen in London möglichst schnell zum Abschluß zu bringen und dann wieder ins Ausland zu gehen. Er hatte nie daran gedacht, sich für immer an diese bekannte Schönheit zu binden, die schon so viele Erlebnisse hinter sich hatte. Warum wollte sie sich gerade an ihn klammern? Blendend und verführerisch war sie, aber innerlich kalt, leer und habgierig. Eine plötzliche Depression überkam ihn, und er empfand Ekel vor dem Leben, das er jetzt führte. Wie ganz anders wäre es, wenn er noch einmal beginnen könnte, und wenn eine Frau wie Evelyn Rolands ihn liebte!

Er grübelte darüber nach, und plötzlich hielt der Wagen vor seinem Haus, ehe er es gedacht hatte.

Langsam stieg er aus, zahlte den Chauffeur und schloß sich selbst die Haustür auf.

Trotz seiner niedergedrückten Stimmung fiel es ihm auf, daß das Licht in der Halle angedreht wurde. Er trat ein und sah, daß Miller die Treppe herunterkam.

Diensteifrig eilte der Butler auf ihn zu und nahm ihm Mantel und Hut ab. Müde sah Sir Richard ihn an.

»Ich dachte, Sie wollten ins Kino gehen? Hatte ich Ihnen nicht Urlaub gegeben?«

»Ja, aber als wir hinkamen, wurde ein Film gespielt, den ich schon kannte, und so bin ich wieder nach Hause gegangen.«

»Sie hätten doch anderswohin gehen können? Ich brauche Sie jedenfalls nicht mehr. Machen Sie sich ruhig einen vergnügten Abend.«

»Ich danke Ihnen, Sir Richard, aber ich möchte lieber zu Hause bleiben und lesen. Ich habe ein ausgezeichnetes Buch angefangen.«

»Ganz, wie Sie wollen«, entgegnete Sir Richard und ging merkwürdig langsam die Treppe hinauf.

Miller hängte Hut und Mantel in die Garderobe, dann kehrte er in sein eigenes Zimmer zurück, das im zweiten Stock lag. Dieses Geschoß war nur durch die Nebentreppe zugänglich.

Ein sonderbarer Haushalt! dachte er. Sir Richard war fast nie zu Hause. Nun, ihm konnte das ja nur recht sein, dann hatte er um so weniger zu tun.

Als Miller den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, ging er den langen Korridor bis zu Ende. Sein Zimmer lag direkt über dem Arbeitszimmer von Sir Richard.

Er drehte das Licht an, gähnte und nahm aus der Schublade einen Kriminalroman, dessen erstes Kapitel er schon mit größter Spannung gelesen hatte.

Warum hatte die schöne Dame heute nur so interessiert nach Sir Richard gefragt? Auch sie hatte ihm ein gutes Trinkgeld gegeben. Wenn das so weiterging, hatte er bald eine hübsche Summe gespart und konnte Mabel Denver heiraten. Aber sonderbar blieb es doch, daß Sir Richard keine Nacht nach Hause kam und auch am Tage selten hier war. Die einzige, die zu tun hatte, war die Sekretärin. Den sonderbaren Auftritt zwischen ihr und Sir Richard hatte er ja am vergangenen Tag belauscht.

Er setzte sich an den Tisch und schlug das Buch auf. Aber dann überlegte er, daß es bequemer sein würde, im Bett zu lesen. Sir Richard hatte ja ausdrücklich gesagt, daß er ihn heute nicht mehr brauchte, und Besuch war eigentlich abends noch nie gekommen. Rasch kleidete er sich aus, um möglichst bald an die spannende Lektüre zu kommen.

Seite um Seite blätterte er um, die Handlung spitzte sich immer mehr zu, und sein Kopf glühte.

Aber plötzlich erschrak er heftig.

Es hatte geklingelt.

Ein Blick auf die Tafel sagte ihm, daß jemand auf den Knopf an der Haustür gedrückt hatte.

Aber gerade jetzt mußte herauskommen, wer der Mörder war! Nur schwer konnte er sich von seinem Buch trennen. Er schlug die Bettdecke zurück, legte das Buch mit einem leisen Fluch auf den Stuhl, sprang auf und zog sich hastig an. Am liebsten hätte er schnell noch die nächste Seite gelesen, aber das war unmöglich. Den rechten Schuh hatte er angezogen – wo war nur der linke? Miller suchte, bückte sich und zog ihn unter dem Bett hervor. Wenn es besonders schnell gehen sollte, kamen gewöhnlich dauernd Störungen.

Endlich war er fertig und stürzte die Treppe hinunter. Er nahm sich nicht einmal soviel Zeit, das Licht im Treppenhaus anzudrehen, denn er kannte den Weg genau.

Als er durch die Schwingtür in die Galerie eilte, bemerkte er, daß die Tür zum Arbeitszimmer von Sir Richard weit offen stand. In der Halle unten brannte Licht, und auch das Arbeitszimmer war hellerleuchtet. Deutlich sah er das große Bild, auf dem Sir Richard mit all seinen Orden dargestellt war. Davor stand ein Mann.

Jetzt drehte er sich um, und Miller erkannte Jim Carley, der auf ihn zukam.

Aber plötzlich entdeckte er, daß Sir Richard direkt unter dem Bild auf dem Teppich lag, und stürzte auf die Tür zu.

Carley hatte etwas gesagt, aber Miller hatte es in der Aufregung nicht verstanden. Als er sich nach ihm umwandte, bemerkte er, daß Carleys linke Hand blutig war.

Er kniete neben seinem Herrn nieder, aber er brauchte dessen Puls nicht zu fühlen.

Sir Richard war tot!

Entsetzt sprang Miller auf.

»Sie haben ihn ermordet!« schrie er.

*

Wie gelähmt blieb Jim Carley stehen, während der Butler die Treppe hinunterraste. Gleich darauf fiel die Haustür dröhnend ins Schloß.

Der Mann würde die Polizei rufen! Carley mußte handeln und etwas zu seiner Sicherheit tun.

Wirr sah er sich im Zimmer um, und plötzlich fiel ihm Edward Belling ein. Der war sein Freund, der würde die Sache gerecht beurteilen, ohne voreingenommen zu sein. Carley eilte zum Telephon, das auf einem kleinen Tisch neben dem Schreibtisch stand. Aber welche Nummer hatte Belling? Hastig schlug er im Telephonbuch nach und ließ sich dann mit Scotland Yard verbinden.

Die Zentrale meldete sich.

»Hier James Carley. Geben Sie mir bitte sofort Sergeant Belling!«

»Es ist fraglich, ob er noch im Amt ist.«

»Bitte, stellen Sie es fest – es ist sehr eilig.«

Der Beamte schien an derartig dringende Anrufe gewöhnt zu sein und ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen.

Carley kam es vor, als ob eine Ewigkeit verginge, bis er wieder eine Stimme hörte. Gott sei Dank – es war Belling, der sprach.

»Hallo, Jim, was gibt es?«

»Ich bin Bruton Street 34 – im Haus meines Onkels – er ist ermordet worden!«

»Was sagst du?« fragte Belling scharf. »Was ist denn geschehen?«

»Das kann ich dir nicht mit ein paar Worten erklären. Komm bitte so schnell wie möglich hierher.«

»Ich kann nicht ohne weiteres aus dem Amt fort – bis zwölf Uhr habe ich Nachtdienst. Aber ich werde –«

»Komm bitte sofort«, unterbrach ihn Carley nervös. »Es handelt sich –«

»Vor allem mußt du ruhig bleiben, Jim, und nicht den Kopf verlieren. Ich werde mich gleich mit Inspektor Crawford in Verbindung setzen. Er ist nicht mehr hier, aber ich kann ihn vielleicht zu Hause erreichen. Wenn ich ihn gesprochen habe, komme ich gleich zu dir. Kannst du mir nicht wenigstens in großen Zügen sagen, was los ist?«

Jim hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Evelyn stand vor ihm, bleich und entsetzt.

»Einen Augenblick!« rief er ins Telephon.

»Aber so antworte doch, damit ich Inspektor Crawford unterrichten kann!«

»Evelyn – Miß Rolands ist eben ins Zimmer gekommen –«

Unten wurde die Haustür aufgerissen, und eilig stürzten mehrere Leute die Treppe herauf.

»Du scheinst ja vollständig den Kopf verloren zu haben«, sagte Belling.

»Nein, höre doch, ich will dir ja alles erklären –«

Jim zuckte zusammen, denn eine Hand legte sich auf seine Schulter.

»Wenn hier telephoniert wird, dann tue ich es«, sagte Polizist Granter. »Mit wem haben Sie eben gesprochen?«

»Mit Belling.«

»Privatgespräche haben zu unterbleiben.«

»Ich habe Scotland Yard angerufen.«

»Er ist der Mörder!« rief Miller.

»Seien Sie jetzt ruhig, Sie können nachher noch alles sagen. Wo ist der Tote?«

Granter entdeckte Sir Richard, kniete sofort nieder und untersuchte ihn.

»Er ist erst vor ein paar Minuten gestorben«, erklärte er, nachdem er gefühlt hatte, daß der Körper noch nicht erkaltet war. »Wer ist das?« fragte er Miller.

»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt«, erwiderte der Butler totenbleich. »Es ist Sir Richard Richmond, dem dieses Haus gehört.«

»Wer sind Sie?« wandte sich der Polizist an Jim. »Wie heißen Sie?«

»Carley – James Carley.

»Und wer ist diese Dame?«

»Miß Evelyn Rolands«, entgegnete Miller. »Die Sekretärin von Sir Richard.«

»Die Dame kann selbst antworten«, fuhr Robert Granter ihn an. Er war noch nicht lange im Amt, kam sich daher um so wichtiger vor. Sicher wurde er nun bald befördert, nachdem er einen wirklichen Mord entdeckt hatte. Auf keinen Fall durfte von den Leuten hier die Autorität der Polizei angetastet werden. Er war hier, und er würde die Tatsachen feststellen.

»Treten Sie zur Seite!« befahl er barsch.

»Aber der Mann ist doch der Mörder!« rief Miller wieder.

»Zum Kuckuck noch einmal, können Sie denn nicht den Mund halten? Dies ist also Sir Richard Richmond?«

Miller war so erschrocken, daß er nichts erwidern konnte.

»Antworten Sie, wenn ich Sie frage!«

»Ja«, stotterte der Butler verschüchtert.

»Wer ist zuerst im Zimmer gewesen?«

»Er!« entgegnete Miller und zeigte auf Carley.

»Wie kommen Sie hierher?«

Jim hatte sich inzwischen gefaßt, aber er sagte sich, daß es keinen Zweck hatte, diesem untergeordneten Beamten etwas mitzuteilen.

»Das werde ich später erzählen, wenn die Beamten von Scotland Yard hier sind.«

»Sie werden jetzt antworten!«

Carley schwieg.

»Ich bin Polizist Granter, und Sie haben meinen Anordnungen nachzukommen.«

Als Carley auch darauf nichts sagte und nur düster dreinblickte, wandte sich der Polizist an Evelyn.

»Was haben Sie denn hier zu tun?«

»Ich war unten in der Bibliothek –«

»Das stimmt nicht«, warf Miller ein.

»Warten Sie, bis Sie gefragt werden!«

Carley machte Evelyn ein Zeichen, zu schweigen, dann trat er auf sie zu und wollte ihr etwas sagen.

»Privatunterhaltungen gibt es hier nicht«, fuhr Granter dazwischen.

Er erkannte, daß die Aufklärung eines Mordes keine einfache Sache war, und er hielt es jetzt für das beste, den Vorfall seinem Polizeirevier zu melden. Damit aber die drei Anwesenden währenddessen nicht miteinander sprechen konnten, schickte er den Butler in die Galerie hinaus und ließ Carley und Evelyn in verschiedene Ecken des Zimmers treten.

Zögernd kamen sie seiner Anordnung nach, dann rief er seine Station an.

»Hier Polizist Granter. Auf meiner Patrouille durch die Bruton Street bin ich eben ins Haus Nummer 34 gerufen worden, wo ein Mord verübt worden ist.«

»Ein Mord?« wiederholte der diensttuende Sergeant Pemberton ungläubig, denn er kannte Granter.

»Ja, ein Mord? Sir Richard Richmond, der Besitzer des Hauses, liegt tot in seinem Arbeitszimmer.«

»Rühren Sie nichts an. Ich werde sofort den Stationsarzt benachrichtigen, dann komme ich selbst. Sehen Sie zu, daß alles unverändert bleibt.«

»Sehr wohl.«

Granter hängte an. Die Meldung war bedeutend nüchterner und weniger ruhmreich ausgefallen, als er es sich gedacht hatte. Er sah sich um und bemerkte, daß Carley das Taschentuch herauszog, um die linke Hand abzuwischen. Schnell trat er auf ihn zu.

»Das ist ja Blut!« rief er aufgeregt. »Zeigen Sie einmal die Hand bei Licht!«

Langsam ging Carley zum Schreibtisch, auf dem eine Leselampe brannte.

»Drehen Sie die Hand um – Sie haben eben versucht, wichtiges Beweismaterial zu beseitigen!« herrschte ihn der Polizist an.

Laut schrillte eine Klingel durchs Haus.

»Miller!« Granter wurde nervös. Ausgerechnet mußte es jetzt auch noch klingeln!

»Jawohl?«

»Kommen Sie sofort hierher.«

»Es hat an der Seitentür geklingelt«, sagte der Butler, als er ins Arbeitszimmer trat.

»Wer kann das sein?«

»Ich weiß es nicht.«

Granter wurde verlegen, aber er mußte eine Entscheidung treffen.

»Gehen Sie nach unten und öffnen Sie, aber unterhalten Sie sich nicht mit der Person, die draußen steht!«

»Jawohl.«

Miller eilte hastig die Treppe hinunter.

Granter verschränkte die Arme. Er wußte nicht mehr, was er tun sollte, denn alles ging verkehrt. Kurz darauf hörte er unten Frauenstimmen und ging an die Tür.

»Ruhe!« brüllte er nach unten. »Kommen Sie sofort herauf!«

Unheimlich hallten die lauten Worte in der großen Halle wider.

Miller kam eilig mit dem Zimmermädchen und der Köchin die Treppe herauf, die eben vom Kino zurückgekommen waren.

»Ich habe gleich gesagt, daß das nicht gut ausgehen kann«, wandte sich die Köchin an den Polizisten.

»Schweigen Sie!« rief er heftig. »Wer ist diese Person?« fragte er den Butler.

»Ann Stoutman, die Köchin.«

»Und die?« Granter zeigte auf das Zimmermädchen.

»Mabel Denver«, entgegnete das Mädchen verängstigt.

In dem Augenblick hörten alle das Heulen einer Sirene.

»Das Polizeiauto mit den Beamten von der Station«, sagte Granter und atmete erleichtert auf. »Alle bleiben ruhig stehen, bis der Sergeant kommt und weitere Anordnungen gibt. Miller, öffnen Sie die Haustür.«

Wieder eilte der Butler hinunter, während dumpfes Schweigen in dem Mordzimmer herrschte.

Mabel Denver sah plötzlich den Toten am Boden und schrie laut auf.

Wütend wandte sich Granter nach ihr um, aber dann sprang er auf sie zu und fing sie auf, denn sie war ohnmächtig geworden.


 << zurück weiter >>