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13.

Inspektor Crawford legte die Pläne der einzelnen Geschosse vor sich auf den Tisch und betrachtete sie einige Zeit eingehend. Dann winkte er Belling zu sich.

»Setzen Sie sich einmal hier neben mich. Sehen Sie, das Haus hat drei Eingänge. Soweit wir bis jetzt festgestellt haben, waren um die fragliche Zeit, in der der Mord begangen wurde, nur zwei Personen im Haus. Die Aussagen der beiden scheinen darin übereinzustimmen, daß um neun Uhr sieben jemand klingelte. Das muß Carley gewesen sein. Die wichtige Frage ist nun: War um neun Uhr sieben der Mord schon begangen? Wenn ja, dann ist Carley unschuldig; wenn nicht, kommt in erster Linie er als Täter in Betracht. Ich wollte Ihnen aber noch eine andere Möglichkeit zeigen. Es kann doch auch jemand durch den Geheimeingang ins Haus eingedrungen sein.«

»Das halte ich für ausgeschlossen. Der Geheimeingang führt doch in die Bibliothek, und dort wartete Miß Rolands.«

»Der Täter kann sich auf diesem Weg ins Haus geschlichen haben, bevor sie hinkam. Wir wissen von ihr, daß sie seit halb neun in der Bibliothek war. Das Haus ist groß, das Zimmermädchen und die Köchin waren ins Kino gegangen, und auch der Butler war mindestens eine halbe Stunde lang fort. Später war er nur ein paar Minuten unten im Haus, und zwar gegen Viertel nach acht. Es blieb also noch genügend Zeit und Gelegenheit, daß sich jemand ins Haus schleichen konnte. Wenn wir dies einmal annehmen, muß der Betreffende aber vor Eintreffen des Sergeanten Pemberton und seiner Leute das Haus wieder verlassen haben, denn von dem Zeitpunkt an sind alle Fronten scharf bewacht worden. Außerdem hat Pemberton das ganze Gebäude durchsucht und niemand gefunden.«

»Das stimmt«, pflichtete Sergeant Belling bei. »Ich möchte aber noch auf einen anderen Punkt hinweisen. Granter hat doch eine Dame beobachtet, die ins Haus gegangen sein soll. Die käme doch als Täterin auch in Frage.«

»Selbstverständlich. Aber sehen Sie einmal, hier führt ein Gang links vom Haus zur Seitentür und weiter auf den Hof. Wir müßten einmal feststellen lassen, ob von dort ein Ausgang nach der anderen Seite existiert.«

Es klopfte, und gleich darauf trat Dr. Reynolds ein, der die erste Untersuchung des Toten beendet hatte.

»Ich möchte Ihnen gern Bericht erstatten. Sir Richard Richmond ist durch einen Pistolenschuß in den Mund getötet worden. Das Geschoß ist zwischen den Zähnen eingedrungen, hat die oberen und unteren Schneidezähne verletzt, den hinteren Gaumen und die Wirbelsäule durchschlagen und eine verhältnismäßig große Ausschußöffnung verursacht. Sir Richard ist infolge des Schusses hintenübergefallen, und unter seinem Kopf hat sich eine große Blutlache gebildet. Der Tod ist unmittelbar darauf eingetreten.«

»Können Sie uns nähere Angaben darüber machen, wann der Tod eintrat?«

Dr. Reynolds seufzte.

»Das ist immer die leidige Frage. In manchen Fällen ist es leicht, in anderen schwer. Sie hätten natürlich am liebsten, daß der Arzt Ihnen sagte: ›Sir Richard ist um neun Uhr zehn Minuten und fünfundvierzig Sekunden gestorben.‹ Aber so genau läßt sich das eben nicht feststellen.«

»Aber Sie werden uns doch einen ungefähren Anhalt geben können?«

»Das ist wohl möglich, wenn man alle Umstände in Betracht zieht.«

»Ist die Leichenstarre schon eingetreten?«

»Sie beginnt eben. Mit ziemlicher Regelmäßigkeit setzt sie zwei Stunden nach dem Tod ein. Daraus folgt, daß Sir Richard vor etwa zwei Stunden starb.«

Der Inspektor sah nach der Uhr. Es war sieben Minuten nach elf.

»Das wäre also gegen neun gewesen.«

»Ja. Ich möchte sagen, frühestens könnte der Tod fünf Minuten vor neun, spätestens fünfzehn Minuten nach neun eingetreten sein.«

»Durch Verhör haben wir festgestellt, daß um neun Uhr sieben an der Haustür geklingelt wurde. Es ist wichtig, festzustellen, ob Sir Richard in dem Augenblick noch lebte. Können Sie darüber wenigstens eine Vermutung äußern?«

»Ich nehme an, daß er ungefähr um neun Uhr sieben starb. Auf die Minute läßt sich das natürlich nicht ausrechnen. Eine medizinische Untersuchung ist eben keine algebraische Gleichung.«

»Wäre es möglich, daß Selbstmord vorliegt? Die Frage ist etwas unangebracht, aber ich muß sie doch stellen.«

»Denkbar wäre es, aber es ist nicht wahrscheinlich. Früher haben sich Selbstmörder meistens durch einen Schuß in die Stirn oder in die Schläfen getötet, da aber in beiden Fällen nicht sicher ist, daß der Tod bestimmt eintritt, sind in letzter Zeit häufiger Selbstmorde durch Schüsse in den Mund vorgekommen. Bei einem Schuß in die Schläfe geschieht es manchmal, daß der Betreffende sich nur den Sehnerv verletzt und dann weiterlebt. Wenn Sir Richard aber die Absicht gehabt hätte, sich zu erschießen, wäre er wohl in seinem Stuhl vor dem Schreibtisch sitzengeblieben.«

»Sie haben recht. Sie müssen natürlich noch eine Obduktion vornehmen?«

»Ja.«

»Wann kann ich Ihren Bericht darüber erwarten?«

»Der Fall liegt ziemlich einfach – ich glaube, daß ich Ihnen morgen vormittag um elf oder spätestens zwölf das Ergebnis mitteilen kann.«

»Belling, veranlassen Sie, daß die Taschen und Kleider des Toten durchsucht werden, falls Pemberton das nicht schon getan hat.«

»Haben Sie denn irgendwelche Anhaltspunkte dafür, daß Selbstmord vorliegen könnte?« fragte Dr. Reynolds, der sich stets lebhaft für die Aufklärung der Fälle interessierte.

»Nein. Alles deutet darauf hin, daß es sich um einen Mord handelt. Aber man kann nie wissen.«

»Ich werde Ihnen morgen den Bericht persönlich bringen, damit ich erfahre, was Sie inzwischen herausgebracht haben.«

»Sind Sie immer noch so neugierig?«

Dr. Reynolds lachte und reichte dem Inspektor zum Abschied die Hand.

»Ich werde veranlassen, daß der Tote festgestellt wird.«

»Ja, bitte, telephonieren Sie nach einem Wagen.«

Dr. Reynolds verließ das Zimmer.

»Rufen Sie Pemberton«, wandte sich Crawford an Belling.

Gleich darauf erschien der Verlangte.

»Haben Sie das Mordzimmer genau untersucht? Hat sich eine Patronenhülse gefunden?«

»Ja, in der Nähe der Fensterwand vor dem Schreibtisch haben wir eine entdeckt.«

»Haben Sie den Inhalt der Taschen des Toten festgestellt?«

»Ja. Wir fanden die üblichen Dinge darin. Ich habe ein genaues Verzeichnis aufgestellt und die einzelnen Gegenstände in einen großen Briefumschlag gelegt. Ich glaube nicht, daß wir dadurch weiterkommen.«

»Herein!« rief Inspektor Crawford, als es an der Tür klopfte.

Detektiv Armstrong trat ein.

»Es ist eben eine Dame gekommen, die ins Haus gehen wollte und sich nach Sir Richard erkundigte.«

»Führen Sie sie sofort hierher – ich will sie sprechen.«

Armstrong entfernte sich wieder.

»Es wäre sicher interessant, wenn wir auch Rechtsanwalt Stetson vernehmen könnten«, meinte Belling. »Der ist sicher in der Lage, uns viele Aufschlüsse zu geben.«

»Das ist richtig. Pemberton, rufen Sie doch einmal an und bitten Sie ihn, daß er herkommen möchte. Teilen Sie ihm aber noch nicht mit, daß Sir Richard ermordet worden ist.«

»Jawohl«, entgegnete der Sergeant und verließ das Zimmer. Vor der Tür begegnete er Ria Bonati, die von Detektiv Armstrong ins Zimmer geleitet wurde. Sie hatte ein kostbares Chinchilla-Cape lose um die Schultern gelegt, so daß das prachtvolle, stahlblaue Samtkleid zu sehen war. Hochaufgerichtet trat sie ein, und Crawford und Belling bewunderten ihre schöne Erscheinung.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte der Inspektor höflich.

Sie sah ihn bestürzt an.

»Was ist denn geschehen? Ich muß es wissen?«

»Sie sollen gleich alles erfahren, aber zuerst möchte ich Sie bitten, mir einige Fragen zu beantworten.«

»Wie kommen Sie dazu, Fragen an mich zu stellen?«

»Ich bin Inspektor Crawford von Scotland Yard, und es ist meine Aufgabe, hier ein Verbrechen aufzuklären.«

»Ist Sir Richard etwas zugestoßen?« rief sie aufgeregt.

»Leider muß ich Ihnen die traurige Mitteilung machen, daß er nicht mehr am Leben ist.«

Sie wurde bleich.

»Ich muß ihn sehen!«

»Im Augenblick ist das nicht möglich, später werde ich Ihnen Gelegenheit dazu geben. Sagen Sie mir bitte, wer Sie sind.«

»Ria Bonati!«

»Warum kommen Sie heute abend noch so spät hierher?«

»Ich bin mit Sir Richard verlobt – wir wollten in nächster Zeit heiraten«, antwortete sie erregt und wenig logisch. »Sie wollen mir doch nicht etwa abschlagen, daß ich ihn sehen kann?«

»Es tut mir sehr leid, daß Sie ein so harter Schlag getroffen hat, Miß Bonati. Aber wenn Sie Sir Richard so nahestehen, werden Sie doch vor allem auch den Wunsch haben, daß die Ursache seines Todes möglichst einwandfrei und schnell aufgeklärt wird. Ich bitte Sie also, der Polizei nach Kräften zu helfen.«

Sie nickte, während sie ihr Taschentuch nervös mit den Händen zerdrückte.

»Wann haben Sie Sir Richard zum letztenmal gesehen?«

»Heute abend – in der Oper.«

»Wann war das?«

»Gegen acht – kurz vor Beginn der Vorstellung.«

»Bitte, erzählen Sie mir alles Nähere darüber.«

»Wir speisten im Savoy-Hotel zu Abend und hatten ursprünglich die Absicht, zusammen in Carmen zu gehen, aber er sagte, daß er noch eine wichtige, dringende Besprechung hätte. Er wollte aber nach dem ersten Akt nachkommen.«

»Hat er Ihnen vielleicht mitgeteilt, mit wem er sprechen wollte?«

»Mit seinem Neffen, der in diesen Tagen aus Birma zurückgekehrt ist.«

Crawford und Belling sahen sie aufs höchste erstaunt an.

»Wann hat er Ihnen das gesagt?« fragte der Inspektor nach einer kurzen Pause.

»Auf der Fahrt vom Hotel zur Oper. Er brachte mich bis zu meiner Loge und verabschiedete sich dann von mir. Als er zu Beginn des zweiten Aktes nicht kam, wurde ich unruhig, und –« Sie brach ab und wurde unsicher.

»Was wollten Sie sagen?«

»Und als er mich nach Schluß der Vorstellung nicht abholte, fuhr ich hierher, weil ich in großer Sorge war. Sein merkwürdiges Wesen ist mir schon während des Abendessens aufgefallen. Ich kann es mir allerdings jetzt erklären. Die Unterredung mit seinem Neffen muß der Grund dazu gewesen sein. Aber bitte, führen Sie mich jetzt zu ihm –« Sie bedeckte die Augen mit der Hand.

»Wenn Sie sich stark genug dazu fühlen, will ich Sie begleiten.«

Crawford erhob sich und gab Belling einen Wink, mitzukommen.

»Er liegt im Arbeitszimmer im oberen Geschoß.«

Auf der Treppe blieb Ria Bonati einen Augenblick stehen und preßte die Hand auf die Brust, aber dann nahm sie sich zusammen und ging weiter.

Die Tür des Arbeitszimmers nach der Galerie war geschlossen, und ein Polizeibeamter hielt davor Wache. Als er sah, daß Inspektor Crawford sich näherte, öffnete er und trat zur Seite.

Der Tote lag noch auf dem Teppich, war aber mit einem Tuch zugedeckt. Der Inspektor ging voraus, so daß Ria Bonati Sir Richard erst sehen konnte, als er sich bückte und das Tuch wegzog.

Sie stieß einen gellenden Schrei aus. Belling, der hinter ihr stand, legte den Arm um sie, stützte sie und führte sie zu einem Sessel.

Crawford gab einem der Polizeibeamten einen Wink, und dieser deckte den Toten wieder zu, dann trat er auch zu dem Sessel, in dem Ria Bonati saß.

»Ich bedauere unendlich, daß Sie all dies Schwere heute erleben müssen. Ist es nicht besser, wenn wir nach unten gehen?«

Sie nickte.

»Ist er erschossen worden?« fragte sie leise.

»Ja.

»Wann ist das geschehen?«

»Etwa um neun.«

Sie richtete sich plötzlich auf und sah Crawford mit starren, weitgeöffneten Augen an. Dann stöhnte sie laut und sank in den Sessel zurück.

Belling hatte Mitleid mit der schönen Frau und sah sie teilnehmend an, aber Crawford beobachtete sie scharf.

»Sergeant Belling wird Sie nach unten bringen«, sagte er. »Ich komme sofort nach.«

Sie schien die Worte nicht gehört zu haben, aber nach einer kurzen Pause preßte sie die Lippen zusammen und erhob sich.

Belling verneigte sich leicht, reichte ihr den Arm und führte sie wieder zum Empfangszimmer.

Pemberton trat gleich darauf zu Crawford.

»Ich habe versucht, Rechtsanwalt Stetson anzurufen. Es hat lange gedauert, bis sich jemand meldete. Aber er war nicht zu Hause. Sein Butler meinte, er wäre in einen Klub gegangen, und es wäre unbestimmt, wann er zurückkäme.«

»Es ist gut, dann müssen wir es eben morgen noch einmal versuchen.«

Crawford ging nun auch in das Empfangszimmer zurück.

»Wie lange kennen Sie Sir Richard schon?« fragte er Ria Bonati.

Aber sie erlitt einen Zusammenbruch. Plötzlich schluchzte sie heftig auf, und es war unmöglich, noch etwas von ihr zu erfahren.

Sergeant Pemberton mußte sie in einer Taxe in ihr Hotel bringen. Inspektor Crawford nahm ihn vorher noch beiseite.

»Fragen Sie das Hotelpersonal über Ria Bonati aus. Vielleicht kommen wir dadurch weiter.«

»Ich wollte Ihnen eigentlich die Resultate der Untersuchung noch melden, aber Armstrong weiß ja auch über alles Bescheid«, erwiderte Pemberton. »Er hat das Protokoll.«


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