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6.

Nach einer unruhigen Nacht erwachte Jim am nächsten Morgen schon vor sieben. Böse Träume hatten ihn gequält, und seine Stimmung war dadurch nicht besser geworden. Vor acht war er schon fertig, aber um diese Zeit konnte er unmöglich jemand anrufen. Er ging ins Frühstückszimmer und sah die Zeitungen durch. Nachher wollte er im Ardmay-Hotel anrufen und sieh nach Evelyn erkundigen.

Um halb neun stand er auf, ging zum Telephon und ließ sich mit dem Haus von Sir Richard in der Bruton Street verbinden.

»Ist mein Onkel zu sprechen?« fragte er, nachdem er seinen Namen genannt hatte.

»Sir Richard ist nicht zu Hause.«

Beinahe hätte Carley geflucht. Wie durfte der Mann ihn so belügen? Sir Richard konnte doch noch nicht ausgegangen sein – dazu war es viel zu früh! Was bedeutete dieses sonderbare Verhalten – wollte sein Onkel ihn nicht sprechen? Das war doch unglaublich!

»Haben Sie ihm mitgeteilt, daß ich gestern dort war, und ihm meine Karte gegeben?«

»Ja, aber er hat nichts Besonderes dazu gesagt.«

»Wann glauben Sie denn, daß er heute vormittag zu sprechen ist?«

»Das kann ich leider nicht sagen.«

»Gut, ich rufe später wieder an.«

Carley war davon überzeugt, daß der Butler die Unwahrheit gesagt hatte, aber er konnte es nicht beweisen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten.

Er ging ins Rauchzimmer und sah dein lebhaften Verkehr auf der Themse zu. Das Verhalten Sir Richards war ihm unerklärlich. Er hatte ihm dringend geschrieben, wie wichtig es war, die Konzession durchzubringen. Diesen Brief mußte sein Onkel doch längst erhalten haben! Wie konnte er noch zögern!

Carley hatte geglaubt, daß er von Sir Richard ungeduldig erwartet würde, aber dessen Benehmen war während der letzten Zeit mehr als sonderbar gewesen. Er dachte wieder an die Begegnung vom vergangenen Abend. Wenn er nur doch seinen Onkel begrüßt hätte, statt auf Belling zu hören, der ihn davon zurückgehalten hatte!

Gewiß, Sir Richard war wohlhabend, aber wenn es sich um eine so fabelhafte Sache handelte, konnte er doch nicht gleichgültig bleiben, nachdem er schriftlich jede finanzielle Hilfe zugesagt und selbst Auftrag gegeben hatte, die Konzession einzureichen.

Um halb zehn nahm Carley eine Taxe und fuhr Bruton Street.

Er fluchte leise, als er vom Butler wieder dem gleichen Bescheid erhielt wie eine Stunde vorher.

Nun beschloß er, Mr. Stetson, den Rechtsanwalt Sir Richards, anzurufen und mit ihm eine Unterredung zu vereinbaren. Stetson war ein kühler, kluger Geschäftsmann, der ihm sicher einen guten Rat geben würde, und auch Sir Richard hörte auf den Mann!

»Mr. Stetson ist noch nicht im Büro«, antwortete ein Angestellter. »Aber um halb elf will er hier sein.«

»Gut, dann komme ich zu der Zeit hin.«

Mit einer gewissen Befriedigung hängte Carley den Hörer an. Dann ließ er sich mit dem Ardmay-Hotel verbinden, erfuhr aber, daß Miß Rolands schon vor einiger Zeit fortgegangen war.

Pünktlich um halb elf meldete er sich im Büro des Anwalts.

»Mr. Stetson ist hier, aber er hat schon eine Besprechung. Bitte, warten Sie im Vorzimmer.«

Er trat in den Raum und steckte sich eine Zigarette an. Nach einer Weile wurde er aufmerksam, als er im Nebenzimmer eine bekannte Stimme hörte.

»Nein, das ist unmöglich, ich kann nicht wieder in sein Haus gehen«, sagte Evelyn Rolands leidenschaftlich.

Der Anwalt schien sie zu beruhigen, aber Carley konnte nicht verstehen, was Stetson sagte. Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür vom Büro des Rechtsanwalts zum Flur. Eilig sprang Jim auf und ging ebenfalls hinaus. Er hatte sich nicht getäuscht. Evelyn stand vor ihm, und er sah, daß sie geweint hatte. Sie war ebenso betroffen wie er, aber dann; kam sie auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

»Guten Morgen, Mr. Carley. Das Schicksal führt uns anscheinend immer wieder zusammen. Gestern abend wurde ich leider so lange aufgehalten, daß ich nicht mehr kommen konnte. Ich hatte ein unangenehmes Erlebnis und war sehr aufgeregt.«

»Was ist denn geschehen?« fragte er besorgt.

Der Angestellte, der ihm vorher empfangen hatte, unterbrach ihn.

»Mr. Stetson läßt bitten.«

»Die Zeit ist jetzt zu kurz, um es Ihnen zu erzählen«, erwiderte sie.

»Können wir uns vielleicht beim Mittagessen sehen?« fragte er dringend.

»Ja«, entgegnete sie zögernd. »Erwarten Sie mich zwischen zwölf und halb eins am Berkeley Square.«

Er sah ihr noch einen Augenblick nach, dann folgte er dem jungen Mann.

Carley kannte den Anwalt von früher her, obwohl er ihn nicht häufig getroffen hatte.

»Nun, da wären Sie ja wieder in London nach langem Tropenaufenthalt«, begrüßte ihn Stetson liebenswürdig.

Der fünfundvierzig Jahre alte Anwalt hatte ein kluges, intelligentes Gesicht und gehörte zu den bekanntesten und erfolgreichsten Juristen der Hauptstadt. Er war etwas untersetzt, hatte dunkles Haar und dunkle Augen, und seine Kleidung verriet kultivierten Geschmack.

»Scheint Ihnen recht gut bekommen zu sein. Und dabei hört man doch immer, daß Hinterindien ein heißes, ungesundes Fieberklima hat. Vermutlich wollen Sie wegen der wichtigen Konzession mit mir sprechen?«

»Ja. Ich möchte Sie bitten, mir zu helfen, denn bisher ist es mir nicht gelungen, meinen Onkel zu sehen, obwohl höchste Eile notwendig ist. Ich nehme an, daß Sie von meinem Briefwechsel mit ihm wissen?«

»Bis zu einem gewissen Grade.«

»Vielleicht sagen Sie mir, wie weit Sie in die Angelegenheit eingeweiht sind, dann kann ich das Nötige ergänzen.«

»Sie haben vor einiger Zeit ein großes Erzlager in der Nähe des Salven-Flusses entdeckt, das Ihrer Meinung nach von größter wirtschaftlicher Bedeutung für Hinterindien ist. Sie haben sehr fleißig gearbeitet, und nun ist eine Konzession bei der Regierung von Birma eingereicht, die auf den Namen Ihres Onkels lautet. Soweit ich unterrichtet bin, ist alles in bester Ordnung.«

»Nein, gerade das Gegenteil ist der Fall. Unter den größten Schwierigkeiten habe ich die Eingabe im Auftrag meines Onkels gemacht, aber wie Sie sich denken können, will die Regierung nicht ohne weiteres ein derartig großes Gebiet ausnahmslos einem Einzigen zur Ausbeutung überlassen. Es muß auch der Nachweis geführt werden, daß mit dem Abbau der Erze tatsächlich in kürzester Zeit begonnen wird. Dafür ist die Stellung einer Kaution von fünfzigtausend Pfund gefordert worden, deren erste Rate von zehntausend Pfund sofort hinterlegt werden muß, wenn die Erteilung der Konzession ausgesprochen werden soll.«

»Ja, Ihr Onkel hat mir davon erzählt, aber ich hatte die Sache nicht für so dringend gehalten.«

»Ich bin heute hauptsächlich zu Ihnen gekommen, weil ich auf meine letzten Briefe von Mulmein aus keine Antwort von meinem Onkel erhielt. Sie teilten mir mit, daß er auf eine Weltreise gegangen wäre, aber von ihm selbst habe ich in den letzten drei Monaten nichts erfahren.«

»Das hat auch seine Gründe. Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann, und ich freue mich, daß Sie zu mir gekommen sind, weil ich vertraulich mit Ihnen über den Fall sprechen möchte.«

»Ich muß doch erwarten, daß mein Onkel jetzt Wort hält und mich nicht einfach im Stich läßt. Eine beglaubigte Abschrift des Konzessionsantrages mit allen dazugehörigen Plänen, Karten und genauen Angaben habe ich ihm nach London geschickt.

Als dann aber einen Tag später Ihr Brief ankam, in dem Sie mir mitteilten, daß er auf eine lange Erholungsreise gegangen wäre, packte ich meine Koffer und kam her, um Klarheit zu schaffen. Die Sache steht jetzt so: In den nächsten fünf bis sechs Tagen müssen telegraphisch zehntausend Pfund nach Rangun überwiesen werden. Dann steht der Erteilung der Konzession nichts weiter im Weg. Wenn das Geld aber nicht geschickt wird, verfällt sie, und all meine Bemühungen waren umsonst.«

»Wieso?«

»Sie können sich doch wohl vorstellen, daß eine so wichtige Angelegenheit nicht geheim bleiben kann. Vorläufig haben wir das Vorrecht, aber wenn die Kaution nicht gezahlt wird, sind sofort andere Finanzgruppen bei der Hand, um die Konzession für sich zu erwerben.«

»Da Sie abgereist waren, haben Sie meinen letzten Brief nicht erhalten. Ich muß Ihnen deshalb den Inhalt erzählen. Zunächst habe ich nicht gewußt, daß soviel auf dem Spiel steht, sonst hätte ich selbstverständlich in Ihrem Interesse und in dem Ihres Onkels die Sache beschleunigt. Eine Zahlung von zehntausend Pfund ist möglich, aber immerhin keine Kleinigkeit, besonders da in absehbarer Zeit weitere vierzigtausend Pfund aufgebracht werden müssen.«

»Gewiß, aber warum mußte denn mein Onkel plötzlich verreisen? Ich kann das noch immer nicht verstehen.«

»Ich deutete in meinem ersten Brief an Sie bereits an, daß er einen Unfall hatte und sich erholen mußte. Sie wissen ja, daß er in seinem Kellergeschoß ein großes Laboratorium eingerichtet hat – dort hat er sich bei einem unglücklichen Sturz eine Verletzung an der Stirn zugezogen. Zunächst war er lange bewußtlos. Glücklicherweise erfuhr ich sofort davon und konnte gleich dafür sorgen, daß die nötigen Spezialärzte zugezogen wurden. Was ich Ihnen nun sage, behandeln Sie bitte als vertrauliche Mitteilung.«

Carley nickte und sah Stetson gespannt an.

»Die körperliche Verletzung war nicht so schlimm, aber sie hatte nachteilige Folgen, denn Charakter und Wesen Ihres Onkels haben sich in gewisser Weise geändert. Sie kannten ihn doch auch früher als einen zuverlässigen Mann, jetzt aber scheint er leichtsinnig geworden zu sein. Er gibt unverhältnismäßig viel Geld aus – für meiner Meinung nach unnütze Dinge. Professor Haviland, der ihn behandelte, riet zu einer langen Seereise. Daraufhin machte Ihr Onkel eine Reise um die Welt, von der er vor etwas mehr als vierzehn Tagen zurückkehrte.«

»Es ist gut, daß ich das erfahre. Nun kann ich sein Verhalten wenigstens etwas besser verstehen.«

»Ich hatte auf eine günstige Wirkung gehofft«, fuhr der Anwalt fort, »aber unterwegs schrieb er mir Briefe und verlangte, daß ich ihm immer größere Summen nachsenden sollte. Ich bin ernstlich besorgt, verspreche Ihnen aber, daß innerhalb der nächsten drei Tage die zehntausend Pfund nach Ihrem Wunsch überwiesen werden. Ich begreife vollkommen die Dringlichkeit und versichere Ihnen, daß ich alles tun werde, um Ihnen zu helfen. Aber seien Sie Ihrem Onkel gegenüber vorsichtig und reizen Sie ihn nicht, da er in seinem jetzigen Zustand leicht aufbraust und furchtbar heftig werden kann. Was später geschehen soll, müssen wir abwarten. Nach seiner Rückkehr habe ich vergeblich versucht, ihn zu bestimmen, daß er sich wieder von Professor Haviland untersuchen läßt.«

»Ich danke Ihnen für diese Mitteilungen. Nun möchte ich gern noch eine andere Sache mit Ihnen besprechen. Ich habe eben gehört, daß Sie sich mit Miß Evelyn Rolands unterhielten. Sie sprach so heftig, daß ich verschiedene Worte hören mußte. Können Sie mir sagen, was sie mit meinem Onkel zu tun hat?«

»Sie ist seit drei Wochen seine Sekretärin. Ich selbst habe sie für diesen Posten vorgeschlagen, denn sie ist mein Mündel.«

»Ich vermute, daß sie sich über Beleidigungen oder Zudringlichkeiten beschwert hat – es war doch hoffentlich nicht mein Onkel, der ihr zunahe getreten ist?«

»Leider ja.« Stetson sah, daß Carley unwillkürlich die Hand ballte, die er auf den Schreibtisch gelegt hatte.

Nur mit Mühe unterdrückte Jim einen Fluch.

»Das ist ja unerhört«, fuhr er auf. »Ich will und muß ihn sehen, und ich werde –« Er sprach nicht weiter, aber seine zornigen Blicke verrieten deutlich seine Empörung.

»Nach allem, was ich Ihnen erzählt habe, dürfen Sie die Sache nicht so tragisch nehmen. Ich schließe aus Ihrer Frage, daß Sie sich für Miß Rolands interessieren. Ich selbst fühle mich immer noch für sie verantwortlich und werde schon dafür sorgen, daß derartige Vorfälle in Zukunft unterbleiben. Jedenfalls spreche ich heute noch mit Sir Richard darüber.«

»Es ist doch vollkommen ausgeschlossen, daß sie ihre Stellung weiterbehält.«

»Ruhig, Mut!« beschwichtigte ihn Stetson. »Es handelt sich hier auch noch um andere Dinge. Wir dürfen den Fall nicht vom normalen Standpunkt aus betrachten, da Ihr Onkel eben zur Zeit nicht normal ist. Das habe ich Miß Rolands auch gesagt.«

»Am liebsten würde ich mit ihm abrechnen! Unter allen Umständen werde ich mit ihm sprechen.«

»Das wäre mir auch sehr lieb. Kommen Sie nachher bitte wieder zu mir, damit wir beraten, was geschehen soll.«

Carley erhob sich.


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