Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3.

Carley überlegte. Der Waterloo-Bahnhof lag am rechten Themseufer, und wahrscheinlich würde sie am anderen Ufer wohnen, mußte also über die Waterloo-Brücke gehen. Ob sie wohl eine Taxe genommen hatte, um nach Hause zu kommen?

Er glaubte es nicht, wenn er auch keinen Grund dafür angeben konnte. Zu Fuß war er selbst auch freier und hatte einen besseren Überblick über die Straße, während er in einem Wagen nur behindert war.

Geschickt bahnte er sich einem Weg durch den starken Verkehr und war bald auf der Brücke selbst. Wie oft hatte er sich abends in den Tropen ausgemalt, wie es wäre, wenn er zum erstenmal die Themse wiedersehen würde, aber nun dachte er kaum noch daran. Im Augenblick hatte er nur ein Ziel: Er wollte feststellen, wo Miß Rolands wohnte.

Und schließlich wurde er belohnt. Nach einiger Zeit, als er das andere Ufer fast erreicht hatte, sah er ihre braune Samtkappe in nicht allzu weiter Entfernung vor sich.

Nun mußte er sich vorsehen, damit sie ihn nicht bemerkte. Unter keinen Umständen durfte sie erfahren, daß er ihr nachging.

An der Ecke des Strands wollte sie nach links abbiegen, mußte aber warten, bis der Verkehr in dieser Richtung freigegeben wurde.

Carley hielt sich im Hintergrund und folgte ihr dann wieder. Unter den vielen Fußgängern fand er genügend Deckung. Einige Sekunden hatte er sie aus den Augen gelassen, da er annahm, daß sie zu der nächsten Autobushaltestelle gehen würde. Aber als er wieder nach ihr Umschau hielt, wurde er von Schrecken gepackt.

Ein großer, roter Autobus der Linie 44 hätte beinahe eine Frau überfahren, die sich entgegen allen Verkehrsvorschriften auf den Fahrdamm gewagt hatte, um auf die andere Seite der Straße zu kommen. Es blieb dem Chauffeur nichts übrig, als nach rechts auszubiegen. Dabei geriet er aber an ein Auto, das am Straßenrand parkte. Durch den Anprall wurde es auf den Gehsteig gedrückt.

Mit einem großen Satz sprang Jim Carley vor, packte Evelyn Rolands und riß sie gerade noch im letzten Augenblick zur Seite. Ihr Kleid wurde vom Kotflügel gestreift, zerrissen und beschmutzt.

Einige Frauen schrien auf, ein Mann schien, verletzt zu sein – er lag stöhnend am Boden. Es gab einen allgemeinen Auflauf.

Schnell zog Carley Miß Rolands in den nächsten Hauseingang.

»Sind Sie verletzt?« fragte er ängstlich.

Ihre Lippen zitterten, und sie brachte kein Wort hervor. Bleich und verstört schaute sie ihn an.

»Haben Sie etwas gebrochen?«

Sie machte einen Schritt zur Seite und fühlte an den Kopf.

Inzwischen waren Polizisten herbeigeeilt, um die Verkehrsstockung möglichst schnell zu beseitigen.

»Können Sie gehen, ohne daß es schmerzt?«

Carley wollte verhüten, daß ihr Name als Zeugin notiert wurde. Das hätte nur eine unliebsame Verzögerung zur Folge gehabt. Er faßte sie unter den Arm und führte sie die Straße entlang.

»Am besten bringe ich Sie in einer Taxe nach Hause, damit Sie sich von dem Schrecken erholen können.«

Sie war noch so benommen, daß sie nicht widersprach.

Schnell winkte er einem vorbeifahrenden freien Wagen und half ihr beim Einsteigen.

»Wohin darf ich Sie bringen?«

»Zum Ardmay-Hotel, Woburn Place beim Russell Square.«

Er rief dem Chauffeur die Adresse zu, dann zog er sein Taschentuch heraus.

»Gestatten Sie, daß ich Ihnen! ein wenig behilflich bin?« fragte er und versuchte, den Schmutz von ihrem Kleid zu reiben.

Sie sah ihn erstaunt an. Jetzt erst schien ihr klarzuwerden, daß es Carley war, der sie gerettet hatte.

»Das war ein unerwartetes Wiedersehen«, sagte sie, nachdem sie sich etwas gefaßt hatte.

Er erwiderte nichts, denn er wollte sie in dem Glauben lassen.

»Wie gut und umsichtig von Ihnen, daß Sie mich wegrissen und in Sicherheit brachten.« Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu und legte eine Hand auf seinen Arm.

Er wollte nichts davon hören.

»Ich bin Ihnen aber wirklich sehr dankbar.«

Die Entfremdung, die er bei dem Abschied im Zug gefühlt hatte, war verschwunden, und weder herrschte das beste Einvernehmen zwischen ihnen.

»Wir werden gleich am Ziel sein«, sagte sie. »Sehen Sie, da sind schon die Anlagen von Russell Square, und gleich rechts liegt der Eingang zum Hotel. Ich wohne dort.«

Kurz darauf hielt das Auto. Der Portier eilte auf die Straße und öffnete den Wagenschlag. Evelyn stieg zuerst aus, während Carley den Chauffeur bezahlte und ihm ein gutes Trinkgeld in die Hand drückte.

»Darf ich Sie zu einer Tasse Tee einladen?« wandte sie sich an ihn. »Warten Sie bitte unten im Gesellschaftssalon, ich ziehe mich nur schnell um.«

»Gern«, erwiderte er erfreut.

Sie eilte die Treppe hinauf. Ein Page nahm ihm Hut und Mantel ab und zeigte ihm dann den Weg in die Gesellschaftsräume.

Im Hintergrund wurde in einem Zimmer Tischtennis gespielt, Bridgepartien waren im Gang, und vor den beiden großen Kaminen saßen Gruppen von Gästen, die lebhaft miteinander plauderten.

Carley ließ sich an einem Tisch der Tür gegenüber nieder und wartete. Hoffentlich hatte sie sich nicht verletzt. Er wollte sie noch einmal fragen, wenn sie zurückkam.

Ob sie wohl nur zu einem kurzen Aufenthalt in London war? Vielleicht studierte sie an der Universität oder an einer Kunstschule?

Er winkte einem der Hotelangestellten, der gerade vorüberging, und ließ sich eine Zeitung geben.

»Nun, wie gefällt es Ihnen hier?« sagte plötzlich Miß Rolands neben ihm und setzte sich.

Gleich darauf servierte ein Kellner den Tee.

»Haben Sie inzwischen schon ein Hotel gewählt?« fragte sie, nachdem sie ihm eine Tasse eingeschenkt hatte.

»Nein, noch nicht.« Er wurde verlegen, denn sie sollte doch nicht erfahren, daß er ihr nachgegangen war. »Das hat Zeit bis später. Ich wollte erst einmal die Themse und den Strand wiedersehen. Deshalb habe ich mein Gepäck zunächst auf dem Bahnhof gelassen.«

»Dann haben Sie also vor Ihrem Aufenthalt in Birma auch in London gewohnt?« meinte sie und schaute ihn fragend an.

Er nickte.

»Wie geht es Ihnen denn nun nach dem Unfall? Haben Sie irgendwelche Schmerzen?«

»Es ist nicht schlimm – nur ein paar Abschürfungen am rechten Bein. Wenn ich mich zusammennehme, merkt man es mir hoffentlich beim Gehen nicht an. Aber ich habe mich sehr gestoßen und werde morgen wohl blaue und grüne Flecke haben.«

»Wir sind nun schon fast alte Bekannte. Wie wäre es – wollen wir nicht noch den Rest des Nachmittags zusammen verbringen?«

Fast tat es ihm leid, daß er die Frage gestellt hatte, denn sofort schien Evelyns heitere Stimmung verflogen zu sein.

»Das ist leider nicht möglich. Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich bereits verabredet bin. Ich habe auch jetzt nicht viel Zeit. Seien Sie mir bitte deshalb nicht böse. Ich möchte meinem Lebensretter gegenüber wirklich nicht unhöflich sein.« Sie machte eine leichte Verbeugung und lächelte eigentümlich.

Er wurde unsicher. War diese Bemerkung ironisch gemeint?

Evelyn sah, daß er sich durch ihre Antwort getroffen fühlte, und wollte es wieder gutmachen.

»Vielleicht können wir uns später wiedersehen.«

»Ja«, entgegnete er eifrig. »Wann paßt es Ihnen?«

Sie dachte einen Augenblick nach.

»Heute abend um acht.«

»Und wo? Vielleicht am Trafalgar Square, Nelson-Säule?« schlug er vor.

»Ach nein, dort treffen eich zuviel« Leute. Lieber an einem ruhigeren Platz.«

»Gut, dann im Eingang zum Untergrundbahnhof, gegenüber der Kirche Mary-le-Strand.«

»Einverstanden. Nun erzählen Sie mir aber bitte noch ein wenig von Ihrer Tätigkeit in Hinterindien.«

Sofort waren sie wieder in reger Unterhaltung, bis Evelyn Rolands plötzlich erschrak, als ihr Blick auf die Uhr über dem Kamin fiel.

»Es ist höchste Zeit, daß ich gehe. Jetzt müssen Sie mich entschuldigen.«

Sie gingen zusammen zur Treppe, und er drückte ihr zum Abschied herzlich die Hand.

Der Page hielt bereits Mantel und Hut bereit, und gleich darauf stand Carley auf der Straße und schlenderte zur nächsten Autobushaltestelle, die dem Hotel gegenüberlag. Nun mußte er sieh um sein Gepäck und ein Hotelzimmer kümmern.

Aber die Nummern der Autobuslinien hatten sich während seiner Abwesenheit geändert, und er fragte einen Schaffner, mit welcher Linie er zum Waterloo-Bahnhof kommen könnte.

Als er Antwort erhalten hatte, sah er, daß Evelyn Rolands aus dem Hotel trat. Ob sie auch einen Autobus nehmen wollte? Vorsichtig ging er die Straße weiter hinauf und stellte sich in einen Hauseingang. Wieder näherte sich ein Wagen der Haltestelle. Es war der Autobus, den auch er benützen mußte. Fast die Hälfte der Wartenden stieg ein, unter ihnen auch Evelyn Rolands.

Carley sprang im letzten Augenblick noch auf. Er hatte beobachtet, daß sie nach oben gegangen war, und blieb unten. Sitzplätze waren nicht mehr frei, und er stellte sich unter die Treppe, so daß sie ihn nicht sehen konnte, wenn sie herunterkam. Zufällig bot sich ihm eine günstige Gelegenheit, und er konnte der Versuchung nicht widerstehen, Miß Rolands wieder zu folgen.

Die Fahrt dauerte fast eine Viertelstunde, und er war gespannt, welches Ziel Evelyn hatte.

An der Ecke der Old Bond Street stieg sie aus. Auch mehrere andere Leute verließen den Wagen, und es gelang ihm, unbemerkt zu folgen.

Die Gegend kannte er gut, denn er hatte früher in dem Haus seines Onkels in der Bruton Street gewohnt.

Miß Rolands ging etwa zwanzig bis dreißig Meter vor ihm die Old Bond Street hinauf. Sie schien es ziemlich eilig zu haben. Mit wem mochte sie nur verabredet sein?

Ungefähr vierhundert Meter ging sie geradeaus, dann aber staunte er, als sie plötzlich in die Bruton Street einbog. In dieser wenig belebten Straße mußte er sich in acht nehmen, wenn er nicht gesehen werden wollte. Rechts lag das Haus seines Onkels, und er traute seinen Augen kaum, als sie davor anhielt und einen Schlüssel aus ihrer Handtasche nahm. Dann ging sie durch einen Seitengang zu einer Nebentür.

Was hatte das zu bedeuten? Er wußte nicht, ob er wachte oder träumte. Als er sie im Zug und nachher im Hotel um ein Wiedersehen gebeten hatte, war sie sonderbar zurückhaltend und ausweichend gewesen. Wußte sie vielleicht, wer er war? Hatte sein Onkel über ihn gesprochen?

Unruhig ging er auf und ab und sah nach der bekannten Fassade hinüber. In der Mitte sprang sie etwas vor, dahinter lag die große Halle, die durch zwei Geschosse ging und die Haupttreppe zum oberen Stock enthielt. Sie war dunkel, das sah er deutlich an der Öffnung über der Haustür und den oberen Fenstern. Aber im rechten Eckraum des Obergeschosses brannte Licht. Die Vorhänge waren vorgezogen, aber die Läden nicht geschlossen.

Plötzlich flammte für kurze Zeit das Licht in der Halle auf.

Jim blieb stehen und sah nach den beiden Fenstern empor. Unwillkürlich faßte er in die Tasche, aber dann besann er sich, daß er den Hausschlüssel zur Seitentür nicht bei sich hatte. Der mußte irgendwo in einem Koffer liegen.

Wieder ging er auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab, dann schaute er auf die Uhr. Es war halb sechs.

Eigentlich harte er gleich nach seiner Ankunft in London seinen Onkel aufsuchen wollen, aber es war anders gekommen. Die Bekanntschaft mit Miß Rolands hatte sein ganzes Interesse in Anspruch genommen. Aber warum sollte er nicht jetzt die Gelegenheit wahrnehmen? Vielleicht hatte es so sein sollen. – Oder würde es bei Evelyn Rolands einen zu sonderbaren Eindruck machen, wenn er jetzt unversehens wieder auftauchte?

Er überlegte noch einige Minuten, schließlich ging er zur Haustür und klingelte.

Es dauerte kurze Zeit, dann wurde es hell in der Halle, und er hörte, daß jemand die Treppe herunterkam. Ein Diener, wahrscheinlich der Butler, öffnete ihm. Carley kannte den Mann nicht, der vermutlich während seiner Abwesenheit eingestellt worden war.

»Ich möchte Sir Richard sprechen«, sagte er, nahm eine Karte aus seiner Brieftasche und reichte sie ihm.

»Es tut mir sehr leid – er ist nicht zu Hause.«

»Kommt er bald zurück? Kann ich vielleicht auf ihn warten?«

Der Butler betrachtete ihn sonderbar.

»Das hat wohl keinen Zweck. Sir Richard kommt wahrscheinlich erst spät zurück.«

Carley hatte den Eindruck, daß der Mann ihm nicht die Wahrheit sagte. Aber welchen Grund mochte der nur dazu haben?

»Ich bin sein Neffe.«

Es tat ihm aber sofort leid, daß er diese Bemerkung gemacht hatte.

Der Mann zuckte die Schultern.

»Das ändert auch nichts an der Tatsache, daß Sir Richard vorläufig nicht zurückkommt. Es tut mir leid, Mr. Carley.« Damit schloß er die Haustür wieder.

Jim war über diese Abweisung verärgert, aber schließlich sollte er ja Evelyn Rolands um acht Uhr wiedersehen. Vielleicht erklärte sie ihm, warum sie in das Haus seines Onkels gegangen war.

Inzwischen konnte er die Zeit ausnützen, ein Zimmer in einem Hotel nehmen und sein Gepäck dorthin bringen. Der Gedanke lenkte ihn ab. Bald saß Carley in einem Autobus, der nach Osten fuhr, und später stieg er in einen anderen Wagen um, der ihn zum Bahnhof brachte.

Eigentlich hatte er damit gerechnet, daß er wieder bei seinem Onkel wohnen könnte. Er läutete im Arundel-Hotel an, das am Themse-Ufer lag, und nachdem er erfahren hatte, daß noch Zimmer frei waren, fuhr er mit seinem Gepäck dorthin.


 << zurück weiter >>