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14.

»Geben Sie mir doch einmal die Protokolle«, sagte der Inspektor zu Sergeant Belling, als Pemberton und Ria Bonati gegangen waren.

Schnell überflog er die Seiten.

»Zunächst müssen wir den Widerspruch aufklären, der zwischen den Aussagen von Miß Bonati und Mr. Carley besteht.«

»Vielleicht ist es nur ein scheinbarer Widerspruch«, erwiderte Belling.

»Das werden wir ja gleich sehen. Rufen Sie Mr. Carley.«

Als Jim ins Zimmer trat, musterte Crawford ihn. Auch Belling schaute besorgt zu ihm hinüber. Das lange Warten in dem Speisezimmer hatte Carley noch unruhiger gemacht, und er sah auffallend bleich aus.

Der Inspektor lud ihn mit einer Handbewegung ein, am Tisch Platz zu nehmen.

»Sie sagten vorhin, daß Sie heute abend Ihren Onkel aufsuchen wollten, um ihn zur Rede zu stellen.«

»So scharf habe ich mich gerade nicht ausgedrückt, aber es war mein dringender Wunsch, eine Aussprache über die schwebenden Fragen herbeizuführen. Vorher hatte ich eine lange Unterredung mit Sergeant Belling in Scotland Yard gehabt, der mich in meinem Entschluß bestärkte.«

»Haben Sie sich mit Sir Richard darüber verständigt, daß Sie kommen wollten?«

»Nein.«

»Haben Sie auch nicht indirekt mit ihm Fühlung genommen, so daß er von Ihrer Absicht unterrichtet war?«

»Nein, ich habe mich weder direkt noch indirekt mit ihm in Verbindung gesetzt.«

»Kennen Sie Miß Ria Bonati?«

»Nein.«

»Aber Sie kennen sie doch dem Namen nach?«

»Vor meiner Rückkehr nach England habe ich ihren Namen nie gehört.«

»Ich habe Mr. Carley auf seine Fragen hin heute nachmittag Verschiedenes über sie erzählt«, warf Belling ein.

»Sie war eben hier und teilte uns mit, daß sie mit Sir Richard verlobt wäre. Im Lauf der Vernehmung sagte sie uns auch, daß er heute abend eigentlich mit ihr in die Oper hatte gehen wollen. Er hätte sich aber bei ihr damit entschuldigt, daß er eine wichtige Besprechung mit seinem Neffen hätte, der eben aus Birma zurückgekehrt wäre. Das kann doch kein anderer sein als Sie? Wie erklären Sie sich das?«

»Es ist mir unverständlich – nach allem, was ich von dem Butler gehört habe.«

»Haben Sie eigenes Vermögen?«

»Persönlich besitze ich nur geringe Mittel. Mein Vater hat mir nichts hinterlassen, aber ich habe mir während meines Aufenthalts in Birma etwas gespart. Es sind allerdings nicht mehr als tausendfünfhundert Pfund.«

»Das ist alles, danke. Sie können wieder ins Speisezimmer gehen.«

Carley erhob sich und verließ das Zimmer.

»Ich kann mir nicht denken, daß Miß Bonati die Sache aus der Luft gegriffen hat. Ihre Aussage paßt zu gut in den ganzen Zusammenhang«, sagte Crawford.

»Immerhin steht die Aussage Ria Bonatis den Worten Carleys gegenüber, und ich persönlich halte ihn für zuverlässiger.«

Der Inspektor griff nach der Brieftasche, die Miller ihm gegeben hatte, und klappte sie auf. Rechts sah er einen dicken Stoß Banknoten und nahm sie heraus. Es waren Hundert- und Fünfzigpfundnoten – im ganzen viertausend Pfund. Auf der anderen Seite fand er einen Paß, verschiedene kleine Geldscheine und mehrere Schriftstücke. Der Paß lautete auf Sir Richard Richmond, was auch durch die beigefügte Photographie bestätigt wurde.

»Das ist allerdings ein starkes Stück! Miller behauptete doch, er hätte die Brieftasche unten im Flur gefunden! Klingt sehr unwahrscheinlich.«

»Mir ist Miller gleich verdächtig vorgekommen«, entgegnete Belling.

»Sein vorlautes Wesen hat auch auf mich einen schlechten Eindruck gemacht.«

»Außerdem hat er sofort Carley des Mordes bezichtigt, als ob er den Verdacht von sich abwälzen und auf einen anderen lenken müßte.«

»Ja, die Sache sieht sonderbar aus, aber wir müssen uns vor voreiligen Schlüssen hüten. Zunächst ist es doch merkwürdig, daß Sir Richard soviel Geld in seiner Brieftasche herumgetragen hat. Dann muß aufgeklärt werden, wie sie unten in den Flur kommt, denn ich nehme nicht an, daß er die Hintertreppe benützt hat. Er wird doch wahrscheinlich durch die Halle gegangen sein, in der die Haupttreppe liegt.«

»Wenn Miller das Geld gestohlen hat, wäre ein Motiv für ihn gefunden. Es ist ja auch nicht ausgeschlossen, daß er der Täter ist. Vielleicht glaubte er, daß er mit seinem Herrn allein im Hause war, als er früher aus dem Kino zurückkehrte. Es mochte ihm bekannt sein, daß Sir Richard eine größere Summe von der Bank abgehoben hatte. Die Versuchung war zu stark für ihn, und er wollte sich das Geld aneignen.

Nach allem, was wir bisher wissen, kann er sich ins Arbeitszimmer geschlichen haben, um sein Vorhaben auszuführen. Dabei kommt es zu einem Zusammenstoß zwischen ihm und seinem Herrn. Er schießt Sir Richard nieder und nimmt die Brieftasche. Aber im selben Augenblick klingelt Carley an der Tür. Miller ist verwirrt und verläßt das Arbeitszimmer; vielleicht versteckt er sich irgendwo im Haus und hofft, daß der Besucher wieder geht. Unerwartet öffnet aber Carley mit seinem Schlüssel die Nebentür und benützt die Hintertreppe. Miller ist bestürzt und wartet, bis Carley ins Arbeitszimmer tritt, dann schleicht er sich auf die Nebentreppe hinaus, tut so, als ob er von seinem Zimmer im oberen Stock herunterkäme, und überrascht Carley. Ein normaler Mensch hätte doch wahrscheinlich erst Carley gefragt, wie er hereingekommen wäre. Statt dessen ruft Miller: ›Sie haben ihn ermordet!‹ und stürzt davon, um die Polizei zu holen.

Dieses seltsame Verhalten des Mannes und seine Aufregung erscheinen mir sehr verdächtig.«

»Was Sie eben sagten, läßt sich hören. Mir sind selbst ähnliche Gedanken gekommen. Aber dagegen spricht doch, daß Miller die gestohlene Brieftasche einsteckte und bei sich trug. Man sollte doch vermuten, daß er vor allem das Geld versteckt hätte und es nicht in unserer Gegenwart aus der Tasche ziehen würde.«

»Ja, aber er war doch dauernd mit Leuten zusammen. Außerdem erschrak er heftig, als es klingelte und später Carley ins Haus kam. Er hatte doch keine Ahnung, daß Carley einen eigenen Schlüssel zur Seitentür besaß.«

»Auf jeden Fall wollen wir ihn sofort danach fragen. Rufen Sie ihn bitte.«

Der Butler trat bleich und nervös ein und sah den Inspektor unsicher an.

»Wußten Sie, daß Miß Rolands um halb neun ins Haus kam?« fragte Crawford.

»Nein.«

»Also glaubten Sie, daß außer Ihnen und Sir Richard sich niemand im Haus befände?«

»Ja.«

»Wissen Sie, was hierin ist?« Der Inspektor legte die Hand auf die Brieftasche.

»Nein. Ich hatte ganz vergessen, daß ich sie eingesteckt hatte. Erst als Sie mich nach meinem Arbeitsausweis fragten, fühlte ich sie wieder in meiner Tasche.«

»Wem gehört sie denn?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Miller nach einem kurzen Zögern. Seine Worte klangen nicht überzeugend.

»Haben Sie die Tasche wirklich unten an der Treppe gefunden?«

»Ja«, entgegnete Miller jetzt bestimmt.

»Es ist die Brieftasche von Sir Richard, und darin befinden sich viertausend Pfund in großen Banknoten. Wahrscheinlich haben Sie gewußt, daß er soviel Geld bei sich hatte, und da Sie glaubten, allein mit ihm im Haus zu sein, schlichen Sie in sein Zimmer. Es kam zu einer Auseinandersetzung. Sie schossen ihn nieder und nahmen das Geld.«

Miller starrte den Inspektor entsetzt an.

»Nein – nein: – das ist nicht wahr – ich habe es nicht getan!«

»Wie wollen Sie denn Ihre Unschuld beweisen?«

»Ich war oben in meinem Zimmer und las. Ich hatte mich ausgezogen und lag im Bett.«

»Belling, schicken Sie Armstrong nach oben. Er soll nachprüfen, ob die Angaben des Butlers stimmen.«

»Ich schwöre es Ihnen – ich habe die Wahrheit gesagt – ich bin es nicht gewesen!« rief Miller außer sich.

»Das haben Sie schon einmal beteuert, aber ich wiederhole: Wie wollen Sie Ihre Unschuld beweisen?«

»Mabel Denver und die Köchin waren dabei, als ich die Tasche unten im Flur fand.«

»Wir werden die beiden später fragen. Aber wie soll denn die Tasche an den Fuß der Nebentreppe kommen? Nehmen Sie etwa an, daß Sir Richard dorthin gegangen ist und sie fortgeworfen hat?«

Miller schwieg.

»Rufen Sie bitte Longfellow, Belling. Er soll den Butler in die Bibliothek bringen und dort bewachen lassen.«

Der Sergeant rief den Beamten, und Miller folgte ihm gebrochen. An der Tür wandte er sich noch einmal um.

»Ich bin unschuldig, ich habe es nicht getan!« sagte er, den Tränen nahe.

Longfellow legte ihm die Hand auf die Schulter und führte ihn hinaus.

»Es hilft nichts. Wir müssen die Köchin und die hübsche Mabel noch einmal stören«, wandte sich Crawford an Belling.

Der Sergeant ging hinaus und kam gleich darauf wieder.

»Die Sache mit der Brieftasche ist wirklich sonderbar, selbst wenn Miller uns die Wahrheit gesagt hat«, meinte der Inspektor.

Belling nickte, erwiderte aber nichts.

Es klopfte an der Tür, und Armstrong meldete sich.

»Ich war oben. Das Licht brannte noch, und auf dem Boden fand ich einen Kriminalroman. Jemand hat in dem Bett gelegen und die Decke zurückgeschlagen. Der Stuhl vor dem Bett war umgestoßen.«

»Es ist gut. Dadurch werden seine Aussagen allerdings bestätigt.«

Kurze Zeit später wurde die Köchin hereingeführt, und Crawford bot ihr einen Stuhl an.

»Ich war so aufgeregt, daß ich mich noch nicht schlafen gelegt habe«, erklärte sie.

»Ich muß Sie noch etwas fragen«, entgegnete der Inspektor. »Als Sie heute aus dem Kino zurückkamen, klingelten Sie doch an der Nebentür. Hatten Sie denn keinen Schlüssel?«

»Nein. Wir hatten uns umgezogen und den Schlüssel vergessen. Ich sagte auch gleich zu Mabel –«

»Miller kam dann nach unten und öffnete Ihnen die Tür?«

»Ja. Ich wunderte mich, daß er kein Licht machte.«

»Haben Sie bemerkt, daß er etwas aufgehoben hat?«

»Nein. Aber er sagte, wir sollten das Licht andrehen, und dann zeigte er uns eine Ledertasche. Im Dunkeln habe ich nicht gesehen, daß er sich danach gebückt hat.«

»Polizist Granter sagte, er hätte gehört, daß Sie sich unten an der Tür mit dem Butler unterhielten. Haben Sie sonst noch etwas miteinander besprochen?«

»Nein. Er hat uns nicht einmal gesagt, daß Sir Richard ermordet wurde.«

Crawford ließ darauf die Köchin wieder gehen und das Zimmermädchen kommen.

Mabel Denver war aufgeregter als vorher.

»Als Sie vom Kino zurückkehrten und klingelten, öffnete Ihnen Miller die Tür?«

»Ja.«

»Brannte das Licht im Flur, als Sie eintraten?«

»Ja – nein –« erwiderte sie verwirrt.

»Was meinen Sie denn – brannte das Licht oder brannte es nicht?«

»Zuerst war es dunkel, aber dann fand der Butler etwas und sagte, wir sollten Licht machen.«

»Hat er Ihnen seinen Fund gezeigt?«

»Ja. Ich weiß auch, daß er sich gebückt und etwas aufgehoben hat.«

»Woher wissen Sie das?«

Mabel wurde verlegen.

»Er ging dicht neben mir und hielt meine Hand. Aber plötzlich ließ er sie los und bückte sich.«

»Und nachher sind Sie sofort mit ihm nach oben gegangen?«

»Ja.«

»Das wäre alles. Sie können wieder gehen.«

Sie war froh, daß sie das Zimmer verlassen konnte.

»Der Butler scheint also doch die Wahrheit gesagt zu haben. Jedenfalls liegt nicht genügend Material gegen ihn vor, daß wir ihn verhaften können.«

»Aber meiner Meinung nach ist der Verdacht gegen ihn noch nicht ganz entkräftet. Es ist doch möglich, daß Mabel Denver in ihn verliebt ist und zu seinen Gunsten aussagt.«

»Sie hatten kaum Zeit, miteinander darüber zu reden. Immerhin gebe ich zu, daß ein gewisser Verdacht gegen ihn bestehen bleibt. Aber es ist nicht mehr nötig, den Mann bewachen zu lassen.«


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