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8.

Sergeant Belling saß seinem Vorgesetzten in dessen Büro in Scotland Yard gegenüber.

Inspektor Crawford gehörte zu der jüngeren Generation der englischen Kriminalbeamten, deren umsichtige und erfolgreiche Tätigkeit die Polizei Londons zu einer der besten gemacht hatte. Mit seinen blonden Haaren, seinen blauen Augen und seiner sehnigen Gestalt war er der vorbildliche Typ eines Engländers. Seine Berufspflichten nahm er ernst, war aber doch so entgegenkommend und großzügig, daß seine Untergebenen ihn verehrten. Auch zu Sergeant Belling stand er in einem kameradschaftlichen Verhältnis.

Zuerst sprachen sie über verschiedene Kriminalfälle, die augenblicklich bearbeitet wurden, dann erkundigte sich Crawford, ob Belling sonst noch eine interessante Neuigkeit wüßte.

»Ria Bonati ist wieder im Land«, erwiderte der Sergeant.

»Woher wissen Sie denn das?«

»Ich habe sie gestern abend zufällig im Atheneion-Klub gesehen.«

»Wer ist denn diesmal der Unglückliche?«

»Sie kennen ihn – es ist Sir Richard Richmond.«

»Ich bin noch nicht zu einem klaren Bild über sie gekommen. Sie hat so viele Abenteuer hinter sich, von denen manche sehr merkwürdig waren. Sie erinnern sich doch noch an den seltsamen Tod des Bankiers Carrier in Brüssel? Sie war auch in den Fall verwickelt. Ich will gerade nicht sagen, daß sie die Täterin war, aber die Rolle, die sie dabei spielte, war jedenfalls nicht einwandfrei.«

Belling nickte.

»Es ist nur gut, daß wir mit dem Skandal nichts zu tun hatten. Die Brüsseler und Pariser Polizei haben ja genug Schwierigkeiten damit gehabt.«

»Es wäre gut, die Frau im Auge zu behalten.«

Belling erzählte nun, daß er am vergangenen Abend seinen Freund Jim Carley getroffen und was dieser ihm berichtet hatte. Während sie noch miteinander sprachen, wurde Carley gemeldet.

»Gut, gehen Sie jetzt«, sagte Crawford. »Wir sprechen später noch über die Sache.«

Belling nahm den Freund in sein Büro mit.

»Es war doch ein merkwürdiger Zufall, daß wir gestern noch meinen Onkel im Klub trafen«, sagte Carley. »Du hast mir übrigens versprochen, mir heute noch Näheres über die Dame mitzuteilen, die wir in seiner Begleitung sahen.«

»Ja, ich kenne sie sehr gut. Wir führen sogar ein Aktenstück über sie.«

»Um Himmels willen, sie ist doch keine Verbrecherin?«

»Das gerade nicht, aber die Polizei beobachtet auch Leute, die noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind.«

»Kannst du mir Genaueres über sie sagen?«

»Ria Bonati ist sicher eine sehr interessante Erscheinung und eine Artistin von internationalem Ruf. Früher trat sie hauptsächlich in Paris und Brüssel auf, und auch in den Vereinigtem Staaten und hier in England ist sie bekannt.« Belling schlug ein Aktenstück auf. »Ria Bonati, geboren 17. Juli 1905 – sie ist also jetzt etwas über dreißig Jahre alt – platinblond, Augen blau, Gesicht oval –«

»Ach, wie sie aussieht, weiß ich doch schon. Wir haben sie ja gestern gesehen.«

»Sie machte sich zuerst in Brüssel als Soubrette einen Namen, später als Tänzerin, und in den letzten Jahren hat sie sich in Amerika auch als Kunstschützin gezeigt. Sie soll Fabelhaftes darin leisten.«

»Ich möchte nur wissen, wie mein Onkel an sie geraten ist.«

»Sie schließt leicht Bekanntschaften. Daß sie ein internationaler Star ist, sagte ich schon, aber in letzter Zeit hat ihr Ruhm etwas nachgelassen.«

»Dann ist die Lage für meinen Onkel ja noch viel schwieriger und gefährlicher, als ich dachte.«

»Hast du ihn eigentlich heute gesehen?«

»Nein, das ist mir noch nicht gelungen, obwohl ich es schon zweimal versuchte.«

Carley erzählte Belling im Vertrauen, was er am Morgen von Stetson erfahren hatte.

»So klärt sich also diese rätselhafte Sache auf?« erwiderte sein Freund. »Wir in Scotland Yard hatten uns auch schon darüber gewundert.«

»Aber mein Onkel hat doch nichts mit der Polizei zu tun?«

»Das nicht. Aber wir kümmern uns um viele Dinge, die noch keine Verbrechen sind, wie ich dir schon vorhin sagte, denn im geeigneten Augenblick müssen wir Bescheid wissen. Wenn wir erst anfangen wollten, uns zu orientieren, wenn ein Mord oder ein schweres Verbrechen geschehen ist, dann kämen wir meistens zu spät. Ich würde nun aber an deiner Stelle noch einmal versuchen, durch eine persönliche Aussprache mit deinem Onkel alles zu klären. Du darfst dich nicht ausschließlich auf das Urteil anderer Leute verlassen. Rechtsanwalt Stetson hat viele Angelegenheiten zu regeln und kann sich deiner Sache sicher nicht mit der nötigen Ruhe widmen. Wie wäre es, wenn du jetzt gleich von Scotland Yard aus dorthin gingst?«

Carley runzelte die Stirn.

»Was hast du denn?«

»Du weißt doch, daß ich gestern Miß Rolands kennenlernte. Es ist kaum glaublich, aber sie ist die Sekretärin meines Onkels! Gestern abend ist es zu einem Auftritt zwischen den beiden gekommen, deshalb habe ich auch vergeblich auf sie gewartet.« Mit wenigen Worten wiederholte Carley, was er von Stetson und Evelyn darüber erfahren hatte.

Belling schüttelte den Kopf. »Man sollte es nicht für möglich halten.«

»Ich glaube, ich hätte mich nicht beherrschen können, wenn ich dazugekommen wäre, und ich weiß nicht, ob es ratsam ist, daß ich meinen Onkel gerade heute spreche. Ich bin noch zu empört.«

»Aber wie kann man sich durch seine Stimmungen so beeinflussen lassen! Es ist doch für dich lebensnotwendig, daß du die Sache mit deinem Onkel ins Reine bringst. Ich würde mich unter keinen Umständen nur auf Stetson verlassen. Du bist doch selbst Manns genug, die Angelegenheit zu regeln. Ich will Stetson ja nicht zunahe treten –«

»Was willst du damit sagen?« unterbrach ihn Carley.

»Er hat eine große Praxis, kommt mit vielen zusammen und will es allen Leuten möglichst recht machen. Sicher kannst du allein auch Sir Richard durch eine klare Aussprache zur Vernunft bringen und brauchst keinen Fürsprecher. Am besten ist es, den Stier bei den Hörnern zu packen.«

Carley nickte und gab dem Freund recht.

Nachdem sie noch einige Zeit miteinander gesprochen hatten, verabschiedete er sich und fuhr nach der Bruton Street. Unterwegs überlegte er, daß es gut wäre, den Butler für sich günstig zu stimmen.

Als er klingelte, dauerte es nicht lange, bis Miller öffnete.

»Sir Richard ist nicht zu Hause«, sagte er. »Aber Sie wollten doch telephonisch anfragen? Er war um drei Uhr hier und blieb einige Zeit. Vor einer Viertelstunde ist er wieder gegangen.«

Carley hielt für alle Fälle eine Zweipfundnote bereit.

»Ich sagte Ihnen schon, daß mir sehr viel daran liegt, meinen Onkel zu sprechen. Können Sie mir dabei nicht behilflich sein?« erwiderte er und reichte ihm den Geldschein.

Miller zögerte einen Augenblick und sah Carley unsicher an. Aber nachdem er dann einen kurzen Blick auf die Banknote geworfen hatte, nahm er sie.

»Mr. Carley, ich möchte Ihnen gern helfen und mich erkenntlich zeigen. Aber das wird nicht leicht sein. Ich habe ihm gesagt, daß Sie sich heute bereits zweimal nach ihm erkundigt haben, aber er scheint Sie nicht empfangen zu wollen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

Miller wurde verlegen, aber schließlich steckte er die Zweipfundnote ein, die er bisher in der Hand gehalten hatte.

»Im Vertrauen, Mr. Carley, Sir Richard gab mir heute den Auftrag, ihn immer zu verleugnen, wenn Sie sich melden sollten. Verstehen kann ich das nicht, aber er ist überhaupt sehr sonderbar.«


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