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2.

Carley saß allein in einem Abteil zweiter Klasse und war in trüber, fast verbitterter Stimmung. Nur unter schweren Opfern hatte er diese Reise von Rangun vor Abschluß seines ersten Vertrages möglich gemacht, und nun stellte sich ihm ein Hindernis nach dem anderen entgegen.

Zu allem Unglück war heute auch noch Sonntag! In London konnte man an diesem Tag sowieso nichts erreichen. Hoffentlich wurde ihm wenigstens morgen die Kiste ausgeliefert.

Obwohl die Jahreszeit schon weit vorgeschritten war, herrschten noch nicht die üblichen Nebel, und die englische Landschaft strahlte in hellem Sonnenschein. Carley sah einige Zeit zum Fenster hinaus. Er hatte sich darauf gefreut, saubere Dörfer, stattliche Einzelgehöfte und weite, grüne Rasenflächen mit friedlich weidenden Schafherden zu sehen, aber jetzt fehlten ihm Andacht und Ruhe dazu. Immer wieder grübelte er über die großen Pläne nach, die er ausführen wollte und die so vielversprechend begonnen hatten.

Warum hatte nur Sir Richard Richmond, sein Onkel und einziger Verwandter, nicht auf den letzten dringenden Brief geantwortet?

Das häufige Anhalten des Zuges machte die Fahrt langweilig. Jetzt war es zwei Uhr. Wenn er den Anschluß nicht versäumt hätte, könnte er jetzt längst in der Hauptstadt sein und wahrscheinlich seinen Onkel sprechen. Wohl hatte ihm Mr. Stetson, der Rechtsanwalt Sir Richards, höflich, kühl und geschäftlich auf sein Schreiben erwidert, aber damit waren die wichtigen Entscheidungen, die Carley brauchte, nicht getroffen worden.

Das gleichmäßig rollende Geräusch der Eisenbahnwagen und die taktmäßigen Stöße wirkten schließlich doch beruhigend auf ihn. Er überdachte noch einmal, was er seinem Onkel sagen wollte. Solch eine glückliche Entdeckung machte doch unter vielen tausend Ingenieuren in langen Jahren höchstens einmal einer! Und Sir Richard war zuerst freudig, ja begeistert auf die Pläne eingegangen. Carley verstand nicht, warum der Mann plötzlich eine Weltreise machen mußte, wie Stetson geschrieben hatte.

Birma lag aber auch wirklich zu weit aus der Welt. Wieviele Wochen vergingen, bevor ein Brief nach England gelangte und beantwortet wurde! Trotz der schnellen Postflugzeuge dauerte es noch immer empfindlich lange, bis man sich einmal mit London verständigen konnte.

Aber jetzt würde er ja Sir Richard sehen, und es wurde hoffentlich noch alles gut. Immerhin war es höchste Zeit, daß die Kautionssumme gezahlt wurde, sonst verfielen alle Rechte.

Als plötzlich die Tür des Abteils geöffnet wurde, fuhr er aus seinen Grübeleien auf und sah eine kleine Hand, die eine leichte Reisetasche hielt. Schnell erhob er sich, um der jungen Dame behilflich zu sein und ihr den Koffer abzunehmen, aber schon hatte sie sich gewandt über die hohen Tritte ins Abteil geschwungen und das Gepäckstück im Netz untergebracht. Dann setzte sie sich ihm gegenüber in die Ecke, und der Schaffner warf die Tür zu. Ein Pfiff, und der Zug fuhr wieder weiter.

Unwillkürlich betrachtete Carley seine Reisegefährtin, und auf den ersten Blick war er von ihrer Erscheinung gefangengenommen. Ihre dunkelbraunen Augen blickten ruhig und sicher, und ihre Persönlichkeit strahlte jugendliche Frische aus. Sie mochte einundzwanzig sein und trug ein einfaches braunsamtenes Kostüm und eine Kappe aus demselben Stoff, unter der braunlockiges Haar hervorschaute.

»In welcher Station waren; wir eben?« fragte er, um eine Unterhaltung zu beginnen.

»Das war Guildford«, erwiderte sie liebenswürdig und sah ihn so freundlich an, daß er seine Sorgen ganz vergaß.

Jim Carley war ein gewandter Gesellschafter, aber im Augenblick fiel es ihm schwer, das Gespräch fortzuführen. Er schaute aus dem Fenster und schien wieder in Nachdenken zu versinken.

Interessiert betrachtete sie sein kühngeschnittenes, sonnengebräuntes Gesicht, dem tiefblaue Augen und schwarzes Haar einen eigenartigen Reiz gaben. Aber ein bitterer Zug um den Mund sprach von Enttäuschungen.

»Sie kommen wohl von einer weiten Reise?« fragte sie.

Er schaute sie erstaunt an, aber dann wurde ihm plötzlich klar, daß sie die Aufklebezettel des Dampfers auf seinem Gepäck gelesen haben mußte.

Nun kamen sie bald in eine lebhafte Unterhaltung. Er erzählte ihr von Land und Leuten in Birma, von den goldenen, märchenhaften Tempelbauten in Rangun und den stimmungsvollen religiösen Feiern.

Begeistert und aufmerksam, hörte sie zu. Er schilderte so anschaulich, daß sie die ehernen, bronzenen Tempelglocken und den wunderbaren Wohllaut der Gebete buddhistischer Priester zu hören glaubte.

Wie im Flug verging die Zeit.

Wieder hielt der Zug.

»Wimbledon!« rief der Schaffner.

»Noch ein paar Stationen, dann sind wir in London«, sagte Carley fast traurig.

»Ja, es ist schade, daß die Fahrt schon zu Ende geht«, erwiderte sie mit einem leisen Seufzer. »Sie erzählen so schön, daß ich Ihnen noch stundenlang zuhören könnte. Wie gern würde ich all diese Herrlichkeiten auch einmal persönlich sehen!«

»Solch ein Besuch ist doch bei unseren modernen Verkehrsmitteln nicht mehr unmöglich.«

Plötzlich hatte er den Wunsch, ihr alle Wunder und Schönheiten des Landes zu zeigen. Sie hatte ihm so dankbar zugehört, und er hatte sich in ihrer Gegenwart zufrieden und glücklich gefühlt. Gern wäre er näher mit ihr bekanntgeworden, um sie wiedersehen zu können.

»Ich heiße Jim Carley – würden Sie mir auch Ihren Namen sagen?«

»Evelyn Rolands«, entgegnete sie offen.

Durfte er sie wohl um ein Wiedersehen am Abend bitten und sie zum Essen einladen? Aber durch einen solchen Vorschlag mochte das gute Einvernehmen, zwischen ihnen getrübt werden, und so schwieg er.

Sie erzählte ihm, daß sie zum Wochenende ihre Mutter in Guildford besucht hatte.

»Sie selbst wohnen aber in London?«

»Ja. Seit einiger Zeit.«

Der Zug hielt in Vauxhall. Noch zwei Minuten, dann kamen sie auf dem Waterloo-Bahnhof an.

»Darf ich Sie um einen großen Gefallen bitten?« fragte Carley und schob entschlossen alle Bedenken beiseite.

»Ja, ich erfülle Ihnen gern einen Wunsch, wenn es mir möglich ist«, entgegnete sie und sah ihn fragend an.

»Würden Sie heute noch ein paar Stunden mit mir verbringen? Es tut so wohl, wenn man nach einem langen Aufenthalt in den Tropen nach England zurückkommt und gleich einen Menschen findet, mit dem man sich gut versteht.«

Es war, als ob ein Schatten über ihr Gesicht fiele.

»Das geht leider nicht – ich bin schon verabredet.«

Diese Worte ernüchterten ihn. Wie konnte er auch annehmen, daß ein so schönes junges Mädchen noch frei war? Trotzdem wollte er die Verbindung mit ihr nicht verlieren.

»Ich weiß noch nicht, wo ich wohnen werde. Wenn Sie heute keine Zeit haben, könnten wir uns vielleicht an einem der nächsten Tage treffen? Bitte, schreiben Sie mir postlagernd nach King's Cross.«

»Vielleicht.«

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Carley nahm ihre Handtasche aus dem Gepäcknetz und half ihr beim Anziehen ihrer Kostümjacke. Sie dankte ihm freundlich und sagte noch etwas, aber bei dem Geräusch, das der haltende Zug machte, verstand Carley nicht, ob es ein Lebewohl oder »Auf Wiedersehen« war. Schnell hob er auch seine eigenen Koffer herunter und winkte einem Träger, der zufällig vor dem Abteil stand.

Als sie die Tür öffnete, reichte er ihr die Hand zum Abschied, aber sie sah es nicht und nickte nur noch einmal, dann stieg sie aus.

Diesmal hatte er mehr Glück als bei der Ankunft des Dampfers. In wenigen Sekunden war er auf dem Weg zur Sperre, und deutlich konnte er Miß Rolands etwa zwanzig Meter vor sich in der Menge sehen. Plötzlich faßte er einen Entschluß, nahm dem Träger einen Koffer ab und trieb ihn zur Eile an, so daß er aufholte und näher an sie herankam.

»Ich möchte das Gepäck auf dem Bahnhof lassen. Wo ist die Aufbewahrung?«

Trotz aller Eile wurde er aufgehalten, da noch mehrere Leute vor ihm am Schalter standen. Endlich hatte er den Träger bezahlt und ging mit großen Schritten vor den Bahnhof. Aber so aufmerksam er sich auch umschaute, er konnte Evelyn Rolands nicht mehr sehen.


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