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25.

Als der Inspektor mit Belling zum Polizeipräsidium zurückkehrte, wurde ihm gemeldet, daß inzwischen Rechtsanwalt Stetson zweimal angerufen hatte, ebenso Ria Bonati. Außerdem war Miß Evelyn Rolands persönlich im Amt gewesen, um ihn zu sprechen.

»Man müßte sich in zwanzig Teile zerschneiden können, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Es tut mir leid, daß ich diese Anrufe und den Besuch versäumt habe, denn mit allen habe ich noch eingehend zu sprechen, vor allem auch mit Professor Haviland, der doch den Toten identifiziert hat. Was nützen alle Professorentitel, wenn er solchen Unsinn macht, und wenn ihm solche Irrtümer unterlaufen!«

Crawford setzte sich an den Schreibtisch und arbeitete mit Belling alle kleinen Nebenfragen aus, die sich aus der Untersuchung ergeben hatten.

Aber sie blieben nicht lange ungestört, denn ein Beamter trat ein und meldete, daß Polizist Granter den Inspektor dringend sprechen wollte.

»Der will wahrscheinlich auch nach Scotland Yard versetzt werden und hofft, bald Chef der Kriminalpolizei zu sein. Der junge Mann ist ja noch reichlich naiv. Aber lassen Sie ihn ruhig hereinkommen, er kann auch einmal vor den goldenen Stufen meines Thrones erscheinen.«

»Sie sind ja in so guter Stimmung – haben Sie denn eine wichtige Entdeckung gemacht?«

Belling kannte seinen Vorgesetzten. Crawford mußte zu wichtigen Schlußfolgerungen gekommen sein, wenn er so ausgelassen scherzte.

Gleich darauf trat Granter ein. Er kam aber nicht in Uniform, sondern hatte seinen besten Zivilanzug angelegt. Zunächst blieb er schüchtern an der Tür stehen und stand stramm.

»Kommen Sie schon näher, ich beiße Sie nicht. Was kann ich denn für Sie tun?« fragte Crawford gutgelaunt.

»Ich möchte eine Meldung machen.«

»Das tun Sie am besten auf Ihrem Revier siebenundsechzig.«

»Verzeihen Sie, Inspektor, aber ich glaube, die Meldung ist für Sie sehr wichtig.«

»Nun gut, dann wollen wir dieser Meldung unser geneigtes Ohr schenken.«

Granter begriff nicht, was Crawford damit sagen wollte, und sah ihn verstört und ratlos an.

»Also, erzählen Sie nur, was Sie zu sagen haben.«

»Ich war gestern bei der Verhandlung der Totenschau«, begann Granter.

»Ja, ich habe Ihre Anwesenheit bemerkt.«

Granter wurde rot. Warum redete der Inspektor heute nur so merkwürdig?

»Nun, fahren Sie ruhig fort«, sagte Belling, der ein mitfühlendes Herz hatte.

»Unter den Zeugen wurde auch eine schöne Dame vernommen – sie hieß Ria Bonati.«

»Das stimmt.«

»Das war die Frau, die am Montagabend um neun Uhr in das Haus in der Bruton Street eindringen wollte!«

Crawford lehnte sich zurück und war starr vor Staunen.

»Aber Mann, warum haben Sie denn das nicht gleich gestern bei der Verhandlung gesagt?«

»Ich habe mich nicht getraut. Auch wußte ich nicht, wie ich das machen sollte.«

»Aber Sie haben doch einen Mund – Sie können doch reden! Nun, es ist gut, daß Sie wenigstens jetzt den Mut gefunden haben, mir das anzuvertrauen. Das ist natürlich sehr wichtig.«

Crawford hieß sich von Granter noch einmal ausführlich seine Beobachtungen schildern, aber es kam nicht viel Neues dabei heraus. Um ihn wenigstens einigermaßen zu belohnen und aufzumuntern, bot er ihm eine Zigarre an und lobte ihn, worauf der Mann hochbeglückt das Polizeipräsidium wieder verließ.

»Jetzt sieht die Sache allerdings ganz anders aus. Ich hatte schon immer erwartet, daß uns der Himmel noch zuhilfekommen würde. Wenn dieser Maxwell auch ein gemeiner Verbrecher war und den Tod wahrscheinlich reichlich verdiente, sind wir doch dazu angestellt, seinen Mörder zur Bestrafung zu bringen.

Belling, nehmen Sie die Protokolle heraus. Wiederholen Sie noch einmal die Zeiten um neun Uhr herum, die bis jetzt festliegen.«

»8.59. Eine unbekannte Dame wird von Polizist Granter an der Haustür beobachtet. Sie verschwindet im Seitengang, vermutlich, um ins Haus zu gehen.
9.00. Miß Rolands sieht auf die Uhr und faßt den Entschluß, um 9.15 zu gehen, wenn Sir Richard bis dahin nicht gekommen sein sollte.
9.05. Ende des kurzen Telephongesprächs zwischen Anwalt Stetson und dem vermeintlichen Sir Richard.
9.06. Miß Rolands hört ein dumpfes Geräusch, vielleicht den Fall eines Körpers.
9.07. Jim Carley klingelt unten an der Tür, worauf er durch den Seiteneingang ins Haus geht und den vermeintlichen Sir Richard im Arbeitszimmer auffindet.
Klingeln wird von Miß Rolands in der Bibliothek und von Butler Miller in seinem Zimmer gehört.
9.10 . Butler Miller begegnet Jim Carley in der Tür, die von der Galerie ins Arbeitszimmer führt.«

»Das paßt ausgezeichnet. Vielleicht hat sie sich eingeschlichen. Maxwell hörte sie nicht, weil er gerade mit Stetson ein unangenehmes Telephongespräch führte. Neun Uhr fünf tritt sie ihm im Arbeitszimmer entgegen, genau drei Minuten später erscheint Carley auf der Bildfläche. Bis dahin hatte sie reichlich Zeit, Maxwell niederzuschießen. Als sie Carley hört, versteckt sie sich und schleicht sich während der ersten Aufregung nach der Entdeckung des Mordes aus dem Haus.«

»Das würde eine zu gute Lösung sein«, meinte Belling.

»Warum soll das Schicksal nicht auch einmal einem armen Polizeibeamten gnädig sein und ihm eine gute Lösung zeigen?«

»Jedenfalls wird die große Göttin jetzt von ihrem Thron heruntersteigen müssen. Wir haben sie nun in der Hand.«

Ein Beamter meldete, daß Rechtsanwalt Stetson den Inspektor sprechen wollte.

»Ich lasse bitten. Da gibt es wieder zu protokollieren, Belling.«

»Nun, was verschafft uns das Vergnügen?« fragte Crawford liebenswürdig, nachdem er und Belling den Anwalt begrüßt hatten.

»Ich dachte, daß sich nach den Enthüllungen von gestern neue Schwierigkeiten ergeben würden, und ich möchte gern helfen, alles aufzuklären.«

»Bitte, nehmen Sie Platz.«

Stetson ließ sich auf dem Ledersessel neben dem Schreibtisch nieder.

»Ich kann es immer noch nicht recht glauben«, sagte er. »Der Mann soll nicht Sir Richard sein! Und wie glänzend haben Sie die Annahme eines Selbstmordes widerlegt. Zu diesem Erfolg möchte ich Ihnen noch nachträglich gratulieren.«

Crawford verneigte sich leicht und lächelte.

»Mit Tatsachen muß man sich abfinden«, entgegnete er.

»Ich vermute, daß Sie inzwischen schon an der Aufklärung des Rätsels gearbeitet haben. Darf ich vielleicht fragen, ob Sie bereits wissen, wer der Tote eigentlich ist?«

»Es lag ja nahe, daß wir es mit einem Verbrecher zu tun hatten.«

»Ja – das wurde mir gestern auch sofort klar.«

»Wir konnten ihn nach seinen Fingerabdrücken feststellen – es war ein alter Bekannter der Polizei.«

Crawford berichtete nun, was der Erkennungsdienst festgestellt hatte.

»Und was schließen Sie daraus?«

»Das liegt doch auf der Hand. Wir vermuten, daß Maxwell Sir Richard auf der Reise ermordet hat. Eine andere Schlußfolgerung bleibt doch gar nicht übrig.«

Stetson nickte befriedigt.

»Ja. Vielleicht läßt sich damit auch das sonderbare Verhalten erklären. Professor Haviland hatte mir vorher fast sicher zugesagt, daß die Reise den Zustand Sir Richards bessern würde, und wir waren beide erstaunt, als das Gegenteil eintrat. Immerhin versuchten Professor Haviland und ich, uns die Sache auf andere Weise zu erklären. Sir Richard befand sich im gefährlichen Alter. Schließlich konnte man sich auch denken, daß die Bonati eine leichte Hand im Geldausgeben hatte und hauptsächlich für die Verschwendung verantwortlich war.«

»Welchen Eindruck hat denn der angebliche Sir Richard auf Sie gemacht?«

»Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich nach allem den Eindruck hatte, daß er mir aus dem Weg ging. Ich mußte ihn dauernd ermahnen, und dadurch trat ein recht gespanntes, beinahe feindseliges Verhältnis zwischen uns beiden ein. Eine so lange Seereise verändert natürlich auch das Aussehen eines Menschen. Als ich ihn zum erstenmal sah, war er tiefgebräunt von der Sonne, hatte tiefere Falten im Gesicht und war gealtert, aber das schrieb ich dem ausschweifenden Leben zu, das er meiner Meinung nach geführt hatte. Es fiel mir auf, daß seine Augen eine etwas hellere Farbe hatten. Das ist aber eine medizinische Tatsache. Solche Änderungen kann die Tropensonne oder die Höhensonne der Berge bewirken. Ich habe das selbst während einer Schweizer Reise beobachtet.«

»Haben Sie sonst keine Veränderungen an ihm bemerkt?«

»Doch, auch der Blick war anders. Manchmal erschien er mir glühend gehässig, beinahe fanatisch, dann wieder lustlos und gleichgültig. Das habe ich mir natürlich alles erst hinterher klargemacht. Sir Richard hatte immer einen festen, sicheren Blick, der sich gleichblieb.«

»Aber klang Ihnen denn die Stimme nicht fremd?«

Stetson dachte einen Augenblick nach.

»Nein, eigentlich nicht. Aber wenn ich es mir jetzt überlege, sprach der falsche Sir Richard ausdrucksvoller, modulierter. Aber auch darauf bin ich nicht gleich gekommen.«

»Welches Personal war eigentlich bei der Abreise von Sir Richard im Hause?«

»Die Sekretärin Valery Ferguson – die haben Sie ja gestern kennengelernt. Außerdem waren noch ein Butler, ein Zimmermädchen und eine Köchin im Hause, genau wie jetzt. Da die Reise ursprünglich auf sechs Monate berechnet war, hatte es keinen Zweck, während der ganzen Zeit das Personal durchzuhalten.«

»Darin gebe ich Ihnen recht. Wie hieß denn der Butler?«

»Ich glaube Tembroke – aber ich kann es nicht genau sagen, ich müßte zu Hause einmal nachsehen. Übrigens wollte ich Ihnen noch mitteilen, daß ich von der Reise einen Brief erhielt, in dem Sir Richard mir schrieb, er hätte die Absicht, der Bonati bei seiner Rückkehr nach London ein Legat in seinem Testament auszusetzen. Ich hielt das für hellen Wahnsinn, war aber in einer schwierigen Lage, denn ich selbst habe die Bonati in Paris und Brüssel sehr gut gekannt und war mit ihr befreundet. Ich konnte also meinem Klienten nicht gut schreiben, daß ich ihm davon dringend abriete.«

»Ja, Sie sagten mir schon, daß Sie die Bonati kannten. Nun, wir sind ja alle einmal jung und leichtsinnig gewesen«, meinte Crawford und lachte.

Belling grinste im Hintergrund.

»Ist Ihnen bekannt, ob Sir Richard einen Safe bei einer Bank besitzt?«

»Nein, darüber kann ich nichts sagen.«

»Ich hätte eine Bitte an Sie«, sagte Crawford verbindlich.

»Verfügen Sie nur über mich«, erwiderte Stetson entgegenkommend.

»Machen Sie mir eine genaue Aufstellung über die Vermögensverhältnisse von Sir Richard.«

»Gern.«

»Und stellen sie mir auch ein Verzeichnis der Gelder auf, die Sie ihm nachgesandt haben.«

»Auch das sollen Sie haben.«

Stetson erhob sich, als ob er sich verabschieden wollte.

»Die Sache mit der Brieftasche war aber doch, zu sonderbar.«

»Ja. Ich habe übrigens inzwischen die Nummern der Banknoten verglichen – es sind die Scheine, die Sie ihm am Montagnachmittag gegeben haben.«

»Haben Sie sonst noch etwas herausgefunden, was dieses Rätsel aufklären könnte?«

»Nein. Aber wir sind eifrig bemüht.«

In bester Stimmung verließ Stetson Scotland Yard.


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